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30 November 2021

Schulschließung als Grundrechtseingriff

Zum Bundesnotbremsen-Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts

Eltern haben es schon lange gefühlt: Schulschließungen sind Freiheitseingriffe. Dass es sich, wenn man allein auf die Eltern blickt, tatsächlich nur um gefühlte Eingriffe handelt, hat das Bundesverfassungsgericht in einem der beiden heute veröffentlichten und mit Spannung erwarteten Beschlüsse deutlich gemacht. Zugleich hat es allerdings ein bisher so nicht gekanntes Recht der Schülerinnen und Schüler auf schulische Bildung aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 7 I GG abgeleitet und ein infektionsschutzrechtliches Verbot von Präsenzunterricht als Eingriff in dieses gewertet. Diesen Eingriff hielt es zwar im konkreten Fall (es geht in der Entscheidung um Maßnahmen aus dem Frühjahr) für verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Gleichwohl stärkt die Entscheidung im Ergebnis die Rechtsstellung pandemiegeplagter Familien, da es erstmals grundrechtliche Hürden für Schulschließungen aufstellt. Solche sind zwar aktuell auch nach der einfachen Gesetzeslage nicht ohne Weiteres zulässig, stehen aber als ein Instrument zur Pandemiebekämpfung nach wie vor im Infektionsschutzgesetz und könnten grundsätzlich sofort wieder beschlossen werden, wenn der Bundestag noch einmal das Bestehen einer sog. epidemischen Lage von nationaler Tragweite feststellen sollte.

An dem heute parallel veröffentlichten Beschluss zur sog. Bundesnotbremse dürfte viele Leser:innen überrascht haben, dass das BVerfG darin keine grundlegenden verfassungsrechtlichen Einwände gegen Ausgangssperren erhoben hat. Der Beschluss zu den Schulschließungen überrascht dagegen durch seinen verfassungsrechtlichen Maßstab. Denn Art. 7 I GG, der das gesamte Schulwesen der Aufsicht des Staates unterstellt, wurde bisher ganz überwiegend so verstanden, dass er gerade kein subjektives Recht der Schülerinnen und Schüler auf Bildung begründet, sondern eine rein organisatorische Vorschrift ist. In Art. 2 I GG und dem kindlichen Entfaltungsrecht wurden bisher zwar gelegentlich Elemente eines Grundrechts auf Bildung erblickt; die Qualität eines echten Abwehrrechts gegen konkrete Maßnahmen im Bildungsbereich gestanden Gerichte und Literatur diesen aber nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht, das die Frage nach einem Grundrecht auf Bildung bisher selbst offengelassen hatte, geht darüber nun klar hinaus: „Mit dem Auftrag des Staates zur Gewährleistung schulischer Bildung nach Art. 7 I GG korrespondiert“, so heißt es im heutigen Beschluss, „ein im Recht der Kinder auf freie Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 I GG verankertes Recht auf schulische Bildung gegenüber dem Staat“.

Dieses, man kann es so sagen: neue Grundrecht weist nach dem Beschluss „verschiedene Gewährleistungsdimensionen“ auf – Bildungsrechtler:innen werden an den über viele Randnummern gehenden Ausführungen, auch zu unions- und völkerrechtlichen Bezügen, sicher noch lange ihre Freude haben. Mit Blick auf die infektionsschutzrechtlichen Schulschließungen ist aber vor allem eine Dimension relevant, und das ist die Abwehrdimension, die es Schülerinnen und Schüler erlaubt, sich gegen staatliche Maßnahmen zu wehren, die ihr Recht beeinträchtigen, „ihre Persönlichkeit mit Hilfe schulischer Bildung frei zu entfalten“. Werde diese „spezifisch schulische Entfaltungsmöglichkeit durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt“, liege „darin – wie bei Beeinträchtigungen anderer Grundrechte auch – ein Eingriff“.

Zwar soll das – übrigens unabhängig von der Schulpflicht bestehende – Abwehrrecht der Schülerinnen und Schüler nicht so weit reichen, dass es gegen etwa aus finanziellen Gründen getroffene Maßnahmen „zur Änderung schulischer Strukturen“ schützen könnte. Sehr wohl schützt es aber gegen Maßnahmen, die die Ausübung des Rechts auf schulische Bildung einschränken, „das vom Staat zur Wahrnehmung dieses Rechts bereitgestellte Schulsystem selbst jedoch unberührt lassen“. Und genau um eine solche Maßnahme handelt es sich bei dem zu außerschulischen Zwecken ergriffenen, infektionsschutzrechtlich begründeten Verbot von Präsenzunterricht.

