03 June 2016

Russland, der EGMR und das Wahlrecht für Strafgefangene

Einen Staat zu verpflichten, Strafgefangenen das Wahlrecht zu gewähren, verletzt dessen Recht auf Souveränität. Mit diesem Argument hat am 19. April das Verfassungsgericht der Russischen Föderation beschlossen, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Anchugov und Gladkov gegen Russland nicht vollstreckbar ist. Dieser Beschluss ist der erste seiner Art und löste eine heftige Diskussion in der russischen Gesellschaft, Politik sowie Wissenschaft aus. Während die einen ihn als “Bestandteil einer großen Katastrophe” bezeichnen, halten andere ihn für eine Absicherung des verfassungsrechtlichen Prinzips und der Gewährleistung der Rechtssicherheit.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Anchugov und Gladkov wurde bereits 2013 verkündet. Der EGMR entschied damals, dass Art. 32 (3) der russischen Verfassung, der den verurteilten Strafgefangenen das Wahlrecht entzieht, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Der EGMR begründete dies damit, dass die Beschränkung „zu allgemein, automatisch und unselektiv“ sei und trug den russischen Behörden auf, Strafgefangenen die Möglichkeit zur Teilnahme am Wahlprozess zu gewähren. Dabei ist zu bemerken, dass es schwierig ist, die Empfehlung des EGMR direkt umzusetzen, da eine Änderung des Art. 32 nach der russischen Verfassung nur dann möglich ist, wenn eine neue Verfassung verabschiedet wird.

Mit Beschluss vom 19. April hat das russische Verfassungsgericht die Vollstreckbarkeit des Urteils des EGMR für unmöglich erklärt, da Art. 32 (3) ein direktes Verbot bedeute und gleichzeitig ein Teil der russischen Verfassung sei, die nach Artikel 15 (1) die höchste juristische Priorität besitzt.

Nun kann man allerdings streiten, inwieweit dies auch im Verhältnis zum Völkerrecht gilt. Denn Artikel 15 hat auch noch einen Absatz 4, und dort heißt es: „ … falls ein völkerrechtlicher Vertrag andere Regeln als ein Gesetz festlegt, werden die Regeln des völkerrechtlichen Vertrages angewandt” (Artikel 15 (4)). Deshalb philosophiert man schon seit Jahrzehnten darüber, ob die Verfassung oder ein völkerrechtlicher Vertrag höhere Priorität besitzt. Nach dem Verständnis des Verfassungsgerichtshofs gilt Absatz 4 aber nicht für die Verfassung, da diese nicht irgendein Gesetz, sondern das Grundgesetz sei.

Die Vorgeschichte dieser Entscheidung beginnt im Juli 2015. Damals hatten 93 Abgeordnete der Staatsduma beantragt, dem Verfassungsgericht zu ermöglichen, die Urteile des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, wenn ihre Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention der russischen Verfassung widerspricht. In dem Antrag ging es nicht um einen konkreten Fall, sondern um die abstrakte Normenkontrolle. Daraufhin hat das VerfG RF durch eine Gesetzesänderung die neue Befugnis bekommen, die EGMR Urteile für vollstreckbar oder unvollstreckbar zu erklären.

Zu den Motiven der Abgeordneten gibt es unterschiedliche Meinungen. Manche weisen darauf hin, dass es neben dem oben genannten Fall Anchugov und Gladkov auch noch ein anderes, für Russland höchst unangenehmes Urteil des Straßburger Gerichtshofs gegeben hatte, nämlich im “Yukos-Prozess“ zu Gunsten der ehemaliger Aktionäre des russischen Ölkonzerns, der auch durch die Gefängnishaft des Vorstandvorsitzenden und Putin-Kritikers Michail Chodorkowski bekannt geworden ist. In diesem Urteil wurde Russland verpflichtet 1,86 Mio EUR an die Aktionäre von Yukos auszuzahlen.

Es scheint aber auch denkbar, dass Russland sich bewusst über die internationale Judikative hinwegsetzt. Dafür spricht, dass das Gesetz dem Verfassungsgericht die Befugnis überträgt, nicht nur die EGMR-Entscheidungen zu beurteilen, sondern auch die von allen internationalen Gerichtshöfen.

