18 January 2013

Sächsische Justiz räumt ein: Wahrheit interessiert uns nicht

Déformation professionelle und augenaushack-aversen Krähencorpsgeist gibt es überall. Aber was ich da im Sachverhalt dieser heutigen Kammerentscheidung aus Karlsruhe für heitere Begebenheiten aus der sächsischen Justiz zu lesen finde, das scheint mir schon einigermaßen unfassbar.

Es geht um ein Verfahren vor dem Landgericht Chemnitz, bei dem die Klägerin, ein Schweizer Unternehmen, einen Beweisantrag gestellt hatte, nämlich einen in der Schweiz wohnenden Zeugen zu laden und zu vernehmen. Der Einzelrichter hatte darauf offenbar überhaupt keine Lust und weigerte sich, den Beweisantrag überhaupt auch nur ins Verhandlungsprotokoll aufzunehmen, geschweige denn zu bescheiden. Die Klägerin insistierte erfolglos und erinnerte den Richter schließlich an seine Pflicht, die Wahrheit zu erforschen. Der Richter darauf wörtlich: „Die Wahrheit interessiert mich nicht.“

Das könnte man als in der Hitze des Verhandlungsgefechts unterlaufenen Ausrutscher vielleicht noch entschuldigen. Aber der Fall geht noch weiter. Die Klägerin beantragte daraufhin den Richter wegen Befangenheit abzulehnen. Dazu sah die Zivilkammer des LG Chemnitz aber überhaupt keinen Anlass: Dass einen Richter die Wahrheit nicht interessiert, gehe zwar irgendwie nicht, sei aber keine Beschwer für die Klägerin – weil das ja den Beklagten genauso belaste! Was im Übrigen der Richter ins Protokoll aufnehme und was nicht, sei in sein Ermessen gestellt, und außerdem (Zitat aus Sachverhalt BVerfG):

Verfahrensverstöße im Rahmen der Prozessleitung könnten nur dann die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn sie sich derart weit von dem geübten Verfahren entfernten, dass sich der Eindruck einer willkürlichen, sachwidrigen und auf Voreingenommenheit beruhenden Benachteiligung aufdränge, wofür es hier keinerlei Anhaltspunkte gebe.

Nächster Akt: Die Klägerin legte Rechtsmittel ein. Aber auch das OLG Dresden konnte keinen Fehl an dem Tun des Richters entdecken, vielmehr sei die Klägerin selber schuld:

Der abgelehnte Richter habe nicht seinem Amtseid zuwiderhandeln wollen, es sei vielmehr der Beklagtenvertreter (sic!) gewesen, der die Pflicht zur Wahrheitsfindung als Druckmittel dafür eingesetzt habe, um den abgelehnten Richter zur Anhörung des Zeugen zu bewegen. Mit der gerügten Äußerung habe sich der abgelehnte Richter dieser sachwidrigen Beeinflussung erwehrt.

Es muss schon ziemlich viel passieren, bevor ein abgelehnter Befangenheitsantrag als Verletzung des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter gewertet wird. Aber hier hatte die 3. Kammer des Ersten Senats damit überhaupt keine Probleme und nennt die Argumente des LG und des OLG „unvertretbar“ bzw. „nicht ansatzweise nachvollziehbar“.


12 Comments

  1. Heiner Groß Fri 18 Jan 2013 at 17:35 - Reply

    Der Schaden für die Glaubwürdigkeit der
    sächsischen Justiz ist durch diesen Skandal immens. Da auch das Dresdner OLG dem Richter Recht gab, kann man wohl nicht von einer unparteiischen Justiz, auch im Falle der Ermittlungen zum ” Sachsensumpf” und “Kinderbordell Jasmin” ausgehen.

