Schule als Markt staatlicher Bildungsangebote
Anmerkungen zum Beschluss des BVerfG vom 19. November 2021 („Bundesnotbremse II – Schulschließungen“)
Verfassung und Schule – bekanntlich ist das ein schwieriges Thema. Aufgabe der Verfassung ist es, allgemeine Regelungen über den Staat, über Freiheit, Gleichheit und die Voraussetzungen, ein gutes Leben zu führen, zu formulieren. Schule ist demgegenüber ein Raum, in dem in hochgradig spezifischen, auf die zu beschulenden jungen Menschen partikular ausgerichteten Strukturen versucht wird, Menschen zu „eigenverantwortlichen Persönlichkeiten“ zu machen. Das Grundgesetz stützt sich auf eine Subjekttheorie, der die Vorstellung eines auf selbstbestimmte Autonomie beruhenden Menschseins eingeschrieben ist. In der Sache geht es natürlich vor allem darum, junge Menschen so zu erziehen und zu bilden, dass sie einen Platz in der sozialen Gemeinschaft finden (Rdnr. 48, 54, 59), der zugleich gesellschaftlich nützlich und als individuell glückbringend angesehen wird. Es geht also darum, die jungen Menschen so zu erziehen, dass sie als Staatsbürger, Marktbürger, Kulturbürger etc. reüssieren, und zwar immer sowohl aus gesellschaftlicher Gesamtperspektive als auch aus der Perspektive des individuellen Selbstverständnisses. Durchdenkt man diese Aufgabe bis zum Ende, müsste eigentlich für jeden jungen Menschen ein besonderes, individualisiertes Programm erstellt werden. Praktische Gründe stehen dem entgegen, ebenso das Wissen darum, dass gemeinsames Lernen ein gewichtiges Element auf dem Weg der Herausbildung einer selbstbestimmten Persönlichkeit darstellt. In diesen Raum mit gesetzlichen Rechtsvorschriften einzugreifen, ist häufig schwierig, regelmäßig wenig zweckmäßig und gelegentlich sogar nachgrade schädlich. Eine verfassungsrechtliche Steuerung von Schule bereitet eher noch größere Schwierigkeiten. Gewiss: Verfassungsrechtlich unproblematisch ist es, die allgemeine Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung zwischen Gesetzgeber und Kultusverwaltung umzusteuern, etwa durch Wesentlichkeitsvorbehalte (z.B. Einführung des Sexualkundeunterrichts). Verfassungsrechtlich unproblematisch ist es auch, individuelle Willkür in der Schule zu bekämpfen, etwa im Fall einer willkürlichen Zugangsverweigerung oder einer willkürlichen Nichtversetzung in die nächste Klassenstufe. Die staatliche Verwaltung schulischer Angebote stand deshalb immer schon unter dem Gebot des Art. 3 GG. Bislang hielt sich das BVerfG allerdings vernünftigerweise zurück, staatliche Schulpolitik inhaltlich konstitutionalisieren und seiner Lenkung unterwerfen zu wollen.
Schon die Leitsätze des Beschlusses vom 19. November 2021 machen deutlich, dass sich dies ändern soll. Das neue „Recht auf schulische Bildung“ soll sich auf inhaltliche Organisations-, Gestaltungs- und Durchführungsaspekte beziehen. Das verdeutlicht vor allem der Umstand, dass das BVerfG dieses Recht sogleich wieder zusammenschneidet und wortreich begründet, was alles (bislang) nicht Gegenstand dieses Recht sein soll. Diese erste Kritik der Entscheidung ist von der These getragen, dass das BVerfG die Institutionen Schule und schulische Bildung in einer Weise konstruiert, die sowohl erziehungswissenschaftlich als auch verfassungsrechtlich fragwürdig ist.