Ähnliche Diskussionen gab es auch schon früher nach dem Urteil im Fall Markin gegen Russland, wo es um Elternzeit für Soldaten ging. Dieses Mal wurde ausgerechnet die Sache Anchugov und Gladkov dafür ausgewählt, um die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Strafgefangene bilden eine besondere soziale Gruppe, die vom Rest der Gesellschaft negativ bewertet wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gesellschaft die Verletzung ihrer Rechte eher billigt als die gegen die Rechte anderer sozialen Gruppen. So betont der russische Verfassungsgerichtshof im Punkt 1.1. seines Beschlusses ausdrücklich die Schwere der Verbrechen von Anchugov und Gladkov.

Wie ist das Urteil des EGMR vollstreckbar?

Im Kaleidoskop der Meinungen und Vorschläge sind sich aber Richter, Journalisten und Rechtswissenschaftler darüber einig, dass die Folgen des Vorhabens, die Verfassung zu ändern, schwer einzuschätzen sind.

Der Verfassungsrichter Sergej Kasantsev schlägt vor, die Europäische Menschenrechtskonvention direkt anzuwenden, da diese die Wahlrechte der Bürger in dieser einzelnen Sache mehr als die russische Verfassung schützt. Deshalb solle Russland das Urteil des EGMR umsetzen, obwohl der EGMR die Menschenrechtskonvention anderes als Russland interpretiert.

Der Verfassungsrichter Vladimir Yaroslavtsev ist der Meinung, dass die Verfassung zwar eindeutig regelt, wem das Wahlrecht entzogen wird, aber der Gesetzgeber berechtigt ist, dieses einzugrenzen, z.B. durch eine Auslegung der in Art. 32 (3) genannten Begriffe “Freiheitsbeschränkung”, “Gefängnis” und “Haft nach der Verurteilung”. Das ist deshalb möglich, weil sich die Fachwörter “Gefängnis” (imprisonment) und “Freiheitsbeschränkung” (deprivation of liberty by law) nach russischem Recht inhaltlich unterscheiden.

Hier ist noch etwas zu bedenken. Interessanterweise wurde der Art. 32 (3) bereits im Wahlrechtsgesetz im Jahre 2014 anders als im wörtlichen Sinne der Verfassung ausgelegt: die Verurteilten dürfen nicht nur während der Haftstrafe, sondern auch weitere 10 und in manchen Fällen auch 15 Jahre nach der Straflöschung nicht in die Staatsorgane gewählt werden.
Daraus könnte man schlussfolgern, dass, wenn es möglich ist, das Wahlrecht in dieser Weise einzuschränken, dasselbe ohne eine Verfassungsänderung auch in die andere Richtung möglich sein muss.

Die Sache Anchugov und Gladkov hätte Russland gut zur Verbesserung der Beziehungen zu Europa nutzen können. Das hat Russland aber nicht getan. Eine weitere Missachtung der EGMR-Urteile bestätigt nur seinen Ruf als autoritärer Staat.

Großbritannien, das sich seit Jahren weigert, das entsprechende Straßburger Urteil Hirst gegen Großbritannien umzusetzen, und auf das sich das Verfassungsgericht Russlands bezieht, genießt unterdessen den Ruf einer “Musterdemokratie” und bezieht daraus entsprechendes Selbstbewusstsein, sich aus Straßburg keine Belehrungen gefallen lassen zu müssen. Was Großbritannien nicht bedenkt, ist das Beispiel, das es damit für andere Länder in Europa setzt, deren Bürgerinnen und Bürger den Schutz der Menschenrechtskonvention vielleicht notwendiger brauchen als die Britinnen und Briten.


One Comment

  1. Stefan Höhne Mon 6 Jun 2016 at 09:44 - Reply

    ” In diesem Urteil wurde Russland verpflichtet 1,86 Mio EUR an die Aktionäre von Yukos auszuzahlen. ”

    Milliarden ?! Für “Mio” hätte sich die ursprüngliche Akkumulation der postsowjetischen Glücksritter doch nicht gelohnt.

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