Richter als Soziologen, Soziologie als Entschuldigung
Am 18. Mai 2015 hat das Strafgericht in Rennes zwei Polizisten freigesprochen, die im Zusammenhang der Vorgänge von Clichy-sous-Bois angeklagt waren. Damit wurde ein strafrechtlicher Schlussstrich unter ein Ereignis gesetzt, das vor zehn Jahren, im Herbst 2005, zu den größten städtischen Unruhen Europas geführt hatte.
Am 27. Oktober 2005 wird die Polizei von einem Anrufer alarmiert, der glaubt, Jugendliche beim Diebstahl von Baumaterialien zu beobachten. Ortsfremde Polizisten werden in den Einsatz geschickt und verfolgen Jugendliche, die sich ohne Papiere, mit denen sie sich auszuweisen könnten, auf dem Heimweg von einem Fußballspiel befinden. Drei Jugendliche flüchten in ein Umspannwerk der Elektrizitätsbetriebe und werden Opfer eines 20.000 Volt starken Stromschlags. Zwei Jugendliche im Alter von 15 und 17 Jahren kommen dabei zu Tode, der dritte überlebt schwerverletzt. Der Vorfall löst eine Welle von Unruhen aus, die 300 Kommunen in ganz Frankreich über zwei Wochen in Atem halten. Nach zehn Jahren und einer wendungsreichen juristischen Aufarbeitung werden zwei Polizisten wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Eine der beiden Beamten befand sich in der Zentrale, wo ihr von ihrem vor Ort befindlichen Kollegen folgender Funkspruch übermittelt wurde: „Wenn sie ins Umspannwerk flüchten, gebe ich nicht viel auf ihr Leben.“
Der vorsitzende Richter gab sich gegenüber den Nebenklägern am ersten Verhandlungstag äußerst gereizt. Seiner Aussage nach sei dies kein Prozess gegen die Polizei. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Gericht in dem einige Wochen später verkündeten Urteil soziologisch argumentiert, um die auf den Angeklagten lastende Verantwortung zu relativieren. Und diese soziologische Argumentation hat es in sich:
Da ist zunächst die Beurteilung der individuellen, strafrechtlichen Verantwortung von Stéphanie Klein, jener Polizistin, die in der Zentrale am Funkgerät saß. Hier verweigerte das Gericht schlichtweg jegliche Schuldzuweisung. Denn, so lässt das Gericht verlauten, Frau Klein sei „eine junge, noch in Ausbildung befindliche Beamtin, die nur über wenig Einsatzerfahrung verfügte“. Die Besetzung der Funkstelle würde „spezielle Kompetenzen […] in Koordination, Kontrolle und Einsatzleitung“ vor Ort erfordern. „Die Untersuchung erbringe“ nun aber, dass „sie vorab keine Ausbildung für diese Tätigkeit erhalten hat“. Zudem „ist unbestreitbar“ (man achte auf die Bestimmtheit der Formulierungen), dass sich das Geschehen in der Kommune von Clichy-sous-Bois zugetragen habe. Frau Klein sei aber mit den Gegebenheiten dieser Stadt nicht vertraut gewesen: Es gab damals kein Polizeirevier in Clichy, obwohl die Bewohner die Einrichtung eines solchen seit 35 Jahren fordern, und die Kommune „gehörte nicht in den Zuständigkeitsbereich des Polizeireviers“ von Frau Klein, die ohnehin „aus der Provinz“ stamme und in der Region „lediglich seit einigen Monaten“ eingesetzt und nicht hier wohnhaft sei.
Der soziologische Scharfsinn des Gerichts ist löblich. Es berücksichtigt alles, was die Polizeisoziologie seit Jahrzehnten herausarbeitet. So z.B. die einschneidenden Auswirkungen der Zentralisierung der französischen Polizei, deren Kräfte nunmehr in ihnen unbekannten Regionen eingesetzt werden, die sie nicht kennenlernen, sondern vielmehr schnellstmöglich wieder verlassen wollen. Zudem hält das Gericht die Konzentration von Personal und Infrastruktur in Paris, im Herzen der Macht, und das geringe Interesse für die Sicherheit in den Städten im Umland für „unbestreitbar“. Und durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Bestimmungen des öffentlichen Dienstes und der Polizei im Besonderen seien die jüngsten Beamten mit der geringsten Erfahrung in den schwierigsten Gebiete eingesetzt und dabei zudem von ihren Vorgesetzten sich selbst überlassen. Frau Klein „war eine junge, noch in Ausbildung befindliche Beamtin“. Über Herrn Gaillemin, den zweiten, verurteilten Polizisten, der seine Kollegin Stéphanie Klein wissen ließ, dass er nicht viel auf das Leben der Jugendlichen gäbe, „wenn sie ins Umspannwerk flüchten“, urteilt das Gericht, dass er „ein junger Ordnungshüter [sei], der über lediglich fünf Jahre Berufserfahrung in der Polizei verfügt“. Zudem hält das Gericht fest, dass er in Begleitung von zwei nicht verbeamteten Polizisten gewesen sei. Herr Gaillemin leistet seinen Dienst ebenfalls im Polizeirevier von Livry-Gargan, denn, wie wir bereits festgestellt haben, ein Polizeirevier gibt es in Clichy nicht.