1. Schule als Markt – schulische Pädagogik als Angebotsseite
Das BVerfG konstruiert Schule als Markt. Der Staat stellt in der Schule, so das BVerfG, „Bildungsleistungen“ (Rdnr. 52) oder „Bildungsangebote“ (Rdnr. 62) bereit, die die Schüler in Wahrnehmung des Rechts, „ihre Persönlichkeit mit Hilfe schulischer Bildung frei zu entfalten“, in Anspruch nehmen können (Rdnr. 62). Schule wird damit als Raum konstruiert, in dem sich zwei Seiten gegenübertreten – hier der Staat, der Leistungen einbringt, dort die Schüler, die auf der Grundlage von Rechten das Angebot konsumieren. Nach diesem Grundverständnis ist das neue „Recht auf schulische Bildung“ eine Art spezifischer Konsumentenschutz, so wie das BGB-Verbraucherschutzrecht einen bestimmten Kreis von Marktakteuren schützt.
Diese Sichtweise durchzieht den gesamten Beschluss. So hält das BVerfG der naheliegenden Möglichkeit, dass Schüler auf der Grundlage des neuen Rechts den Wunsch entwickeln könnten, frei wählen zu dürfen, welche Bildungsangebote sie in der Schule erhalten wollen, nicht etwa pädagogische Überlegungen entgegen, wonach ein schulischer Bildungsauftrag scheitern muss, wenn man den zu beschulenden jungen Menschen freie Wahlmöglichkeiten einräumt. Das BVerfG argumentiert vielmehr – ganz im Marktparadigma – allein damit, dass unbegrenzte Wahlfreiheit „angesichts der Vielfalt der Bildungsvorstellungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler … schlicht nicht umzusetzen“ wäre (Rdnr. 55). Das Gericht weist nicht die Vorstellung von Schulbildung als Auswahloption a limine mit einem pädagogischen Argument zurück, sondern argumentiert allein pragmatisch mit der Vielzahl der Verbraucherwünsche.
2. Entfaltungsmöglichkeiten der Schüler
Das Bundesverfassungsgericht konstruiert die Schüler nicht nur als Konsumenten, denen gegenüber Angebote bereit gestellt werden. Es konstruiert die Schüler – insofern konsequent – auch als Akteure, denen in der Schule eine „Entfaltungsmöglichkeit“ ermöglicht wird. Diese Entfaltungsmöglichkeit soll, so das Gericht, auf der Grundlage der „in jeder einzelnen Schule … nach Art, Inhalt und Umfang bestimmte(n) schulischen Bildung“ erfolgen (Rdnr. 63). Das Marktmodell wird hier dann enggeführt: Auf der einen Seite steht der Staat, der auf Angebotsseite auf der Grundlage schulorganisationsrechtlicher Entscheidungen „Bildung“ bereitstellt; auf der Marktgegenseite steht die Schülerin, die, so wörtlich, diese Bildung „wahrnimmt“ (so Rdnr. 63 am Ende). Das BVerfG scheint die Schüler damit in einem Raum zu verorten, in dem sie, als primär durch einen Selbstbestimmungsanspruch geprägte Subjekte, sich dadurch „verwirklichen“ oder „entfalten“, dass sie ein Wissens- und Unterrichtsangebot annehmen.
Das BVerfG rekonstruiert Bildung damit nicht als einen intersubjektiven Prozess, in den zwei Seiten in einen untrennbaren Interaktions- und Kommunikationsraum eingebunden sind. Es erkennt nicht, dass Bildung ein Prozess der Akkulturation ist, der von der Person des zu Bildenden schon grundsätzlich nicht zu lösen ist. Diese Aufspaltung des Bildungsgeschehens ist erziehungstheoretisch und kulturwissenschaftlich irrig. Irrig ist dann auch, der Schülerseite – ohne jeden erziehungswissenschaftlichen Bezug und ohne Einbindung in bildungstheoretische Überlegungen – eine unspezifische „Entfaltungsmöglichkeit“ zuzuschreiben. Schulische Bildung ist nicht unspezifische Entfaltung – so, wie man sie etwa im Bereich allgemeiner bürgerlicher Freiheit im öffentlichen oder auch privaten Raum konstruiert.