  2. egal Sat 19 Jan 2013 at 11:17 - Reply

    Finden Sie die Überschrift nicht etwas reißerisch? Nur weil 3 Kammern bzw. Senate Mist bauen wird das auf die komplette Justiz im Freistaat bezogen. Das geht ja weiter als Sippenhaft…

  3. asta Sat 19 Jan 2013 at 13:07 - Reply

    Da hat er Recht, der Vorredner. Allerdings wäre die korrekte Bezeichnung “Die XY. Kammer des LG soundso räumt durch den Richter am LG soundso ein, dass sie die Wahrheit nicht interessiere” wohl einer wenig sperrig gewesen, nech?

    Möchte mir im Übrigen den Hinweis erlauben, dass es (in der Regel) in der Tat nicht die Pflicht eines Zivilrichters ist, die Wahrheit / den Sachverhalt zu erforschen. Und wäre jetzt nicht zumindest Frau Richterin Kessal-Wulff selbst mal erstinstanzliche Richterin gewesen, hätte ich das jetzt zum Anlass genommen, über die welt- und prozessfremde Sichtweise aus Karlsruhe zu schimpfen. So lass ich das aber. Stattdessen Folgendes: Karlsruhe macht das Interesse an der Wahrheit zu einer wesentlichen richterlichen Amtspflicht. Das ist zumindest schräg. Denn genau genommen ist ein Richter im Zivilrecht nämlich genau dann befangen, wenn er – losgelöst von Schlüssigkeit etc. – das zur Leitschnur des Prozesse macht. Dann müsste er nämlich in der Konsequenz Amtsermittlung betreiben, was er nicht darf. Auf die Spitze getrieben führt dies dazu, dass der Zivilrichter zwar verpflichtet ist sich für die Wahrheit zu interessieren, diese Interese aber keinerlei Außenwirkung haben kann und darf. Dies kann so nicht richtig sein.

    Und um der Klugscheißerei ein strahlenden Höhe- und Endpunkt zu verschaffen: Zeugen werden nicht angehört (so das BVerfG in seinem Beschluss), sondern vernomnen.

    • Maximilian Steinbeis Sat 19 Jan 2013 at 13:41 - Reply

      finde ich nicht. Das waren nicht irgendwelche random 3 Kammern oder Senate, sondern ein kompletter Instanzenzug, bis hoch ins OLG, die an dem Fall nicht nur keinerlei Problem zu entdecken vermochten, sondern sich dabei obendrein völlig halsbrecherischer Begründungen bedienten.
      Und zur Wahrheitsfindung: Es geht hier doch überhaupt nicht um Amtsermittlung, sondern um einen Beweisantrag, den der Richter sich weigerte zu protokollieren. Und natürlich hat auch im Zivilprozess den Richter die Wahrheit zu interessieren, das versteht sich doch von selbst. Das schwört immerhin jeder Richter in seinem Amtseid.

  4. schorsch Sun 20 Jan 2013 at 15:58 - Reply

    @asta: sie haben einen merkwürdigen wahrheitsbegriff. und irgendwie werd ich das gefühl nicht los, dass es der gleiche verquere wahrheitsbegriff ist, mit dem man im strafprozessrecht die beschuldigten auspeitscht. denen wird regelmäßig zum verhängnis, dass irgendwer von wirklich wahrer wahrheit faselt, die das eigentliche ziel des strafprozesses sei und sowieso gemeinsam mit der “materiellen gerechtigkeit” daher verfassungsrang habe, und damit die regeln der prozessordnung außer kraft setzt (bzw. aus ihrer missachtung keine konsequenzen in form eines beweisverwertungsverbotes ziehen will). sie machen das ganze andersrum. das zivilprozessrecht sei nicht der wahrheit verpflichtet, weil es ihre feststellung regeln unterwirft. das ist, mit verlaub, humbug. denn: was passiert ist, wissen wir im prozess nie. wie wir es rekonstruieren sagen uns stpo und zpo. daneben gibt es keine wahrheit.

  5. Noah Sun 20 Jan 2013 at 22:10 - Reply

    Ehrlicherweise muss man sagen, dass solche Leute im Richteramt nichts verloren haben…Und dass das (erfolglos!) durch drei Instanzen geht und das BVerfG die Sache gerade rücken muss, macht einem erhebliche Sorgen. Auf der anderen Seite stimmt es schon…je nach Situation kann dem Zivilrichter die Wahrheit ziemlich egal sein. VU, Präklusion usw. Das ist hier aber wohl nicht der Fall…Insofern geht das am Fall vorbei.

  6. M. Mon 21 Jan 2013 at 09:41 - Reply

    Ich möchte zu Protokoll geben, dass nicht alle sächsischen Richter so ticken. Aber das hilft uns hier jetzt wohl irgendwie auch nicht mehr weiter ;-)

  7. Aufmerksamer Leser Mon 21 Jan 2013 at 19:16 - Reply

    @schorsch: Die Idee, dass es keine Wahrheit gibt, nennt man erkenntnistheoretischen Relativismus. Wenn man den annimmt, gibt es keine unwahren Beschreibungen der Wirklichkeit mehr (zB. Hey, Schorsch, neben Dir steht ein Elefant), auch keine Naturwissenschaften mehr (was sollten die auch erforschen).
    Das meinst Du natürlich nicht, sondern Du meinst, dass man nie sicher sein kann, die Wahrheit sicher gefunden zu haben. Das ist schon besser. Nennt sich dann erkenntnistheoretisch kritischer Rationalismus.
    Der geht aber von der Wahrheit aus. Wie auch die Naturwissenschaften. Und die StPO: Man sucht die Wahrheit, versucht Fehler zu erkennen und ist sich bewusst, dass man nur den letzten Stand unwiderlegten Irrtums gefunden hat (jaja, Popper, Mülheim-Kärlich Entscheidung etc.).

    Also nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Wahrheit gibt es, in der Tasche haben wir sie aber nicht. Danach suchen sollte man schon. In der StPO.

  8. schorsch Mon 21 Jan 2013 at 19:41 - Reply

    bitte? soll das jetzt ein widerspruch sein? eine bestätigung? ich habe doch gar nicht geschrieben, dass es keine wahrheit gibt. es gibt eine prozessrechtliche wahrheit und (im prozessrecht) daneben keine andere – geschweige denn als rechtliches argument. im übrigen weiß ich ganz gut selbst, was ich meine.

  9. Aufmerksamer Leser Mon 21 Jan 2013 at 20:42 - Reply

    @schorsch: Du hast geschrieben “daneben gibt es keine wahrheit.”

    Das war nicht ganz richtig. Deswegen habe ich das korrigiert. Denn die Wahrheit gibt es “nur” daneben.

    Die StPO versucht, dem Richter zu ermöglichen, die wirkliche, echte (du weißt schon) Wahrheit zu erkennen (“Hat er die Oma beklaut?). Darauf ist die Prozessordnung ausgelegt. Was der Richter erkennt (“rekonstruiert”) ist entweder wahr oder unwahr, abhängig davon, ob er die Wahrheit getroffen hat. Ob es wahr oder unwahr ist, wissen wir aber erkenntnistheoretisch nicht sicher (hatte ich darauf hingewiesen). Dass ein Richter im Strafprozess etwas feststellt, ändert am Wahrheitswert nichts (wahr/unwahr). Klar. Sonst gäbe es ja keine Fehlurteile. Prozessual ist trotzdem Schluss, wenn die StPO nichts mehr dagegen hergibt. Deswegen ist es aber wichtig zu sehen, dass “die Wahrheit” außerhalb der Feststellungen liegt, sie ist der benchmark für den Wahrheitswert. Einverstanden? Ich denke schon…

  10. schorsch Mon 21 Jan 2013 at 21:14 - Reply

    okay, nochmal von vorn. eigentlich wollte ich auf folgendes hinaus: es ist mir unsympathisch, wenn man versucht die prozessrechtlichen regeln dadurch zu diskreditieren, dass man deine (wir sind ja jetzt per du) benchmark-wahrheit gegen sie ausspielt. dabei schien mir die annahme, der zivilrichter suche keine wahrheit, weil er sie nach bestimmten regeln sucht, irgendwie stammtisch-pessimistisch (“vor gericht und auf hoher see…”). und sie schien mir ein naher verwandter strafprozessualer argumentationsmuster zu sein, die da häufig die vermeintlich gefundene benchmark-wahrheit gegen die befolgung dieser regeln ausspielen. letzteres halte ich für unzulässig. sie setzt das beweisergebnis, das man gewinnen will, voraus. das prozessrecht kennt nämlich keine wahrheit jenseits des beweisergebnisses. oder: “daneben gibt es keine wahrheit.” bzw. daraufhin präzisiert: “es gibt eine prozessrechtliche wahrheit und (im prozessrecht) daneben keine andere.” ich bin gespannt auf deine übersetzung in theoriesprech.

  11. Aufmerksamer Leser Mon 21 Jan 2013 at 22:22 - Reply

    @schorsch: Es geht mir nicht um “Theoriesprech”, sondern um eine wichtige Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit “da draußen”, die man mittels Wahrheitssuche erforschen kann, und dem Ergebnis eigener (Forschungs-)Bemühungen (zB das, was ein Strafrichter im Tatbestand feststellt).

    Was juristische Prozesse liefern, sind Feststellungen, keine Wahrheiten. Diese Feststellungen können wahr sein oder unwahr. Insofern gibt es also nur die Benchmark-Wahrheit. Die “prozessuale Wahrheit” ist gar keine Wahrheit, sondern eine Feststellung, die wahr ist oder nicht.

    Der Umstand, dass Prozessordnungen Regeln dafür vorsehen, wie und was festgestellt wird, hat zunächst nichts mit der Wahrheit zu tun. Es sind Regeln für die Feststellungen. Aber die Regeln der Prozessordnungen wirken sich natürlich darauf aus, ob man die Wahrheit mit seinen Feststellungen trifft oder nicht.

    Dich scheint im Strafprozess, vermute ich, wohl die Durchbrechung von Beweisverwertungsverboten zu stören? Daran sieht man aber eigentlich ganz gut, dass es der Ermittlung der echten Benchmark-Wahrheit im Wege stehen kann, auf bestimmte Beweismittel verzichten zu müssen. Wenn man den einzigen Zeugen (aus welchen Gründen auch immer) nicht hören darf, wird die Wahrheit eben nicht festgestellt. Insofern sieht man eigentlich ganz gut, dass prozessuale Regeln wahrheitsgemäßen Feststellungen im Wege stehen KÖNNEN (müssen sie natürlich nicht). Umgekehrt führt nicht jede Durchbrechung von prozessualen Regeln dazu, die Wahrheit schneller/besser/zuverlässiger zu treffen.

    Jetzt noch ein Punkt: OB eine Prozessordnung überhaupt Interesse an der Erforschung der Wahrheit hat, ist eine davon verschiedene Frage. Für die StPO ist die Sache klar: “(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.”. Der Rechtsstaat will nur denjenigen ins Gefängnis stecken, der die Tat wirklich/echt/Benchmark-wahrheitsmäßig getan hat. Deswegen soll der Strafrichter die Wahrheit erforschen (nebenbei: damit hängt das Problem zusammen, das der Zweite Senat mit dem Deal hat).

    Im Zivilprozess sieht es etwas anders aus: Wenn der Kläger behauptet, der Beklagte schulde im 100 Euronen, und der Beklagte das auch so sieht, dann verurteilt der Rechtsstaat den Beklagten. Wahrheit hin oder her. Selbst wenn sich beide anschließend darüber kaputtlachen. Der Richter erforscht nicht die Wahrheit. Muss er nicht, interessiert hier auch niemanden. Insofern meinten die Sachsen (vermute ich mal), besonders clever zu sein und die Wahrheit insgesamt entsorgen zu können im Zivilprozess. Das war aber – so pauschal – auch nicht richtig, denn WENN Tatsachen streitig werden im Zivilprozess, geht es dem Rechtsstaat auch im Zivilprozess ein bisschen um die Wahrheit: Nämlich darum, eine belastende Entscheidung nicht auf eine falsche Tatsache zu stützen. deswegen muss der durch die Feststellung Begünstigte diese beweisen.

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