01 July 2012

Rethinking the Politics of International Criminal Justice: Zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des Römischen Statuts

 

Heute vor zehn Jahren, am 1. Juli 2002, trat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Kraft. In New York tagte zeitgleich die Vorbereitungskommission (“PrepCom”) des ICC in ihrer letzten Sitzung, und die Stimmung der Delegierten beim Festakt am Hauptsitz der Vereinten Nationen war überschwänglich – nicht zuletzt bei den vielen anwesenden Vertreterinnen und Vertretern der NGOs, die auf der Konferenz von Rom und in deren Nachgang eine neue Qualität der Beteiligung an internationalen Rechtssetzungsprozessen erlebten und ermöglichten. Unerwartet schnell waren nach nach der Konferenz  von Rom die erforderlichen Ratifikationen zusammengekommen.

Manches sieht man heute nüchterner, viele Erwartungen an die neu institutionalisierte internationale Strafgerichtsbarkeit haben sich nicht erfüllt.  Mancher fragt sich – wie der Berliner Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck – angesichts der erhobenen Anklagen, ob in Den Haag nicht mit “Zweierlei Maß” gemessen wird. Sein kleines Buch zum Thema ist unbedingt lesenswert.

Pünktlich zum Jahrestag ist aber eine auch eine rechts- und politikwissenschaftliche Untersuchung erschienen, die  die deutsche Beteiligung am Zustandekommen des ICC unter die Lupe nimmt und anregt, noch einmal neu über unsere grundsätzlichen Erwartungen an das internationale Strafrecht nachzudenken:

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Zehn Jahre sind vergangen, seit am 1. Juli 2002 das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Kraft trat. Deutschland hatte zu den treibenden Kräften hinter der Errichtung dieses Weltstrafgerichts gehört und bleibt ein engagierter Unterstützer. Nach anfänglichem Zögern Frankreichs und Großbritanniens hatte die Bundesrepublik Mitte der 1990er Jahre die europäischen Partner für ihre Vision eines unabhängigen, nicht unter der Aufsicht des UN-Sicherheitsrats stehenden International Criminal Court (ICC) gewinnen können, gegen den erbitterten Widerstand der Vereinigten Staaten.

Die harte Auseinandersetzung zwischen Europäern und Amerikanern wird nach dem inzwischen zeithistorisch verfestigten gängigen Narrativ als Kampf zwischen Mars und Venus interpretiert: auf der einen Seite die an den eigenen realpolitischen Interessen orientierte Großmacht, auf der anderen Seite die einem postnationalem Kosmopolitismus verpflichteten Europäer. Im Wandel Deutschlands vom skeptischen Kritiker des internationalen Strafrechts im Nachgang der Nürnberger Prozesse zu einem seiner engagiertesten Fürsprecher manifestiere sich, so die landläufige Deutung, eine Wende von der überkommenen machtzentrierten Realpolitik zum kosmopolitischen Idealismus der Verrechtlichung internationaler Politik.

Stimmt das? Der Jurist und Journalist Ronen Steinke hat die deutsche Position und ihre Entwicklungsgeschichte genau unter die Lupe genommen und legt, ausgehend von einer Reihe ausführlicher Gespräche mit Zeitzeugen, eine realpolitische Analyse deutscher Interessen und Positionen vor. Das ist konsequent: Wenn es darum geht, den Widerstand der Vereinigten Staaten gegenüber dem ICC zu erklären, wird schließlich auch regelmäßig die Theorie des Realismus bemüht.

Was aber ist das realpolitische Interesse Deutschlands an einer permanenten Institutionalisierung internationaler Strafgerichtsbarkeit in einem unabhängigen Gerichtshof? Was können Staaten von internationalen Strafgerichten erwarten? Warum sollte ein Staat einen Strafgerichtshof unterstützen, materiell und politisch?

Natürlich geht es bei der Errichtung internationaler Strafgerichte um den, wenn auch oft nur symbolischen, Kampf gegen die Straflosigkeit der Täter schwerer Menschheitsverbrechen. Vor allem aber geht es, wie Steinke unterstreicht, um eine Rekonstruktion historischer Ereignisse, mit der sich eine „historische Wahrheit“ etablieren lässt, ein autoritatives Narrativ historischer Ereignisse. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Anklagebehörde und insbesondere dem Chefankläger zu. Die Auswahl der Fälle, die er zur Anklage bringt, bestimmt die Narrative, die vor Gericht verhandelt und schließlich juridisch autorisiert werden. Mit der Auswahl der Fälle steht und fällt aber auch die Legitimität eines internationalen Strafgerichts, wie die gegenwärtige Diskussion um die Verfahren vor dem ICC zeigt.

Steinke argumentiert, dass es das politische Interesse Deutschlands an der Mitbestimmung historischer Narrative war, das eine Veränderung der Haltung zum internationalen Strafrecht bestimmte. Steinkes Geschichte ist eine bundesrepublikanische, er beginnt sie im Jahr 1949, geht zurück zu den Nürnberger Prozessen und zeichnet deren kritische Rezeption in Deutschland nach. Selbst für einsame Befürworter einer künftigen Weltstrafgerichts wie den Freiburger Strafrechtler Hans-Heinrich Jescheck war es die Vermeidung künftiger „Siegerjustiz“ durch die Errichtung eines universalen Gerichts, die ihre Position prägte – keineswegs aber eine positive Rezeption Nürnbergs.

Erst nach 1989 wurde das „Erbe von Nürnberg“ in der Bundesrepublik salonfähig – als es um die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Regierungsunrecht ging. Auch hier, so Steinke, sei es um die Erhaltung und Festigung historischer Deutungshoheit gegangen, um die Rechtfertigung des deutschen Weges zu Wiedervereinigung. Als die Vereinten Nationen 1993 und 1994 die Sondertribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda errichteten, wurde Deutschland zum Unterstützer des Jugoslawientribunals (ICTY) und bereitete mit der Verhaftung des Serben Dusko Tádic den Weg zum ersten Haager Verfahren. Steinke erklärt auch dieses Engagement mit einem handfesten geschichtspolitischen Interesse: Dem Willen, die Parteinahme Deutschlands im Balkankonflikt und die „frühzeitige“ Anerkennung Kroatiens nachträglich zu legitimieren. „Das Budget des ICTY hing immer eng mit der politischen Popularität des Gerichts bei seinen wichtigsten Geldgebern zusammen“, konstatiert der französisch-kanadische Völkerrechtler Frédéric Mégret in einem wegweisenden Aufsatz, von dem Steinke sich nicht nur für den Titel seines Buches, sondern auch zu einer von der Tradition der kritischen Völkerrechtswissenschaft geprägten interessenpolitische Fragestellung hat inspirieren lassen.

Besonderes Augenmerk legt Steinke auf eine bemerkenswerte Veränderung der deutschen Haltung in der Phase der Errichtung des ICC. Während man bei den Sondertribunalen keine Schwierigkeiten mit der Kontrolle der Gerichte durch den UN-Sicherheitsrat und der damit verbundenen Dominanz der P5 – der fünf ständigen Mitglieder – gehabt hatte, setzte sich die deutsche Regierung nun vehement für eine Unabhängigkeit des künftigen Weltstrafgerichts ein – mit Erfolg. Die zentrale Rolle der deutschen Delegation in den Vorbereitungskommissionen und auf der Konferenz von Rom bleibt ein diplomatisches Meisterstück. Geschickt wurden hier, im Verbund mit Kanada und Australien, kleine Staaten eingebunden – und Nichtregierungsorganisationen, die den Verhandlungsprozess entscheidend beeinflussten. Maßgebliches Organ bei der Bestimmung des Chefanklägers und der Richterwahl wurde die Vertragsstaatenversammlung, in der das Prinzip „Ein Staat – eine Stimme“ gilt. Als mächtiger Staat in der EU der 27 kann Deutschland hier Einfluss nehmen. Durch die Hintertür kam es mit dem Römischen Statut zu einer partiellen demokratischen Reform der Entscheidungsprozesse unter dem Dach der Vereinten Nationen, indem ein wichtiges Feld aus der Kompetenz des UN-Sicherheitsrates genommen und dem Prinzip der Mehrheit gleicher Staaten unterworfen wurde.

Ronen Steinke argumentiert, dass die von ihm beschriebenen politischen Positionswechsel nur durch eine Überlappung machtpolitischer Interessen und kosmopolitischer Ideale möglich gewesen seien. Tatsächlich aber brauchte es mehr: ein genau abgestimmtes Zusammenspiel von Machtpolitikern und Idealisten. Ermöglicht wurde dieses, mit Gespür für die spezifische politische Konstellation, von einem idealistisch motivierten Akteur, der gekonnt auf der realpolitischen Klaviatur spielen und dabei zugleich ein ganzes diplomatisches Orchester unterschiedlichster Staatendelegationen dirigieren konnte. Als Schlüsselfigur erscheint zwischen Steinkes Zeilen immer wieder der deutsche Diplomat Hans-Peter Kaul, seit 2003 Richter des Internationalen Strafgerichtshofs und seit 2009 dessen Vizepräsident. Als Kaul 1996 die Leitung der Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes übernimmt, setzt er die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs auf der Agenda nach oben. Die Delegationen Deutschlands in der Vorbereitungskommission, bislang mit zwei Experten besetzt, werden personell verstärkt. Kaul holt eine Gruppe junger liberaler Völkerrechtler in die Delegation, die im Zusammenspiel mit den eingefleischten Realpolitikern des Auswärtigen Amtes die deutsche Strategie entwickelten und zum Erfolg führten.

Diese konzise, ungemein dichte Untersuchung ist ein Meisterstück. Detailgenau und meinungsstark erzählt und analysiert Ronen Steinke ein zentrales Kapitel deutscher und europäischer Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges. Es geht um deutsche Außenpolitik, Vergangenheitspolitik und Erinnerungspolitik, um das Verhältnis von Recht und Politik in den internationalen Beziehungen, um Völkerrechtspolitik zwischen Macht und Recht. Und das alles auf 150 Seiten.

Ronen Steinke, „The Politics of International Criminal Justice“. Hart Publishing, Oxford and Portland, Oregon, 2012, geb., 150 S., 30.-  £ .

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Diese Rezension erschien, leicht gekürzt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Juni 2012 (Nr. 150), S. 34

 

Foto: ekenitr, flickr, Creative Commons Licence


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