Grundrechtsdogmatisch ist es dann zwar einerseits konsequent, letztlich aber auch verfehlt, dass staatliche Maßnahmen der Schulorganisation als ein förmlicher Grundrechtseingriff in diese Entfaltungsmöglichkeit begriffen werden. Veränderungen des Bildungsangebots mögen dem Verfassungsauftrag des Art. 7 Abs. 1 GG genügen – oder auch nicht. Sie mögen erziehungswissenschaftlich gewinnbringend, neutral oder auch schädlich sein – sie lassen sich aber nicht über einen schülerischen Entfaltungswunsch erfassen und kritisieren. Letztlich gelingt dies auch dem BVerfG nicht: Denn nicht die schülerischen Entfaltungsmöglichkeiten bilden den Prüfstein dafür, was als Eingriff angesehen wird, sondern (dann doch) pädagogische Überlegungen: Das BVerfG geht ohne besondere Thematisierung dazu über, zwischen staatlichen Maßnahmen, die den Bildungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG von innen ausfüllen, und Maßnahmen, die ihn „gewissermaßen ‚von außen‘“ beeinträchtigen, zu unterscheiden (Rdnr. 63 am Ende, dort mit Anführungszeichen). Der Wechsel vom Präsenz- in den Distanzunterricht wird dann als nicht pädagogisch gerechtfertigt eingeordnet (Rdnr. 74 ff.).
Es deutet auf ein grundsätzliches Missverständnis hin, wenn das BVerfG Schule und schulische Pädagogik als „Angebot“ begreift. Es geht in der Schule vielmehr um strukturierte Sozialbeziehungen, in die die Schüler über die allgemeine Schulpflicht (zu Recht und mit guten Gründen) hineingezwungen werden und in denen sie (grundsätzlich ohne Wahl- und Ablehnungsmöglichkeiten) einem erziehungswissenschaftlich abgesicherten, gesellschaftlich vernünftigen und politisch legitimierten Bildungsprogramm unterzogen werden. Selbstverständlich ist dabei, dass dieses Programm so strukturiert sein und durchgeführt werden muss, dass es die heranwachsenden Menschen – in Abhängigkeit zum Alter – als junge Individuen respektiert, dass es (als Teil des pädagogischen Programms) die Selbstentfaltung fördern und die Identitätsformung unterstützen muss, ja dass es auch Anstoß zur Selbstentwicklung ist. Die Formulierung schulischer Bildungsprogramme, die die jungen Individuen integrieren, ist aber etwas ganz anderes als die Einordnung und Behandlung der Schüler als Rechtsträger, die mit einem „Angebot“ konfrontiert werden.
3. Verfassungsmaßstäbe für Mindeststandards schulischer Bildung?
Künftig werden sich Schüler im schulischen Raum nicht nur als Grundrechtsträger bewegen, die den selbstverständlichen Schutz jener Grundrechte genießen, die allen Menschen zukommen und deren Beachtung von einem vernünftigen Bildungsauftrag nicht ernstlich in Frage stellt werden kann: Unantastbarkeit des Körpers (Art. 2 Abs. 2 GG), Religions- und Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 4, Art. 5 GG), Gleichbehandlungsanspruch (Art. 3 GG) – die Liste ließe sich verlängern. Nein, sie haben jetzt auch einen Grundrechtsanspruch auf eine schulische Bildung, die ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit (hinreichend) fördert (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG). Die eigene Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zum Gegenstand eines Rechts zu machen, das sich gegen Dritte richtet, weist paradoxe Züge auf; der Schritt würde, was hier aus räumlichen Gründen nicht möglich ist, zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Theorie subjektiver (Verfassungs-)Rechte zwingen. Sicher ist jedenfalls, dass die Konstruktion subjektiver Rechte nur dort sinnvoll ist, wo ihr Inhalt ihrem Träger einen hinreichend greifbaren und konkreten Nutzen verspricht. Zwei Umstände lassen daran zweifeln, ob das neue Recht auf schulische Bildung hier mehr als nur marginalen Gewinn verspricht: die vom BVerfG gleich wieder vorgenommene Beschneidung und die Unbestimmtheit.
