Richterin in Rage, lernende Demokratie und positive Diskriminierung
Wenn ein Richter am Obersten Gerichtshof bei der Urteilsverkündung persönlich sein abweichendes Sondervotum verlese, dann sei das mehr eine Art Entertainment für die Presse, auf das sie gut verzichten könnte, ließ Sonia Sotomayor noch vor wenigen Wochen die Justizjournalistin Linda Greenhouse in einem sehr lesenswerten öffentlichen Gespräch des Yale Law Journal wissen. Aber, so bekannte die Richterin, das ostentative Ritual sei auch ein Signal dafür geworden, wie ernst es einem Mitglied des Gerichtshofs mit der Kritik an den Kolleginnen und Kollegen sei und wie sehr der Dissenter davon überzeugt sei, dass der Supreme Court mit seiner Mehrheitsentscheidung falsch liege.
Wer ist die Hüterin der Verfassung?
Am Dienstag nun gab Richterin Sotomayor bei der Verkündung des Urteils in der Rechtssache Schuette v. BAMN deutlich ihrem Missfallen über die mit sechs zu zwei Stimmen ergangene Entscheidung Ausdruck. (Die neunte Richterin Elena Kagan hatte sich selbst für befangen erklärt, weil sie zuvor als Generalbundesanwältin mit der Sache befasst gewesen war.) In seinem Urteil erklärte der Gerichtshof ein als Verfassungszusatz an die Verfassung des Bundesstaates Michigan angefügtes Verbot der Diskriminierung oder Bevorzugung bestimmter Gruppen im staatlichen Ausbildungswesen, in Vergabeverfahren und im öffentlichen Dienst (“Proposal 2”) für verfassungsgemäß, dem 2006 58 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Michigan zugestimmt hatten. Mit “Proposal 2” wurde auch die zuvor unter anderem von der University of Michigan Law School praktizierte Bevorzugung von Studienbewerberinnen und -bewerbern, die ethnischen Minderheiten zugehören, unterbunden. Der Volksentscheid war eine Antwort auf die Entscheidung Grutter v. Bollinger, in der der Supreme Court 2003 im Interesse größerer Diversität im Bildungssystem die Berücksichtigung von “race” – im Deutschen “Rasse” (mit Anführungszeichen) oder “ethnische Zugehörigkeit” (ohne Anführungszeichen) – als ein Kriterium im universitären Zulassungsverfahren gebilligt hatte. Der United States Court of Appeals for the Sixth Circuit hatte das Verbot in einer 8-zu-7-Entscheidung zunächst für verfassungswidrig erklärt.
Im am Dienstag verkündeten Urteil ging es nicht um die Zulässigkeit positiver Diskriminierung an sich, sondern um die Frage, wer im Gemeinwesen für die aktive Korrektur von Ungleichheit zuständig ist. “This case is not about how the debate about racial preferences should be resolved,” schreibt Berichterstatter Antony Kennedy in seiner die Entscheidung tragenden Meinung, der sich auch Chief Justice John Roberts und Justice Samuel Alito anschlossen. “It is about who may resolve it. There is no authority in the Constitution of the United States or in this court’s precedents for the judiciary to set aside Michigan laws that commit this policy determination to the voters.”
Die insgesamt 108 Seiten lange Entscheidung, die sich aus fünf ganz unterschiedlichen opinions zusammensetzt, lohnt die genaue Lektüre. Denn hier offenbart sich nicht nur die tiefe politische Kluft, die durch das Richterkollegium geht – geboten wird vor allem eine anregende Diskussion der Rolle von Gerichten (und insbesondere natürlich eines Verfassungsgerichts) in der Demokratie.
Öffentlicher Diskurs, politische Debatte und die “lernende Demokratie”
Berichterstatter Kennedy ruft die Geschichte ethnischer Konflikte in Amerika in Erinnerung, die Quelle von Tragödien und noch immer fortdauernden Unrechts sei – und leitet daraus das verpflichtende Ethos einer “lernenden Demokratie” ab:
That history demands that we continue to learn, to listen, and to remain open to new approaches if we are to aspire always to a constitutional order in which all persons are treated with fairness and equal dignity. Were the Court to rule that the question addressed by Michigan voters is too sensitive or complex to be within the grasp of the electorate; or that the policies at issue remain too delicate to be resolved save by university officials or faculties, acting at some remove from immediate public scrutiny and control; or that these matters are so arcane that the electorate’s power must be limited because the people cannot prudently exercise that power even after a full debate, that holding would be an unprecedented restriction on the exercise of a fundamental right held not just by one person but by all in common. It is the right to speak and debate and learn and then, as a matter of political will, to act through a lawful electoral process. The respondents in this case insist that a difficult question of public policy must be taken from the reach of the voters, and thus removed from the realm of public discussion, dialogue, and debate in an election campaign. Quite in addition to the serious First Amendment implications of that position with respect to any particular election, it is inconsistent with the underlying premises of a responsible, functioning democracy. One of those premises is that a democracy has the capacity—and the duty—to learn from its past mistakes; to discover and confront persisting biases; and by respectful, rationale deliberation to rise above those flaws and injustices.
