Schengen schlägt zurück!?
Die Rechtsgrundlagen für verdachtsunabhängige Personenkontrollen im Bundespolizeigesetz genügen für sich genommen nicht den Vorgaben des EU-Rechts. Sie sind zu unbestimmt und drohen daher zu einer Kontrollpraxis zu führen, die in ihrer Wirkung im Schengenraum verbotenen Grenzkontrollen gleichkommt, so der EuGH gestern Vormittag (Rs. C-9/16).
Anlass hierfür war ein etwas kurioses Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Kehl. Der Angeklagte in einem Strafverfahren hatte sich im Bahnhof von Kehl gewaltsam einer Ausweiskontrolle entzogen: als zwei Beamte der Bundespolizei gerade seine Personalien telefonisch mit den polizeilichen Datenbanken abgleichen wollten, hatte er mit einem Schlag versucht, seinen zuvor ausgehändigten Ausweis wieder zu erlangen und zu fliehen. Darauf folgte die Anklage wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB. Die Strafbarkeit müsse jedoch entfallen – so der Strafrichter –, wenn die Ausweiskontrolle rechtswidrig gewesen war, etwa wegen eines Verstoßes gegen die Vorgaben des Schengener Grenzkodexes. Dieses Verständnis des § 113 Abs. 3 StGB dürfte unter manchen Strafrechtlern zwar heftigen Widerspruch provozieren. Denn, soviel muss man den beiden Beamten der Bundespolizei zugute halten, der Wortlaut der beiden möglicherweise einschlägigen Ermächtigungsgrundlagen des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG sowie des § 22 Abs. 1a BPolG ermächtigt die Bundespolizei zunächst fraglos zu Ausweiskontrollen im Kehler Bahnhof, ohne dabei allzu offensichtlich rechtswidrig zu erscheinen. Was jedoch auffällt, ist die erstaunlich offene Formulierung der Eingriffstatbestände. Sie knüpfen nämlich weder an eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung an, noch machen sie genauere Vorgaben über die Häufigkeit, die Intensität und die Selektivität der Kontrollen. Im Gegenteil soll es bei § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG gar genügen, dass sich eine Person in einem Radius von 30 km zur Grenze befindet und dass die Bundespolizei der Zielsetzung nach im Rahmen ihrer Grenzschutzaufgaben oder „zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise“ handelt, um eine Identitätskontrolle zu rechtfertigen.
Die tatbestandliche Offenheit erkennt der EuGH nun als Problem. Denn infolge der Unbestimmtheit sowohl des § 22 Abs. 1a BPolG als auch des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG drohe eine Verwaltungspraxis, welche die gleichen Wirkungen wie Grenzkontrollen haben könne und somit gegen Art. 21 der VO 562/2006 (nunmehr Art. 23 der VO 2016/399) verstoße.
Was bis hier als ein selbstbewusstes Luxemburger Urteil erscheint, das den zuletzt doch deutlich unter Druck geratenen Schengener Grenzkodex stolz verteidigt, liest sich auf den zweiten Blick jedoch weit weniger mutig. Dies zeigt ein Vergleich mit der Leitentscheidung des Gerichtshofs aus dem Jahr 2010 im Fall Melki (verb. Rs. 188/10 und 189/10). Hier hatte der EuGH eine französische Vorschrift vorgelegt bekommen, die § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG überaus ähnlich war. Doch während der EuGH dort noch aus der Unbestimmtheit der französischen Regelung direkt die Unvereinbarkeit mit dem Schengener Grenzkodex herleitete, schiebt er die unliebsame Entscheidung jetzt an die Mitgliedstaaten zurück. Denn nunmehr trägt er dem Amtsgericht Kehl auf, nach möglichen ergänzenden Bestimmungen zu suchen, die das Bundespolizeigesetz weiter konkretisieren und somit einen hinreichend detaillierten Kontrollrahmen bereitstellen könnten. Dabei genügen dem Gerichtshof nun wohl auch bloße „Verwaltungsvorschriften“ und „Verwaltungserlasse“ (Rz. 60 f.), deren Beurteilung er jedoch den nationalen Gerichten überlassen will.
Dieses inkonsequent zurückhaltende Vorgehen irritiert. Denn zunächst versteht der Gerichtshof die gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen des Bundespolizeigesetzes und ihre konkretisierenden Verwaltungsvorschriften als rechtliche Einheit, die erst nach einer Gesamtbetrachtung den erforderlichen detaillierten „Rahmen“ für die Kontrolltätigkeit aufspannen muss. Sodann erklärt er sich jedoch lediglich zu den gesetzlichen Regelungen des Bundespolizeigesetzes, degradiert die letztlich entscheidungserhebliche Beurteilung etwaiger ergänzender Verwaltungsvorschriften hingegen zur Tatsachenfrage und überlässt sie so dem vorlegenden Amtsgericht. Der EuGH scheint dabei nach dem Grundsatz Quod non est in actis, non est in mundo zu verfahren. Er stellt sich teilblind, statt die Vorlagefrage im Hinblick auf die gesamte deutsche Rechtslage zu beantworten. Zwar ist es prozessrechtlich korrekt, Tatsachenfragen weitgehend dem nationalen Gericht zu überlassen. Doch handelt es sich hier wirklich um Tatsachen? Wohl kaum. Denn auch verwaltungsinterne Vorschriften bleiben Normen.