Das BVerfG geht davon aus, dass sich das von ihm entwickelte (derivative) Recht auf schulische Bildung grundsätzlich nicht auf organisationspolitische und finanzwirksame Grundentscheidungen (Struktur des Schulsystems etc.) erstreckt. Das Recht soll auch keine originären Leistungsansprüche auf Bereitstellung neuer schulischer „Bildungsangebote“ begründen (Rdnr. 52). Das BVerfG betont ausdrücklich, dass es sich nur um ein derivatives Teilhaberecht handelt (Rdnr. 58 ff.). Das Gericht verlangt allerdings, dass ein „unverzichtbarer Mindeststandard schulischer Bildung“ gewahrt sein müsse (so Leitsatz 3, Rdnr. 64). Auffällig ist, dass das BVerfG hier begrifflich nicht ganz kohärent ist: In Leitsatz 2a) und Rdnr. 57 ist von „unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten“ die Rede. Das ist offensichtlich eine Bedeutungsverschiebung. In Rdnr. 54 ist schließlich von der Einhaltung eines „unverzichtbaren Mindeststandards bei der staatlichen Gestaltung der schulischen Strukturen“ die Rede.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, wie sehr das BVerfG die Entscheidung mit Ausführungen dazu auflädt, dass staatliche Beschulung diskriminierungsfrei erfolgen muss. Das ist sicherlich ein wichtiges Anliegen; man fragt sich nur, warum das in einer Entscheidung zu corona-bedingten Maßnahmen im Maßstabsteil so herausgestellt wird, wenn es bei der Subsumtion dann keine erkennbare Rolle mehr spielt. In der Sache werden Rechtsprechungslinien zu Art. 3 GG künftig unter Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG behandelt werden können. Die gleichberechtigte Teilhabe an den staatlichen Bildungsangeboten wird schon lange über Art. 3 GG abgesichert. Der Zusatznutzen eines neuen (derivativen) Leistungsrechts ist insoweit aber nicht recht zu erkennen.
Einen echten Zusatznutzen verspricht das Recht, soweit es um den aus Art. 2 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG abgeleiteten Mindeststandard geht. Man ist gespannt, wie das BVerfG diesen Standard in künftigen Fällen rational fixieren wird. Schon mit Blick auf das wohl noch einfachste Kriterium, die Mindestunterrichtsstundenzahl im Jahr, gibt es keinen irgendwie unpolitisch-vernünftigen Maßstab dafür, was hier angemessen ist. Wie soll dies dann erst mit komplexeren (Teil-)Maßstäben möglich sein? Ob es ein echter Gewinn wäre, wenn das BVerfG künftig bildungspolitische Entscheidungen, über die man immer streiten kann, durch seine (ähnlich vernünftige) Sichtweise ersetzte, erscheint jedenfalls zweifelhaft. Manches spricht dafür, dass sich die Funktion des BVerfG im Bereich von Art. 7 GG auch künftig vor allem auf den Diskriminierungsschutz erstrecken wird.
Letztlich geht es dem BVerfG um eine Subjektivierung der in Art. 7 Abs. 1 GG begründeten objektiv-rechtliche Pflicht des Staates (ausdrücklich: Rdnr. 48). Man könnte kritisch einwenden, dass es sich damit um ein weitgehend entkerntes Recht handelt – nicht zuletzt wegen der tatbestandlichen Beschneidungen, die das BVerfG vornimmt (Hinweis auf staatliche Gestaltungsfreiheit (Rdnr. 55) und Konstruktion eines Vorbehalts des Möglichen (Rdnr. 56)). Kritisch anzumerken wäre aber vor allem, dass es sich letztlich um ein paradoxes Vorhaben des BVerfG handelt. Schülerinnen und Schüler werden das neue „Recht auf schulische Bildung“ vielfach gerade noch nicht als autonome Subjekte wahrnehmen können: Es geht ja gerade darum, sie erst zu selbstbestimmt handelnden Individuen zu machen. Auch künftig werden Gesetzgeber und Kultusbürokratie (Art. 7 GG), Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und BVerfG quasi über die Köpfe der Kinder hinweg über richtige und gute Beschulung verhandeln. Dies legt die Deutung nahe, dass es vor allem um die Schaffung eines Hebels geht, mit dem das BVerfG eine Aufsichtsfunktion über schulpolitische Entscheidungen erlangt. Wie groß der Gewinn ist, wenn künftig acht hochqualifizierte Juristinnen und Juristen (in ihrer Funktion als Richterinnen und Richter des BVerfG) eine Superaufsicht über richtige Schulpolitik führen, ist nicht absehbar. Absehbar ist, dass sie ihren Bildungsbegriff überarbeiten müssen, um einen solchen Anspruch richtig einlösen zu können.
