Rottmanns Leiden oder Lehrbuch des Befangenheitsrechts
Wenn Juristen den Namen “Rottmann” erwähnen, denkt man heutzutage als erstes an Luxemburg, nicht an Karlsruhe. Das war mal anders. Joachim Rottmann war in den 70er Jahren ein Richter im Zweiten Senat, und mit seinem Namen verbindet sich eine der verworrensten und bizarrsten Episoden in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts.
Am 21. Dezember 1972 unterschrieben Kanzleramtschef Egon Bahr und sein DDR-Counterpart Michael Kohl in Berlin als krönenden Abschluss von Willy Brandts neuer Ostpolitik den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Die beiden deutschen Staaten versprachen sich darin, gut nachbarlich zusammenzuarbeiten, sich militärisch in Ruhe zu lassen und quasi-diplomatische Beziehungen miteinander aufzunehmen.
Warum dieser Vertrag damals ein solch enormer verfassungspolitischer Skandal war, fällt heutzutage (außerhalb der so genannten “Reichsbürgerbewegung“, die es da draußen abgefahrenerweise immer noch geben soll und deren erwartbare Kommentare unter diesen Post ich ignorieren werde und zu ignorieren bitte) nicht mehr leicht zu verstehen. Aber ein Skandal war er. Jedenfalls zog die bayerische Staatsregierung seinethalben nach Karlsruhe, und für ein paar Wochen im Sommer 1973 sah es so aus, als ob sie gute Chancen hätte, den Vertrag für verfassungswidrig erklären zu lassen. Und das hat mit Joachim Rottmann zu tun.
Dabei war Rottmann keineswegs ein Sympathisant der bayerischen Verfassungsauslegung, ganz im Gegenteil. Bayerns Argument stützte sich auf die Meinung, dass das Grundgesetz die bundesdeutsche Politik auf die so genannte “Fortbestandsthese” verpflichte: Das Deutsche Reich sei 1945 mitnichten untergegangen, sondern bestehe als rechtsfähiger, wenngleich mangels Organisation handlungsunfähiger Staat fort. Mit der Bundesrepublik habe dieser 1949 eine neue Organisationsform erhalten, wenngleich nur auf einem Teil seines Staatsgebiets und für einen Teil seines Staatsvolks. Die Bundesrepublik dürfe somit die DDR niemals als Ausland behandeln, müsse deren Bürger als Deutsche anerkennen und für sie Verantwortung übernehmen und am Ziel der Wiedervereinigung festhalten. Das war insoweit geltende und unumstößliche Verfassungsdoktrin und vom BVerfG immer wieder so entschieden worden.
Richter Rottmann hatte sich im April 1973 in einem Vortrag vor dem lokalen FDP-Kreisverband in Karlsruhe als großer Fan von Willy Brandts Ostpolitik zu erkennen gegeben. Das fand seinen Weg in die Presse, und Bayerns Prozessvertreter taten, was man in so einem Fall zumindest probieren muss: sie lehnten Rottmann als befangen ab.
Das war deshalb heikel, weil die acht Richter (damals ausschließlich Männer) des Zweiten Senats politisch genau in zwei Hälften zerfielen: hier die Sozialdemokraten und Ex-Parlamentarier Seuffert und Hirsch, der liberale Staatsrechtslehrer Rupp und eben Rottmann, ein FDP-Mann aus der Ministerialverwaltung. Und dort die vier Konservativen Geiger, Wand, Rinck und Schlabrendorff. Gelänge es, Rottmann rauszuschießen, so das Kalkül, dann wären die Konservativen im Senat in der Mehrheit.
Das gelang aber erstmal nicht. Die sieben Senatskollegen witterten den Versuch, die Zusammensetzung des Senats politisch zu manipulieren, und wiesen den Befangenheitsantrag Ende Mai 1973 ab. Die Begründung liest sich regelrecht hochmütig: Befangen bin ich, wenn ich einer Partei Anlass gegeben habe, an meiner Unvoreingenommenheit zu zweifeln – aber bei einem Bundesverfassungsrichter verbieten sich solche Zweifel quasi von selbst, zumal Parteien in einem “Staatsprozess”, die als Verfassungsorgane des Bundes oder der Länder “Einblick in die Struktur des Bundesverfassungsgerichts” genießen und wissen, dass bei Bundesverfassungsrichtern Unvoreingenommenheit quasi ihr middle name ist.
Diese Selbstherrlichkeit ging einem der Senatsmitglieder, dem Richter Wand, dann doch zu weit: Wenn eine Partei Anlass hat, an der Unparteilichkeit eines Richters zu zweifeln, dann ist dieser befangen, ob er ein Amts- oder Verfassungsrichter ist, schrieb er in einem Sondervotum. Und auch die restlichen Angehörigen des Zweiten Senats dürften ihre hochfahrende Positionierung schnell bereut haben.
Denn Richter Rottmann hatte unterdessen nachgelegt. Ein Mann namens Gutmann hatte ihm nach den Presseberichten über seinen Vortrag einen Brief geschrieben, und auf den antwortete Rottmann und schilderte in großer Ausführlichkeit, was er von der Fortbestandsthese und ihren Auswirkungen auf die Ostpolitik hielt. Von “Wunschdenken” war da die Rede, von “Gerede über die Wiederherstellung der deutschen Einheit” und von der Beobachtung, dass die Rechtstheorie, auf deren Basis das BVerfG die letzten Jahrzehnte über die deutsche Frage beurteilt habe, “in der politischen Realität leider weggefegt worden” sei.
Die bayerische Staatsregierung hatte nichts Eiligeres zu tun, als diesen Brief nach Karlsruhe zu schicken, nebst einem neuen Befangenheitsantrag. Und der verfehlte seine Wirkung nicht und spaltete den Senat genau entlang der politischen Bruchlinie: Die vier Konservativen nahmen Rottmann seine Kritik an der Fortbestandsthese derart übel, dass sie ihn für befangen erklärten, dem ohnmächtigen Zorn der überstimmten drei Sozialliberalen, die sie vergeblich an ihre kaum drei Wochen zuvor formulierten Maßstäbe erinnerten, zum Trotz.
Was für ein Desaster. In einem Moment, da er seiner Autorität bedurfte wie selten zuvor, da er über einen politischen Vorgang von epochaler Tragweite zu urteilen hatte, stand der Senat öffentlich als zerstritten, manipulierbar und in politische Lager gespalten da.
Am 31. Juli verkündeten die sieben verbliebenen Richter ihre Entscheidung. Und siehe: mit 7:0 Stimmen erklärten sie den Grundlagenvertrag für verfassungskonform. Die Fortbestandsthese und das Gebot, auf die Wiedervereinigung hinzuwirken, bekräftigten sie dabei mit donnernden Worten. Aber wie dieses Ziel am besten erreicht werden soll, das zu entscheiden sei Sache der Politik. Ein Muster, das jedem, der die Rechtsprechung des Zweiten Senats zu Europa kennt, wohl vertraut sein dürfte.
Was bleibt von all dem? Die Fortbestandsthese ist seit der Wiedervereinigung gottlob nichts mehr, woran man sich als Jurist noch groß das Hirn verbiegen müsste. Das Thema Befangenheit dagegen hat nicht aufgehört, Probleme zu bereiten. Das liegt auch an der Gesetzeslage: “Wissenschaftliche Meinungen” zu äußern, soll nach § 18 III Nr. 2 BVerfGG von vornherein kein Befangenheitsproblem schaffen können. Und das umfasst in der Praxis nicht nur die Teilnahme am engeren wissenschaftlichen Diskurs (sofern das überhaupt abgrenzbar wäre), sondern auch öffentliche Vorträge, Interviews etc.. Man kann sich sogar mal als bezahlter Gutachter zu einer im Verfahren maßgeblichen Frage verdingt haben, ohne dass die Parteien deswegen an dero Unparteilichkeit zweifeln dürften (within reason jedenfalls, was allerdings dann immer noch für senatsinternen Streit sorgt).
Allerdings: was heißt überhaupt unbefangen bei Verfassungsrichtern? Bei Instanzrichtern, die inter partes einen Streit entscheiden, ist das viel leichter zu beantworten: Wenn sie einer Partei das Gefühl geben, dass sie die andere Seite mit einem Sympathieplus ins Verfahren geht, dann wird das Verfahren keinen Rechtsfrieden stiften können, und daher kann man solche Richter ablehnen. Verfassungsrichter sind aber nicht in erster Linie dazu da, Streitigkeiten aus der Welt zu schaffen, sondern sie bestimmen, was die Verfassung sagt. Wenn sie dazu keine Meinung hätten, bevor die Frage sie in Gestalt eines Falls erreicht, dann wären sie schlechte Verfassungsrichter, und wenn sie eine haben, warum sollen sie sie dann nicht auch sagen dürfen?
Ein Problem wird diese Meinung erst dann, wenn sie auf eine Weise geäußert wird, dass eine Partei das Gefühl bekommen muss, sie kann im Verfahren vorbringen, was sie will – für diesen Richter ist die Sache bereits entschieden. Dass er zugemacht hat und für alle noch so guten Argumente nicht mehr empfänglich ist.
War das bei Joachim Rottmann der Fall? Wenn man die Entscheidungen heute liest, staunt man höchstens, wie ungeschützt er sich mit seiner Meinung ins Feuer begeben hat, zumal wenn man an die heute in Karlsruhe herrschenden Kommunikationsgepflogenheiten gewöhnt ist. Aber ich kann nichts erkennen, das mich an seiner Bereitschaft, sich auf jedes Argument einzulassen, zweifeln ließe. Die Ablehnung des Richters Rottmann erscheint heute so dubios wie vor vierzig Jahren.
Wie Rottmann selbst über die Sache gedacht hat, weiß ich nicht. Ich bin ihm nie begegnet. Joachim Rottmann ist, wie das BVerfG heute mitgeteilt hat, am 11. November im Alter von 89 Jahren verstorben.
Das Grundvertragsurteil und die Befangenheit Rottmanns sind – über die sehr heikle und extrem parteipolitisch aufgeladene Materie hinaus – wichtige Ereignisse in der Geschichte des BVerfG:
Die Bayerische Staatsregierung unter Alfons Goppel reichte erst auf massiven Druck des CSU-Vorsitzenden Strauß (der sich dazu eigens zu einer Kabinettssitzung in München einlud und widerstrebende Kabinettsmitglieder weichklopfte) zustande – mir ist kein ähnlicher Fall bekannt.
Die Befangenheitserklärung ausgelöst hat ausgerechnet die Indiskretion des hochrangigen NPD-Funktionärs Wilhelm Gutmann (Ex-MdL, Ex-Bundesvize; Person und dessen Funktionen waren Rottmann unbekannt) gegenüber der WELT – entschieden über die Befangenheit haben ausgerechnet die vier konservativen Senatsmitglieder mit den drei verbliebenen Sozialliberalen in der Minderheit.
Es war übrigens in dieser aufgeheizten politischen Situation, als die FAZ (27.6.1973) den angeblichen Spruch aus Bonner Regierungskreisen kolportierte, “man werde sich nicht von den acht Arschlöchern in Karlsruhe die Ostpolitik kaputtmachen lassen” (Für die häufig verbreiteten Behauptungen, der Urheber sei Ehmke oder Wehner gewesen, gibt es m.W. keinen Beleg).
Das Erstaunliche ist, dass die verbliebenen sieben Richter trotz der auch im Senat selbst vergifteten Stimmung zu einen – wenn auch holprigen – gemeinsamen Urteilsbegründung kamen. Ein Urteil, das nur von einer durch die Befangenheitserklärung Rottmanns zustande gekommenen Mehrheit getragen worden wäre, hätte nicht nur der Akzeptanz des konkreten Urteils, sondern darüber hinaus massiv dem Ansehen der Institution BVerfG geschadet.
Diese für die Geschichte des BVerfG zentrale Episode verdient endlich eine solide historische Aufarbeitung, die z.B. zu klären hätte, wie die Richter im Zweiten Senat trotz der intern schlechten Atmosphäre zu einer gemeinsamen Entscheidung kamen (hat womöglich informell Ernst Benda vermittelt?- eine Vermutung, für die ich freilich keinerlei konkreten Anhaltspunkte habe).
toller Text. Aber wo sind die versprochenen Reichsbürgerpostings ?
Professor Rottmann, für den ich nach seiner Karlsruher Zeit einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, konnte damit gut Leben. Er war sich der überwiegend politischen Wirkmächtigkeit des BVerfG bewusst, er bezeichnete es denn auch nicht als Gericht, sondern mehr oder weniger als ‘politische Schiedsstelle’. So sei er ‘politisch’ abgeschossen worden ….l