Kein Zweifel, Justice Kennedy hat seinen Habermas (oder jedenfalls Ackerman & Fish) gelesen. Und mahnt deswegen zum Vertrauen in den öffentlichen Diskurs und die Willensbildung der Wählerinnen und Wähler:
That process is impeded, not advanced, by court decrees based on the proposition that the public cannot have the requisite repose to discuss certain issues. It is demeaning to the democratic process to presume that the voters are not capable of deciding an issue of this sensitivity on decent and rational grounds. The process of public discourse and political debate should not be foreclosed even if there is a risk that during a public campaign there will be those, on both sides, who seek to use racial division and discord to their own political advantage. An informed public can, and must, rise above this. The idea of democracy is that it can, and must, mature. Freedom embraces the right, indeed the duty, to engage in a rational, civic discourse in order to determine how best to form a consensus to shape the destiny of the Nation and its people. These First Amendment dynamics would be disserved if this Court were to say that the question here at issue is beyond the capacity of the voters to debate and then to determine.
Transformative constitutionalism und die Richterin als role model
Auch wenn es also, wie schon gesagt, nicht um die Zulässigkeit positiver Diskriminierung an sich geht, sondern um die Frage, wer im Gemeinwesen für die aktive Korrektur von Ungleichheit zuständig ist: In ihrem leidenschaftlichen Sondervotum, dem sich auch Justice Ruth Bader Ginsburg angeschlossen hat, geht Sonia Sotomayor dennoch ausführlich auf die Verfassungsmäßigkeit positiver Diskriminierung ein und stellt die konkrete Entscheidung in den Kontext der einschlägigen Präzendenzfälle zur “affirmative action” bei der Bevorzugung von Angehörigen ethnischer Minderheiten im Schul- und Hochschulbereich, die den Obersten Gerichtshof in der Vergangenheit beschäftigten.
58 Seiten lang ist Sotomayors abweichende Meinung, länger als die vier vorausgehenden opinions ihrer Richterkollegen zusammen (und Chief Justice John Roberts ist davon, wie sein knappes Sondervotum klar macht, ziemlich genervt). Mehr als deutlich nimmt Sonia Sotomayor den Supreme Court in die Pflicht, den Kampf gegen die Diskriminierung ethnischer Minderheiten nicht den Wählerinnen und Wählern und den Selbstheilungskräften einer “lernenden Demokratie” zu überlassen:
Race matters. Race matters in part because of the long history of racial minorities’ being denied access to the political process. (…) Race also matters because of persistent racial inequality in society—inequality that cannot be ignored and that has produced stark socioeconomic disparities. (…) And race matters for reasons that really are only skin deep, that cannot be discussed any other way, and that cannot be wished away. Race matters to a young man’s view of society when he spends his teenage years watching others tense up as he passes, no matter the neighborhood where he grew up. Race matters to a young woman’s sense of self when she states her hometown, and then is pressed, “No, where are you really from?”, regardless of how many generations her family has been in the country. Race matters to a young person addressed by a stranger in a foreign language, which he does not understand because only English was spoken at home. Race matters because of the slights, the snickers, the silent judgments that reinforce that most crippling of thoughts: “I do not belong here.”
Aus Sotomayors eloquentem Votum spricht ihre eigene Erfahrung. “I had been admitted to the Ivy League through a special door,” schreibt sie in ihrer Autobiographie “My Beloved World”, die in den Vereingten Staaten ein Bestseller ist und seit Februar auch in deutscher Übersetzung vorliegt. “I lived the day-to-day reality of affirmative action.” Als hispanic erhielt die in einfachsten Verhältnissen in der Bronx aufgewachsene Sotomayor privilegierten Zugang zur Universität Princeton und später zur Yale Law School – und erlebte dort auch den Druck, sich als vermeintliche Profiteurin einer “affirmative action” immer wieder doppelt und dreifach beweisen zu müssen. (Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, dass sich ihr konservativer Richterkollege Clarence Thomas, der mit ihr eine ganz ähnliche Bildungsbiographie teilt, dem energischen Sondervotum von Justice Antonin Scalia anschließt – welches mit seinen Ausführungen zur political-process doctrine eigentlich eine ausführlichere Betrachtung verdienen würde, ebenso wie die Stellungnahme von Justice Stephen Breyer …) Die Diskriminierung ethnischer Minderheiten ist für Sotomayor alltägliche Realität, das unterstreicht sie auch in ihrem aktuellen Sondervotum:
In my colleagues’ view, examining the racial impact of legislation only perpetuates racial discrimination. This refusal to accept the stark reality that race matters is regrettable. The way to stop discrimination on the basis of race is to speak openly and candidly on the subject of race, and to apply the Constitution with eyes open to the unfortunate effects of centuries of racial discrimination.
Bewusst tritt Sonia Sotomayor als Agentin eines transformative constitutionalism auf, der die Verfassung an die Spitze gesellschaftlichen Wandels setzt und dabei nicht auf die Lernfähigkeit und Lernwilligkeit der Mehrheit wartet. Bewusst inszeniert sie sich selbst als role model gelungener Bildungsintegration und wird nicht müde, ihre persönliche Erfolgsgeschichte zu Protokoll zu geben – ob in der Sesamstraße oder in der Yale Law School. Auch wenn sie im Mai nach Berlin kommt, soll bei Begegnungen und Lesungen ihre persönliche Geschichte im Zentrum stehen.
Verträgt ein hohes Richteramt so viel Personalisierung? Braucht es nicht etwas mehr Zurückhaltung und Distanz? Klare Differenzierung zwischen Amt und Person? Oder brauchen wir – wie Sonia Sotomayor selbst unterstreicht – mehr Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter, die unbefangen ihre eigenen Erfahrungen zur Sprache bringen und auch in roten, blauen oder schwarzen Roben zuerst als ganz menschliche Personen sichtbar sind?
Auch darüber lässt sich bei der Lektüre von Schuette v. BAMN gründlich nachdenken.
Die konservative Antwort auf das Votum Sotomayors kommt von Justice Scalia: http://washingtonexaminer.com/antonin-scalia-faults-sonia-sotomayor-for-doubly-shameful-suggestion-that-michigan-voters-are-racist/article/2547564
Ich verstehe nicht ganz, wieso Thomas beredt schweigt, wo er sich doch dem Votum von Scalia anschließt, das allerdings im Blogpost auch nicht erwähnt wird.
@ Gerd Gosman: Das war ein peinlicher faux pas, den ich nun korrigiert habe – vielen Dank für den Hinweis. Scalias Votum würde in der Tat eine ausführliche Diskussion verdienen; in meinem ersten Zugriff auf die Entscheidung habe ich mich allerdings aus Raum- und Kapazitätsgründen zunächst einmal auf Sotomayor konzentriert.
@AlexandraKemmerer Sie werfen mit ihrer Frage nach der Differenzierung von Amt und Person eine interessante Frage auf. Ist das Amt des (Verfassungs-)Richters (auch) ein Ort für gesellschaftliche Repräsentation oder verstellt dies den Blick auf andere, schwieriger zu fassende Eigenschaften? Die dissenting opinion von Sotomayor ist – liest man sie zudem zusammen mit Ihrer Biographie – ist in diesem Zusammenhang zweifellos sehr eindrücklich. Sie ist aber auch juristisch spannend, wenn man über das zugrunde gelegte Organisationsdesign von demokratischen Entscheidungen nach der political proces-Doktrin nachdenkt. Der Minderheitenschutz wird von der Manipulation von Verfahrensregeln her rekonstruiert, wodurch eine Art Subsidaritätsvorbehalt entsteht, der großflächige Majorisierung verhindern soll. Scalia hält das für eine ziemliche Fehlleistung aus der Scotus-Vergangennheit.
Das Sotomayor-Votum, dessen juristische Argumentationskraft ich als nur sehr ferner Beobachter amerikanischen Verfassungsrechts nicht beurteilen kann, halte ich vor allem für mutig. Man muss ja sehen, dass sich ihre Gegner nun in den Vorurteilen bestätigt sehen, die sie gegen ihre Ernennung in Stellung gebracht haben. In dieser Situation die Mehrheit in dieser Weise anzugehen: Respekt.
@Gerd Gosman: Ich mag Sie ja. Aber seien Sie ehrlich, Sie hatten schon zu Schulzeiten wenig Freunde, richtig?
Potius amicum quam dictum perdere.
@Gerd Gosman: Nun wollen Sie mit mir gleichziehen. @Max soll auch Sie mit Don Alphonso vergleichen?
[…] „Ansicht“ respektieren und tolerieren. Andererseits widerstrebt sie ihr so sehr, dass sie ein tiefgehendes persönliches Sondervotum von 58 Seiten schreibt, in dem sie ihre Erfahrungen und politischen Ansichten zur Frage […]
[…] views. But she could never entirely accept them. Her objection runs so deep that it inspired a 58-page dissent containing not only every possible political objection but all of her personal experiences with […]