4. Schule und Individualrechte
Die Entscheidung des BVerfG lässt nicht erkennen, dass sich die Richterinnen und Richter mit der Frage befasst haben, inwieweit die Textur staatlicher Bildung in der Schule dadurch verändert oder beeinträchtigt wird, dass in das Bildungsgeschehen subjektive Rechte eingepflanzt werden. Derartige Rechte wirken nicht nur (quasi von außen) auf das Schulgesehen ein, sondern verändern die Stellung der Betroffenen in den Prozessen sozialer Interaktion und Kommunikation, in denen die Erfüllung des Bildungsauftrags eingebettet ist. Im Jahr 2021 steht außer Frage, dass junge Menschen auch in der Schule Grundrechtsträger sind; und es ist damit auch klar, dass sie den Raum der Schule als Rechtssubjekte betreten. Das ist gut und als Teil des Bildungsprozesses unverzichtbar. Mit einer Ausweitung der Rechtstellung, vor allem in inhaltliche Bereiche hinein, verändert sich das, was kulturtheoretisch als Bildung begriffen wird – und zwar auch dann, wenn sich das BVerfG vielfach bemüht, die Implikationen dessen, was es gerade erzeugt hat, zu beschränken. Es ist eben ein grundsätzlicher Unterschied, ob in den schulischen Interaktionen Erzieherin und Lehrer auf einen Schüler treffen, den sie auf dem Weg in ein eigenes Leben begleiten, oder ob sie ein Recht eines Anspruchsinhabers im Markt erfüllen.
Über die vom BVerfG am 19. November 2021 bewirkte kulturtheoretische Rekonstruktion von Schule wird zu diskutieren sein.
Lieber Herr Professor Nettesheim,
vielen Dank für die instruktiven Ausführungen. Eine “Versubjektivierung” objektiven Rechts ließ sich ja bereits zu Art. 20a GG (bzw. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 1 S. 3 KSG) im “Klima”-Beschluss vor wenigen Monaten beobachten. Nun also auch ein maß- bzw. zusammengeschneidertes Recht auf schulische Bildung aus Art. 7 Abs. 1 GG.
Positiv formuliert, könnte man in diesem Trend vielleicht die Absicht einer stärkeren Demokratisierung (i.S.v. Rückanbindung durch Einklagbarkeit) staatlichen Handelns sehen, wie sie sich seit Maastricht im Hinblick auf Art. 38 GG immer wieder angedeutet hat. Hier wie dort muss man sich aber letztlich – wie Sie richtig sagen – die Frage stellen, ob man der Demokratie wirklich einen Gefallen tut, wenn am Ende ein paar Juristen in Karlsruhe die Superaufsicht über richtige Schul-, Klima- oder auch Geldpolitik für sich beanspruchen.
Herzliche Grüße
Fabian Heide
“Hier wie dort muss man sich aber letztlich […] die Frage stellen, ob man der Demokratie wirklich einen Gefallen tut, wenn am Ende ein paar Juristen in Karlsruhe die Superaufsicht über richtige Schul-, Klima- oder auch Geldpolitik für sich beanspruchen.”
Das sehe ich genauso. Bei diesen Themen wäre mehr richterliche Zurückhaltung angemessen. Letztlich gefährdet das Gericht auch seine breite Akzeptanz, wenn es sich zu weit in den politischen Bereich begibt und als “Superexperte” weitgehende inhaltliche Bewertungen vornimmt.