Der in diesem Verbot liegende Eingriff in das Grundrecht der Schülerinnen und Schüler war zwar, wie das BVerfG ausführt, in diesem Fall verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Durchgreifende Bedenken hat das Gericht weder mit Blick auf die Gesetzgebungskompetenz (es ging nicht um Schulen = Länderkompetenz, sondern um Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten = Bundeskompetenz, Art. 74 I Nr. 19 GG), noch mit Blick auf das Gesetzgebungsverfahren (einer Zustimmung des Bundesrates hat es nicht bedurft). Und schließlich sieht es auch in materieller Hinsicht keinen Verstoß gegen die Verfassung: Der Gesetzgeber habe mit der Anordnung eines an das Überschreiten bestimmter Inzidenzwerte gekoppelten Wegfalls von Präsenzunterricht verfassungsrechtlich legitimen Zwecke verfolgt. Konkret habe die Maßnahme dazu gedient, „Infektionen zu verhindern, um so einen Beitrag zum Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems zu leisten“. Um diesen Zweck zu erreichen, sei die Maßnahme im verfassungsrechtlichen Sinne auch geeignet und erforderlich gewesen, und schließlich sei durch sie auch „ein seinerzeit angemessener Ausgleich zwischen den mit der Maßnahme verfolgten Gemeinwohlbelangen und der Grundrechtsbeeinträchtigung der Schülerinnen und Schüler erzielt“ worden.

Auch wenn aber das Bundesverfassungsgericht damit die bisherigen Schulschließungen nicht beanstandet, erteilt es für künftige keinesfalls einen Freifahrtschein – im Gegenteil. Seine Ausführungen einfach auf künftige Situationen zu übertragen, verbietet sich schon deshalb, weil das Gericht immer wieder die jeweils zeitgebundene Sach- und Erkenntnislage für maßgeblich erklärt (siehe insofern auch das leicht zu überlesende, aber doch wichtige Wörtchen „seinerzeit“ im letzten Satz des voranstehenden Absatzes). Obendrein stärkt es das Argument für offene Schulen mit der Aussage, dass das Verbot von Präsenzunterricht „schon für sich genommen“, „erst recht“ aber „wegen der kumulativen Wirkung aller seit Beginn der Pandemie erfolgten Schulschließungen eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Rechts auf schulische Bildung der Schüler“ darstellt, und indem es über mehreren Randnummern den Forschungsstand zu den negativen Wirkungen der Schulschließungen zusammenträgt.

Schließlich lässt sich aus den Ausführungen des BVerfG auch schließen, dass Präsenzunterricht aus Infektionsschutzgründen jedenfalls nicht einfach so, sondern nur gestrichen werden darf, wenn eine Notbetreuung gewährleistet ist und Distanzunterricht stattfindet. Vor vorschnellen Schulschließungen werden die Verantwortlichen künftig erwägen müssen, dass diese mit hohen Kosten und viel Aufwand verbunden wären und ggf. auch an den nur begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen scheitern können. Denn laut BVerfG besteht eine „Pflicht der Länder zur Gewährleistung von Distanzunterricht als Ersatz für wegfallenden Präsenzunterricht“, und „aus dem grundrechtlich geschützten Recht auf schulische Bildung“ folgt – wow! – ein „Anspruch der einzelnen Schülerinnen und Schüler auf Durchführung von Distanzunterricht“.

Ob den Schülerinnen und Schülern ihr Recht auf Bildung in den kommenden Wochen und Monaten effektiv zugutekommt und Eltern wirklich aufatmen können, erscheint allerdings trotz des Beschlusses fraglich. Die Inzidenzen sind so hoch wie nie, und gerade in der Altersgruppe der Kinder ist die Infektionslage dramatisch. Selbst wenn Schulen nicht geschlossen werden und nicht auf Wechselunterricht umgestellt wird, sind Kinder deshalb ständig von einer – bisher in aller Regel distanzunterricht- und entsprechend bildungsfreien – Ketten-Quarantäne bedroht. Die Autorin dieses Beitrags ist selbst gerade einmal wieder in Wartestellung: In der Klasse ihres Kindes gab es heute Morgen einen positiven Schnelltest; das Ergebnis des PCR-Tests steht noch aus. Was Schülerinnen, Schülern und ihren Eltern in der akuten Lage wirklich helfen würde, wären niedrige Inzidenzen.


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