Nun könnte man sagen: Warum soll sich der EuGH im Detail mit deutschem Recht befassen, statt nur Hinweise zur Auslegung des EU-Rechts zu geben. Ist Letzteres nicht sein ureigener Auftrag? Ja und nein. Denn zwar darf der EuGH keine direkte Aussage darüber treffen, ob deutsches Recht mit dem Grenzkodex vereinbar ist. Er hat dieses Erfordernis aber in der Regel als Formalie interpretiert und sehr deutliche Hinweise gegeben, wie auch im gestrigen Urteil mit Blick auf die Normen des Bundespolizeigesetzes. Bei der abschließenden Gesamtbeurteilung versteckt sich der EuGH nun hinter einem etwas unklaren Kriterienkatalog für nationales Recht von „gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen“ einerseits und „Konkretisierungen und Einschränkungen, die die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Kontrollen bestimmen“ andererseits. Zwar ist es zutreffend, dass diese Kriterien an Wirkungen von Recht und damit an Tatsachen ansetzen, aber eben: an Wirkungen von Recht.
Damit sind wir nun kaum schlauer als zuvor. Wir wissen, dass das Bundespolizeigesetz allein nicht zu rechtmäßigen Kontrollen ermächtigt. Ob ergänzende Verwaltungsvorschriften bestehen, welche das bundespolizeiliche Entschließungs- und Auswahlermessen hinreichend vorstrukturieren, ist jedoch weiterhin offen. So kann die Bundespolizei auf der untergesetzlichen Ebene weiterhin experimentieren – sie bekommt ihre gesetzliche Kontrollbefugnis trotz unionsrechtlicher Unzulänglichkeit jedenfalls nicht völlig aus der Hand geschlagen.
Die Weigerung des EuGH, sich aus unionsrechtlicher Sicht final zu den bundespolizeilichen Identitätskontrollen zu positionieren, ist dabei noch aus einem anderen Grund zu bedauern, der ebenfalls mit der mangelnden Bestimmtheit der §§ 23 Abs. 1 Nr. 3 und 22 Abs. 1a BPolG zusammenhängt. Schon seit längerem wird kritisiert, dass tatbestandsoffene, verdachtsunabhängige Polizeiermächtigungen bewussten oder unbewussten Vorurteilen der Beamten Raum gäben und somit rechtsstrukturell ein verfassungswidriges Racial Profiling erst ermöglichten. Dieser Vorwurf trifft auch und gerade die genannten Vorschriften des Bundespolizeigesetzes und wurde zuletzt gar im Staatenbericht des UN-Komitees zur Abschaffung jeglicher Form von rassistischer Diskriminierung gegenüber Deutschland erhoben (siehe hier unter Punkt 11). Die Argumentation ist dabei im Ausgangspunkt derjenigen im heutigen EuGH-Urteil ganz ähnlich – mit dem Unterschied, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG an die Stelle des Verbots von Binnengrenzkontrollen tritt. Die im Einzelfall zweifellos rechtswidrige Rechtsanwendung durch die Exekutive – sei es die verbotene Grenzkontrolle oder die verbotene Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe – muss nicht etwa abgewartet, ihre systemische Potentialität kann vielmehr auch juristisch schon der unbestimmten Polizeiermächtigung entgegengehalten werden, die nur in unzureichendem Maße das Ihre tut, um eine rechtsstaatliche Polizeipraxis zu sichern. Das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot wird mit Blick auf spezifische Gefährdungslagen konkretisiert. Auch diesen Weg hätte der EuGH gehen können, etwa mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 der Grundrechtecharta. Auch das hat er gestern freilich verpasst.
Seit anderthalb Jahren befindet sich das Nachbarland Frankreich wegen zahlreicher islamischer Terroranschläge im Ausnahmezustand. Herr Macron ist übrigens gerade dabei diesen Ausnahmezustand zum Normalzustand zu machen. Tausende Talibankämpfer befinden sich nach Erkenntnissen deutscher Behörden in Deutschland. Dutzende Menschen wurden von illegal im Land befindlichen Migranten ermordet.
Das sind doch Zeiten in denen ein Amtsgericht nichts besseres zu tun hat als den _gewaltsamen_ Widerstand gegen eine Polizeikontrolle nach Möglichkeit straffrei zu stellen. Eine andere Absicht kann ich hinter dieser Anfrage nicht erkennen.
Was kommt als nächstes? Kontrollieren bald illegale Migranten die Polizisten?
Gegenüber europäischer Grenzfreiheit beziehen sich europäische Beschränkung von staatlicher Kontrolle zunächst nur auf den unmittelbaren Grenzbereich. Je weiter im Hinterland desto weniger im Hinblick auf allgemeine polizeiliche Kontrollbefugnisse. Grenzfreiheit müsste verhältnismäßig abwägend gegenseitg nachgebend in Ausgleich zu bringen sein mit Grundrechten innerer Sicherheit. Je weiter Kontrollen im Hinterland, desto größer grundsätzlich, bei gleichem Aufwand, Umgehungsmöglichkeiten. Kontrollen im Hinterland können danach bereits ein Minus für Interessen innerer Sicherheit gegenüber unmittelbaren Grenzkontrollen sein. Grenzfreiheit kann damit allein dagegen begünstigt sein. Verdachtsunabhängige Kontrolle kann grundsätzlich Gefahrerforschung und als solche dem Wesen nach bereits auf Ausnahmen beschränkt sein. Geforderte weitere Beschränkungen, etwa durch Ermessensbindungen, können danach, entgegen gebotenem Ausgleich mit Interessen innerer Sicherheit, unverhältnismäßig bleiben.
Für eine Annahme Widerstandes gegen die Staatsgewalt sollte, wie eventuell bereits angedeutet, nach vorherrschend geltendem deutschen Strafrecht europäische, verwaltungsrechtliche Rechtmäßigkeit weniger entscheidend sein.
gelöscht, off-topic, d.Red.
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