Lieber Martin,
danke für diesen gedankenreichen Text zum neuen Recht auf schulische Bildung; er schürft in allen Belangen tiefer als der Beschluss, der es gerade erfunden hat. Gerade weil dieses Recht aber in seiner Aus- und Durchbuchstabierung über den eigentlich Anlass der Corona-Krise weit hinausgeht, scheint es mir ohne diesen nicht wirklich erklärlich. Hier reagiert seine Kreation auf eine Linie der Kritik, die geltend gemacht hatte, dass mit Blick auf die angeordneten Beschränkungen zwar die Belange der Wirtschaft, nicht aber die Bildungsbelange der Kinder grundrechtlich abgebildet seien; vor den Schulschließungen war das ja kaum jemandem störend aufgefallen. Dieser Kritik kommt der Senat nun weit entgegen und gibt so den Betroffenen gleichsam ein Bonbon dafür, dass er sich nicht dazu aufraffen konnte oder wollte, die Schließungen für verfassungswidrig zu erklären. Dafür hätte es durchaus Argumente gegeben, etwa aus der Schwere der Beeinträchtigung; der Senat führt sie unter Rn. 136ff. ja auch allesamt auf, ohne dass man den Eindruck hat, es hätte sich auf das Ergebnis nennenswert ausgewirkt. Auch der Hinweis, bis zum April 2021 – nach einem Jahr Pandemie! – hätten sich keine Lösungen aufgedrängt, um Schulschließungen zu verhindern, nimmt die große Ausrede der Politik, man habe keine Zeit gehabt, sich auf die Situation angemessen vorzubereiten, doch sehr ergeben hin. Wenn es hart auf hart kommt, nützt den Schülern also das neue Recht nichts. Man kann das gut in den Ausführungen zum Distanzunterricht ablesen, den der Senat in Notfällen für eine ausreichende Kompensation des Wegfalls von Präsenzunterricht hält (Rn. 164ff.): Mit keinem Wort geht er hier auf das Problem der verschärften sozialen Segregation ein, also auf die Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die durch ihn noch weiter hinten herunterfallen, als sie es ohnehin schon tun. Man müsste dazu nur mal einen Lehrer aus einer Frankfurter Gesamtschule fragen, um zu erfahren, wie es ist, wenn sich vier oder fünf Kinder in beengten Wohnverhältnissen einen Computer teilen müssen, so ein solcher denn überhaupt vorhanden ist. Dass hier für das soeben formulierte Recht auf diskriminierungsfreie Teilhabe am Gesamtsystem Schule ein Problem liegen könnte, gerät einer bürgerlichen Mittelschicht, die für ihre Kinder gegebenenfalls einen Privatlehrer engagiert, um Bildungsausfällen vorzubeugen, erst gar nicht in den Blick. Man kann es deshalb auch so sagen: Geschützt vor Schulschließungen werden die Kinder allenfalls durch den derzeitigen gesellschaftlichen Konsens, dass die Schulen offen bleiben müssen oder jedenfalls das letzte sind, was geschlossen werden darf; gerade diesen Konsens bedient der Beschluss. Bricht er erneut weg, wird ihnen auch aus Karlsruhe keine Hilfe zuteil. Profitieren wird von diesem Recht künftig allenfalls das Gericht selbst.
In welchem Verhältnis stehen Grundrecht auf Bildung und Grundrecht auf Schule? Im Urteil steht, der Bundestag meine, das Verbot des Präsenzunterrichts sie ein Eingriff in das Grundrecht auf Bildung, und die Bayerische Staatsregierung meine, es könne dahinstehen, ob es ein grundrechtlich geschütztes Recht auf Bildung gebe. Mir scheint, das Urteil bezieht Stellung für die Postition der Beschwerdeführer darin, dass es sowohl ein Grundrecht auf Bildung als auch eins auf Schule anerkennt, und gleichzeitig folgt das Urteil den Einlassungen der Bayerischen Staatsregierung, die den Eingriff in das Grundrecht auf Bildung als gerechtfertigt ansieht durch die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben.