Revolution statt Revolte
Zu den Protesten im Libanon
Im Libanon protestieren Menschen seit fast drei Wochen gegen das politische Establishment. Nachdem in der Nacht zum 18. Oktober die Regierungspläne bekannt wurden, WhatsApp-Calls mit 0,20 $ pro Anruf zu besteuern, gingen landesweit binnen weniger Tage Hunderttausende auf die Straßen. Freilich war die von Premierminister Saad Hariri sogleich zurückgezogene Idee lediglich der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und seinen Rücktritt am 29. Oktober unausweichlich machte. Die Frustration über die politischen Eliten wie den konfessionell verankerten Staatsaufbau ist in der libanesischen Bevölkerung über Jahre hinweg gewachsen und so enorm, dass nun vor allem ein Wort durch die Straßen des Landes hallt: Revolution.
Acht Jahre nach dem Arabischen Frühling stehen die libanesischen Proteste im Zeichen einer zweiten Serie vergleichbarer Entwicklungen in Algerien, Ägypten, Irak und Sudan. Gleichwohl es im Libanon nicht zum ersten Mal zu Protesten kommt, sind die vergangenen drei Wochen ein Novum. Trotz mancher Krise in den letzten Jahren konnte die fragile Balance des multikonfessionellen Landes aufrechterhalten werden. Der libanesische Staat steht wie kein zweiter für den Versuch, eine tief gespaltene Gesellschaft durch die paritätische Aufteilung der politischen Sphäre zu konsolidieren.
Ein multikonfessioneller Staat
Unter dem Einfluss der Mandatsmacht Frankreich enthielt die 1926 in Kraft getretene Verfassung bereits erste paritätische Elemente, die 1943, im Jahr der Unabhängigkeitserklärung, zu einer konfessionell geprägten Konkordanzdemokratie ausgebaut wurden. Die staatlichen Institutionen waren zwar weitestgehend dem französischen Vorbild nachempfunden, ihre Besetzung aber wurde zwischen den christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften aufgeteilt. Für das libanesische Parlament wurde das Kräfteverhältnis beider Bevölkerungsgruppen auf 6:5 festgelegt. Auch die drei höchsten Staatsämter waren fortan konfessionsgebunden; seither stellen maronitischen Christen den Staatspräsidenten, sunnitischen Muslime den Premierminister und schiitischen Muslime den Parlamentspräsidenten.
Verfassungsrechtlich weiterentwickelt wurde das politische System erst mit dem Ende des fünfzehnjährigen Bürgerkriegs 1989. Das von den Konfliktparteien ausgehandelte Ta’if Abkommen ordnete die politischen Machtverhältnisse neu. Der Staatspräsident wurde in seinen Kompetenzen zugunsten des Ministerrats deutlich beschnitten, der Parlamentspräsident gestärkt und die konfessionelle Zusammensetzung des Parlaments auf 1:1 adjustiert. Christentum und Islam stellen indes nur grobe Identifikatoren dar. Nach Artikel 24 (b) der libanesischen Verfassung müssen die jeweils 64 Sitze wiederum proportional zum Kräfteverhältnis konfessioneller Gruppen innerhalb der beiden Religionsgemeinschaften verteilt werden. Für ein Land mit 18 offiziell anerkannten konfessionellen Gruppen und größtenteils deckungsgleichen Parteistrukturen begrenzt das die demokratische Wandlungsfähigkeit.
Regierungen werden, gemäß Artikel 95 (b) der Verfassung, ebenfalls paritätisch-inklusiv gebildet. Meist kamen so Regierungen der nationalen Einheit zustande, die aus bis zu 30 Ministern bestanden und fast alle im Parlament vertretenen Parteien umfassten. Die Opposition war Teil der Regierung und diese mithin nur beschränkt handlungsfähig. Zwar stabilisierte die konsensorientierte Regierungsform die konfessionellen Spannungen, dennoch blieb der Libanon ein krisengebeuteltes Land. Insbesondere die 2000er Jahre waren geprägt von einer Reihe schwerer politischer Krisen: Neben dem Krieg zwischen Hisbollah und Israel (2006) oder dem Konflikt um die Nachfolge des Staatspräsidenten Emile Lahoud (2007) ist im aktuellen Kontext besonders die sogenannte Zedernrevolution (2005) hervorzuheben.
Ausgelöst durch die Ermordung Rafik Hariris, der nur wenige Monate zuvor das Premierministeramt aus Protest gegen die syrische Einflussnahme niedergelegt hatte, zielte die Zedernrevolution auf den Rücktritt der pro-syrischen Nachfolgeregierung und den Abzug der im Libanon seit 1976 stationierten syrischen Truppen. Beide Ziele wurden erreicht; am politischen System selbst änderte sich nichts.
Wo die Macht auf der Straße liegt
Fast 15 Jahre später wird nun wieder das Wort Revolution in den Mund genommen und nach zweiwöchigen Protesten tritt die Regierung zurück. Findet im Libanon eine Revolution statt? Nach Hannah Arendt ist es „ein Zeichen echter Revolutionen, dass sie in ihren Anfangsstadien leicht und verhältnismäßig blutlos verlaufen, dass ihnen die Macht gleichsam in den Schoß fällt […]“ und nur möglich sind, „wo die Macht auf der Straße liegt und die Autorität des bestehenden Regimes hoffnungslos diskreditiert ist. Revolutionen sind die Folgen des politischen Niedergangs eines Staatswesens, sie sind niemals dessen Ursache.“
Tatsächlich ist die Protestbewegung bisher weitgehend friedlich geblieben. Nachdem es noch am 18. Oktober zu Zusammenstößen mit den Sicherheitsbehörden gekommen war, zogen sich diese am darauffolgenden Wochenende zurück und überließen den Demonstrierenden den öffentlichen Raum. Schnell etablierte sich eine Form des Protests, auf die nicht nur im Libanon viele stolz sind. Auch die weltweit verstreute libanesische Diaspora, die schätzungsweise viermal so viele Menschen umfasst als im Libanon leben, verfolgte die euphorisierten Proteste, die vielerorts eher an Musikfestivals erinnerten als an leidgeprüftes Aufbegehren.
Bis tief in die Nacht versammelten sich Menschen auf den öffentlichen Plätzen Libanons; zu Höchstzeiten sollen landesweit bis zu 2 Millionen Menschen, also ca. die Hälfte der libanesischen Bevölkerung, protestiert haben. Immer waren am nächsten Morgen Freiwillige unterwegs um aufzuräumen, den Müll der letzten Nacht einzusammeln und zu entsorgen. Manch eine scherzte in Anspielung auf die libanesische Müllkrise, es sei so mehr Müll recycelt worden als in den letzten 10 Jahren im ganzen Land.
Neben den Versammlungen in den Zentren großer Städte wie Beirut, Tripoli oder Sour, waren es vor allem die Straßenblockaden, die den politischen Druck aufbauten. Gerade in der ersten Woche der Proteste waren fast alle größeren libanesischen Straßen blockiert; das Land stand still. Mit dem Rücktritt Saad Hariris hat sich die Situation wieder etwas entspannt. Die erste Etappe war genommen und so machten selbst die Banken letzten Freitag wieder auf. Dennoch haben sich Straßenblockaden, gerade angesichts der ohnehin schwachen Wirtschaftslage, als bevorzugter Akt zivilen Ungehorsams etabliert und werden wohl auch weiterhin genutzt werden, um den politischen Druck aufrechtzuhalten.
Bisher blieben die Proteste auch deshalb weitgehend blutlos, weil sich die Regierung vor weiteren Konfrontationen scheute und stattdessen die verfassungsrechtlich garantierte Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Artikel 13) sowie den Schutz friedlicher Demonstrationen durch das Militär betonte. Dennoch kam es im Laufe der letzten Wochen wiederholt zu Übergriffen durch Anhänger der Amal-Bewegung und Hisbollah, die u.a. letzten Dienstag die auf dem Platz der Märtyrer in Beirut von Demonstrierenden errichteten Zelte verwüsteten und teilweise in Brand setzten. Noch am selben Tag standen die Zelte wieder.
Bereits wenige Tage zuvor hatte sich Hisbollah Generalsekretär Hassan Nasrallah in einer öffentlichkeitswirksamen TV-Ansprache direkt an seine Unterstützer gewandt und diesen aufgetragen, die friedlichen Demonstrationen nicht zu attackieren. Damit war er nur teilweise erfolgreich. Wie zögerlich Hisbollah oder die von Parlamentssprecher Nabih Berri geführte Amal-Bewegung angesichts der Proteste agieren, lässt erkennen, wie beschränkt ihr politischer Handlungsspielraum geworden ist.
Anders als bei vergangenen Krisen richten sich die Proteste nicht nur gegen den Premierminister, sondern gegen alle amtierenden Vertreter der politischen Elite. Ein Novum in der libanesischen Politik. Die libanesische Staatsflagge ist das Symbol einer Bewegung, die sich als überkonfessionell versteht und bisher den Aneignungsversuchen von Parteien, wie der Progressiven Sozialistischen Partei von Drusenführer Walid Dschumblat oder der christlich-rechtskonservativen Partei Libanesische Kräfte, die bereits zwei Tage nach Beginn der Proteste alle ihre Minister aus der Regierung zurückzog, widerstehen konnte.
Tatsächlich versuchen Politiker aller Parteien, sich auf die eine oder andere Art mit den Protesten gemein zu machen; ob durch Lob (Michel Aoun), Verständnis (Hassan Nasrallah) oder Rücktritt (Saad Hariri). Wirkung entfalten diese Manöver nur begrenzt. Wie tief die Frustration der Demonstrierenden sitzt, verdeutlicht die Leitparole der Proteste. Sie konkretisiert, was der Ruf nach Revolution ohnehin vorauszusetzt – den Abtritt der alten Eliten: „Alle bedeutet alle!“
Vertrauen und Verantwortung
Nach dem Rücktritt der Regierung bleibt diese so lange geschäftsführend im Amt, bis ein neuer Premierminister ernannt wird. Nach Artikel 53 der libanesischen Verfassung obliegt dies dem Staatspräsidenten. Wie weit Michel Aoun, der sich erst letzten Sonntag gemeinsam mit seinem Schwiegersohn, dem amtierenden Außenminister, vor tausenden Anhängern der christlichen Partei Freie Patriotische Bewegung zeigte, den Forderungen der Protestbewegung entgegenkommen wird ist unklar. Nachdem bereits Saad Hariri damit gescheitert war, den Ruf nach Revolution durch eine in 72 Stunden hastig verfasste Reformagenda versickern zu lassen, wird jeder weitere Versuch, politisches Kapital zu sichern neue Proteste herausfordern.
Der Ruf nach einer Revolution ist deshalb so bedeutend, weil er zum Ausdruck bringt, dass es allein mit wirtschaftlichen Reformen nicht getan ist. Die Demonstrierenden wollen an die Substanz des konfessionell bedingten Staates, einen fundamentalen Neustart. Trotz Ihrer heterogenen Zusammensetzung und des von Regierungsanhängern immer wieder beanstandeten Mangels an Führungspersonen haben die Proteste durchaus ein Repertoire politischer Ziele hervorgebracht. Die Demonstrierenden sind mehr als nur Aufständische, die lediglich ihren Unmut bekunden – sie wollen gestalten.
Zentral ist der Austausch der amtierenden Regierung. Zwar ist diese bereits zurückgetreten, ob sie jedoch tatsächlich komplett neu, durch möglichst unparteiische Experten ersetzt werden wird, wie von der Protestbewegung gefordert, ist äußerst fraglich. Einerseits werden die etablierten Parteien ihre Anteile an den über Jahrzehnten sorgsam ausbalancierten Machtverhältnissen nur schwerlich abgeben wollen, andererseits ist nicht klar, wo die KandidatInnen für eine Technokratenregierung gefunden werden sollen. Expertise ist gut und wichtig, sie schützt aber nicht vor politischer Vereinnahmung.
Von einer Technokratenregierung erwarten sich ihre BefürworterInnen nicht nur die wirtschaftliche Konsolidierung, sondern insbesondere den Übergang zu einem civil state, einem nicht-konfessionellen, modernen Staat. Die Forderung ist nicht neu, sie steht selbst in der Präambel der libanesischen Verfassung. Das Ta’if Abkommen hatte 1989 nicht nur das konfessionelle Regierungssystem neu geordnet, sondern diesem gleichsam die eigene Endlichkeit aufgetragen. Eine politische Mehrheit, die gewillt gewesen wäre, diesen Auftrag umzusetzen, hat sich in fast 30 Jahren nicht gefunden. Allein die Mühe mit der im Vorfeld der Parlamentswahlen 2018 das Wahlrecht reformiert wurde, nur um im Ergebnis ein weiteres Mal die bestehenden Verhältnisse zu perpetuierten, zeigt, wie schwierig es ist, den Verfassungsauftrag umzusetzen.
Um den Übergang zu einem modernen, nicht-konfessionellen Staat gewährleisten zu können, fordert die Protestbewegung ein grundlegend überarbeitetes Wahlrecht mit dem frühzeitig Neuwahlen durchgeführt werden könnten. Neben neuen Verfahren, um politische Verantwortung zu übertragen, verlangt sie auch solche, mit denen missbrauchtes Vertrauen zur Verantwortung gezogen werden kann. Korruption grassiert in einem Land, dessen politische Elite vornehmlich aus Millionären und Milliardären besteht.
Effektive Korruptionsbekämpfung aber setzt eine starke Judikative voraus. Die libanesische Justiz ist dem System konfessioneller Parität und damit auch politischer Einflussnahme jedoch längst nicht entwachsen, wie der Fall einer libanesischen Richterin zeigt: Am 23. Oktober hatte sie Anklage gegen den ehemaligen Premierminister Najib Mikati und eine libanesische Bank wegen unrechtmäßiger Bereicherung erhoben und muss sich nun einem Disziplinarverfahren stellen. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, warum das Misstrauen so tief sitzt. Das Gesetz gegen unrechtmäßige Bereicherung ist 66 Jahre alt und wurde dennoch erst vorletzte Woche zum ersten Mal angewandt. Viele in der Protestbewegung heben daher die Bedeutung von Justizreformen hervor, ohne die die effektive Durchsetzung neuer Gesetzgebung nicht gewährleistet werden könne.
Was die libanesische Protestbewegung daher von einem bloßen Aufstand, einer Revolte gegen die Herrschenden unterscheidet, ist nicht allein ihr breiter Zuspruch oder ihre bisher zu verzeichnenden Erfolge, sondern vor allem ihre Zukunftsgewandheit. Die Forderungen nach grundlegendem Wandel sind lediglich die Eckpunkte eines sozialpolitischen Potpourris an Ideen, das neben Steuerreformen, unter anderem eine bessere Abfallwirtschaft und Stromversorgung, die Stärkung von Frauenrechten und mehr Umweltschutz enthält und sich gegen die fortschreitende Privatisierung des öffentlichen Raums wendet.
Konfliktpotential
Wie wird es nun weitergehen? Nach dem Rücktritt von Saad Hariri ist es an Staatspräsident Michel Aoun, einen neuen Premierminister zu ernennen. Besonders aufmerksam werden dabei auch die Signale aus dem schiitischen politischen Lager zu verfolgen sein. Befürchtungen, es könne zu einem Showdown zwischen den zwei überkonfessionellen Machtblöcken – der eher pro-westlichen Allianz des 14. März und der pro-syrischen und anti-westlichen Allianz des 8. März –kommen, sind weit verbreitet. Beide Koalitionen sind benannt nach bedeutenden Massenprotesten für und gegen den Abzug syrischer Truppen während der Zedernrevolution 2005.
Ein solches Szenario wäre dann plausibel, wenn sich die Allianz des 8. März, also die Freie Patriotische Bewegung, Amal-Bewegung und Hisbollah, einer so tiefgreifenden Erneuerung, wie sie von den Demonstrierenden gefordert wird, verweigerten und sich die mehrheitlich sunnitische Zukunftsbewegung unter Saad Hariri, die Libanesischen Kräfte und andere Parteien auf die Seite der Proteste schlügen. Wahrscheinlicher ist jedoch die Absprache beider Blöcke, um Kandidaten zu finden, die sowohl der Protestbewegung als akzeptabel erscheinen, als auch die Repräsentation der Zukunftsbewegung im Machtgefüge gewährleisten, denn weder Nabih Berri noch Michel Aoun haben bisher erkennen lassen, selbst einen Rücktritt in Erwägung zu ziehen.
Die desolate Wirtschaftslage lässt dem Libanon eigentlich keine Zeit. Mit einer der weltweit höchsten Staatsschuldenquoten ist der Staatsbankrott nicht fern. Bereits im April 2018 hatte die von Frankreich initiierte CEDRE-Konferenz Investitionen von über 11 Mrd. Euro zusammengetragen, die der libanesischen Wirtschaft zumindest zeitweilig wieder auf die Beine verhelfen sollen. Die Zusagen sind allerdings an die Umsetzung weiterhin ausstehender Reformen gebunden. Ohne Regierung sind diese in weite Ferne gerückt. Dabei hatte es fast 9 Monate gedauert, um nach den Wahlen 2018 eine neue Regierung zu bilden; eine Regierung, die sich lediglich genau so lang im Amt halten konnte.
Die Zelte in Downtown Beirut zeigen: die Protestbewegung ist gekommen, um zu bleiben. Der Sturz der Regierung allein reicht ihr nicht. Sie will nachhaltigen Wandel, eine Revolution. Diejenigen, die eine solche befürworten werden den Prozess der kommenden Regierungsbildung aufmerksam verfolgen und versuchen, ihn mitzubestimmen. Eine sich über Jahrzehnte gefestigte politische Ordnung wie die libanesische ändert sich nicht über Nacht, aber es scheint, als hätten die Demonstrierenden Hannah Arendt im Hinterkopf, die warnte, „dass nichts vergänglicher und vergeblicher ist als […] eine Befreiung, die unfähig ist, die neu gewonnene Freiheit in angemessenen Institutionen und Verfassungen zu verankern“.