Ferner finden wir eine scharfsinnige Soziologie der Änderung im Organisationsablauf, hier der Funktätigkeiten der Kräfte vor Ort. Aufgrund von Sparvorgaben hat die Polizei ihre Funker auf Stellen außerhalb der lokalen Polizeireviere abgeschoben und diesen Stellen vorrangig mit v.a. weiblichen „Neuzugängen aus der Polizeiakademie“ besetzt (im vorliegenden Fall sogar mit einer noch in Ausbildung befindlichen Beamtin). So beschweren sich die Polizisten vor Ort ohne Unterlass, von Kollegen „geleitet“ zu werden, die das Gelände nicht kennen, was bisweilen zu komischen bzw. in diesem Fall zu dramatischen Situationen führt: Frau Klein nimmt an, dass „die Anlage der EDF [Électricité de France]“ ein einfaches Verwaltungsgebäude sei. Man könne ihr schlecht einen Vorwurf daraus machen, zumal ihre Vorgesetzten sie nicht einmal mit einem Plan der Kommune, für die sie zuständig gewesen sei, ausgestattet hätten! Seit nunmehr fünfzig Jahren hat die amerikanische Soziologie, die über umfangreiches Datenmaterial zu Opfern von Polizeigewalt verfügt, gezeigt, dass einer der entscheidenden Gründe für den nicht gerechtfertigten Einsatz von Schusswaffen die schlechte Anweisung durch die Einsatzzentrale ist. Der Polizist, der kürzlich in Cleveland ein zwölfjähriges Kind erschossen hat, wurde ebenfalls schlecht per Funk angewiesen und illustriert damit die entscheidende Bedeutung dieser scheinbar randständigen und untergeordneten Aufgabe in der Einsatzzentrale. Organisations- und Techniksoziologie kommen hier zusammen und dem Soziologen bleibt gar nichts anderes übrig, als sich Darstellung des Gerichts anzuschließen.
Aber damit ist die Geschichte noch nicht vorbei. Die Polizei ist nicht nur eine Institution, sie ist auch ein Bündel von Praxen, Wechselwirkungen und Austauschbeziehungen – die Summe ihrer Verhältnisse zur Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht gibt der zweite angeklagte Polizist, Herr Gaillemin, in den Anhörungen eine bemerkenswerte Beobachtung zu Protokoll: Auch wenn er die Jugendlichen angewiesen hätte, nicht in eine lebensgefährliche Anlage zu fliehen, „hätten sie ihm nicht gehorcht, wie [er] es schon mehrfach bei der Arbeit in Seine St Denis erlebt hat“. Von allen vorgebrachten Beobachtungen ist diese sicherlich die zutreffendste. Sie ist zugleich die abstoßendste. Sie besagt, dass die Polizisten es als ausgemacht betrachten, dass Jugendliche sich heutzutage mehr denn je den Anweisungen der Polizei widersetzen und dass jegliche Anstrengung, sie zu überzeugen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Damit aber sind wir bei einem grundlegenden Begriff der Polizeiarbeit angelangt: Vertrauen. Häufig ließt man in Frankreich und anderswo, dass „das Vertrauen zwischen Polizei und Bevölkerung wieder hergestellt“ werde müsse. Das Vertrauen des Polizisten in sich selbst, in die Kraft seines Wortes und in seine Überzeugungsfähigkeit. Das Vertrauen der Jugendlichen in die Polizei: Die Jugendlichen hätten die Warnung der Polizei vor Lebensgefahr erhört, wenn sie doch nur ein Minimum an Vertrauen in die Polizei gehabt hätten. Aber die Polizei weiß aus Erfahrung, dass es vergeblich ist. Am Ende muss man einen Toten verzeichnen.
Die Richter sind mit ihrer Verdichtung eines halben Jahrhunderts von Polizeisoziologie nicht darauf aus, Punkte in den Sozialwissenschaften zu machen. Es geht ihnen vielmehr darum, Verantwortung zu relativieren. Die strukturellen Gründe einer nachlässigen Organisation der Polizei können nicht Frau Klein individuell angelastet werden. Wer der Argumentation zustimmt, muss auch vorbehaltlos die Schlussfolgerung teilen.
Allerdings sollte man dieses Versteckspiel von Recht und Soziologie klar ermessen. Die Soziologie untersucht Strukturen. Das Strafrecht dagegen kennt nur Individuen. Für das Gericht sind die Strukturen verantwortlich, damit aber der Staat. Zwar ist es möglich, den Staat zu belangen, aber dafür muss man vor einem Verwaltungsgericht Beweise für eine „schwere Verfehlung“ beibringen und keines der entlastenden Elemente, die das Gericht heraufbeschworen hat, erfüllt diese Anforderung: Es ist die jahrzehntelange Ansammlung, die die Bedingungen der Möglichkeit des Umfalls schafft, im vorliegenden Fall des Todes. Auch die „Ansammlung kleiner Fehler“, die 1992 in die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt wurde, kommt hier nicht in Betracht.
Angesichts der Unmöglichkeit, einen Verwaltungsfehler geltend und eine individuelle Verantwortung greifbar zu machen, ruft uns die Strafjustiz in Erinnerung, dass sie nicht der Ort moralischer oder politischer Wiedergutmachung ist.
Dieses mit Soziologie hantierende Versteckspiel ist sehr wohl parteilich. Die auf eine Entschuldigung der beiden Polizeibeamten hinauslaufenden Argumentation wird von dem vorsitzenden Richter vorgetragen, der die Anhörungen mit folgender Vorwarnung beginnt: Dieser Prozess sei keinesfalls „der Prozess der gesamten Polizei“. Ob nun mittels Beweisen oder Falschaussagen geführt, schlussendlich hat ein Prozess der gesamten Polizei stattgefunden. Und dieser hat es ermöglicht, sie von jeglicher Verantwortung freizusprechen.
Ist nicht der Rechtsbegriff des Freispruchs von Verantwortung genau das, was Politiker von Ronald Reagan über Tony Blair bis hin zu Nicolas Sarkozy „soziologische Entschuldigung“ nennen? Das Gericht besänftigt: Über Individuen kann in der Soziologie nicht gerichtet werden. Wer aber richtet über die Polizei?
Aus dem Französischen von Kolja Lindner
Eine sehr gute, treffende Analyse!
Die juristische “Nichtverfolgung” illegalen Polizeihandelns in den strukturellen Gegebenheiten von Gesellschaft und Polizei angelegt.
Einerseits erscheint es aus der Perspektive des Strafgerichts verständlich, wenn es nicht die kleinen Leute (in der Polizei) “hängen” möchte, während Polizeimanagement und Innenpolitik “verwaltungsgerichtlich “laufen” gelassen werden.
Andererseits fördert eine solche Entscheidung die “Immunitätskultur” innerhalb der Polizei: Das Gefühl, juristisch für sein Handeln nicht belangt werden zu können; die Vorfälle “gerade schreiben zu können”; mit Lügen vor Gericht “durch zu kommen”. Amnesty International nennt das: Culture of Impunity.
An dieser Stelle trägt der Rechtsstaat einen blinden Fleck. Und er wird ihn weiter tragen, wenn aus solchen Gerichtsentscheidungen in Polizei und Gesellschaft keine Konsequenzen gezogen werden.
Martin Herrnkind
Lieber Fabien: leider komme ich erst jetzt dazu, deine interessante Analyse zu kommentieren.
1. Mir ist nicht ganz klar, ob du die Soziologie auf den Prüfstand heben willst oder das Recht – oder beide?
Die (fehlende) “accountability” polizeilichen Handelns steht ja seit Jahren auf der Tagesordnung der Soziologie, jedenfalls der englisch sprachigen. Dass die vom Gericht eingesetzten “Techniken der Neutralisierung” von Verantwortung große soziologische Erkenntnisse verraten, sehe ich nicht – sondern: vielmehr polizeieigenes Wissen und Immunisierungsstrategien, wie es sich in den gesellschaftlichen Institutionen und Legitimationen zu entwickeln prägt: die Soziologie hat darüber aufgeklärt, nicht dazu beigetragen.
2. Ich fände es aufregend, das französiche Gerichtsurteil mit der gerade in Deutschland erfolgten Verurteilung des Auschwitz-Buchhalters Görgen zu vergleichen: dieser ist wegen “Beihilfe” zum Mord an mindestens 300.000 KZ-Häftlingen verurteilt worden. Hätten deutsche Gerichte dieses strafrechtliche Konzept der “Beihilfe” bereits vor Jahrzehnten so angewendet wie die jungen Richter im Görgen-Prozess, wäre die deutsche Justiz in Notstand geraten – und viele Deutsche dem wirtschaftlichen Wiederaufbau entzogen worden: zugegeben, etwas zynisch, aber nicht ganz an der “Zwölf” vorbei.
Es würde mich interessieren, was du zu meinen Überlegungen sagst – vielleicht mal wieder bei einem Kaffee.
Schöne Grüße – Fritz..