Schulschließung ist nicht gleich Schulschließung
Mit ihrer ersten Änderung des IfSG im November hat die Ampel-Koalition Schulschließungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für die Zukunft ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund steigender Infektionszahlen haben einige Bundesländer in den letzten Tagen jedoch angekündigt oder überlegt, dieses Jahr die Weihnachtsferien um einige Tage vorzuziehen oder im Januar zu verlängern (vgl. zur Diskussion auch hier, hier und hier). Damit sind Folgen verbunden, die ein Überdenken der aktuellen Regelung im IfSG notwendig machen: Denn während Schulschließungen nach dem IfSG in der Sache Distanzunterricht bedeuten, fällt der Unterricht in den „Corona-Ferien“ aus.
Schulschließungen wurden bislang mehrmals zur Eindämmung der Corona-Epidemie genutzt: Gestützt auf das IfSG kamen sie im 1. Lockdown im Frühjahr 2020, Anfang des Jahres 2021 und während der „Bundes-Notbremse“ im April und Mai 2021 jeweils wochenlang zum Einsatz. Vor einem Jahr verlegten die Bundesländer, in denen die Ferien erst am Mittwoch, 23.12.2020, beginnen sollten, außerdem den Ferienbeginn auf den 21.12. Ob bzw. unter welchen Bedingungen Schulen geschlossen werden sollten wegen eines Virus, bei dem Kinder nicht zu den Risikogruppen gehören, ist politisch umstritten. Es soll im Folgenden nicht um die Frage gehen, bei welchem Infektionsgeschehen Schulschließungen grundsätzlich gerechtfertigt sein können. Es sollen keine Studien eingeordnet werden, die sich mit den Fragen befassen, in welchem Umfang Schulschließungen Infektionen verhindern und in welchem Umfang Kinder unter Schulschließungen leiden. Dieser Beitrag geht vielmehr von dem Umstand aus, dass die Bundesländer Schulschließungen für notwendig erachten und sie in Form von Ferien einsetzen, wenn ihnen der Bund Schließungen nach dem IfSG verbietet.
Schulschließungen sind keine Schließungen nach dem IfSG
Seit November 2020 ermöglicht § 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG – vorausgesetzt, der Bundestag hat die epidemische Lage von nationaler Tragweite gem. § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG festgestellt – die „Schließung“ von Schulen bzw. die „Erteilung von Auflagen für die Fortführung des Betriebs“. Da in dieser Vorschrift auch Kitas erwähnt werden, muss man für Schulen differenzieren: Während Kitas (abgesehen von einer Notbetreuung) tatsächlich in der Vergangenheit geschlossen wurden, gingen Schulen in den Distanzunterricht – sie wechselten den Unterrichtsmodus. Schulen werden also iSd § 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG bei genauer Betrachtung nicht geschlossen, bei Wechsel- und Distanzunterricht handelt es sich vielmehr um „Auflagen“.
Besondere Voraussetzungen mussten laut IfSG (anders als für nächtliche Ausgangssperren und Versammlungsverbote, vgl. § 28a Abs. 2) nie für solche „Schulschließungen“ vorliegen. Insofern gewichtete § 28a IfSG die Belange von Kindern und Jugendlichen falsch (dazu auch schon hier), weil Schulschließungen als eine mögliche, austauschbare Maßnahme unter vielen erschienen.
Keine Schulschließungen mit der Ampel-Koalition
Die Ampel hat nun verkündet, dass es mit ihr keine Schulschließungen mehr geben wird. In § 28a Abs. 7 und 8 IfSG, der seit dem Auslaufen der epidemischen Lage Ende November die zentralen Ermächtigungsgrundlagen für die Länder enthält, sind Schulschließungen als zulässige Maßnahmen nicht aufgeführt. § 28a Abs. 8 S. 1 Nr. 7 IfSG schließt „die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33“ IfSG sogar ausdrücklich aus. Nun könnte man zwar auf den Gedanken kommen, dass damit nicht die Anordnung von Distanzunterricht (als bloße Auflage) gemeint ist, zur Klarstellung wurde nach der Sachverständigenanhörung am 15.11.2021 in die Begründung jedoch noch der Satz aufgenommen, dass „keine Aussetzung des Präsenzunterrichts festgelegt werden“ dürfe. Auch wenn der Wille des Gesetzgebers klar wird, ist der Gesetzeswortlaut bemerkenswert unpräzise bzw. passt nicht zum verbreiteten Verständnis des § 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG.
Den Ausschluss von Schulschließungen durch den Bund könnte man nun so verstehen, dass er den Präsenzunterricht höher gewichtet als die Offenhaltung der Lebensbereiche, die Erwachsene betreffen. Maßnahmen müssten konsequenterweise so gegenüber Erwachsenen ergriffen werden, dass Schulschließungen nicht notwendig werden; dazu gehörte es auch, die Schulen (etwa durch Maskenpflicht und Luftfilter) sicher zu machen. Gezwungen werden die Länder dazu aber nicht; durch ein entsprechendes Untätigbleiben der Länder könnten Schulschließungen irgendwann schlicht deswegen notwendig werden, weil man die Kinder anders nicht mehr schützen kann. Das Problem können die Länder dadurch entschärfen, dass sie die Präsenzpflicht aussetzen – oder eben die Schulferien verlängern.
Die Festlegung der Schulferien ist Teil der Bildungspolitik und fällt in die Hoheit der Länder. Für den Infektionsschutz wiederum steht dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zu. Das BVerfG hat in seinem Bundesnotbremse-II-Beschluss klargestellt, dass Regelungen, die den Infektionsschutz in Schulen betreffen, nicht zum Schulrecht, sondern zum Infektionsschutzrecht gehören; der Bund darf somit im IfSG Schulschließungen (bzw. das „Verbot des Präsenzunterrichts“) regeln, wenn dadurch Übertragungen eines Krankheitserregers verhindert werden sollen (Rn. 86). Das Verbot der Schulschließung in § 28a Abs. 8 IfSG umgehen nun die Länder, wenn sie aus Gründen des Infektionsschutzes die Schulferien vorziehen oder verlängern.
Folgen verlängerter Ferien für die Eltern
Die Eltern der Kinder, deren Betreuung in der Schule ausfällt, haben – wenn sie und das Kind gesetzlich krankenversichert sind – einen Anspruch auf Kinderkrankengeld nach § 45 Abs. 2a SGB V. Beim Kinderkrankengeld handelt es sich um einen Entgeltersatz, der mit einem Anspruch der Eltern gegenüber ihrem Arbeitgeber auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitsleistung verbunden ist (§ 45 Abs. 3 SGB V). Eigentlich ist Voraussetzung des Kinderkrankengeldanspruchs, dass die Eltern wegen Erkrankung des Kindes der Arbeit fernbleiben (§ 45 Abs. 1 SGB V). Im letzten Winter wurde mit § 45 Abs. 2a SGB V eine Sonderregelung für die Corona-Pandemie geschaffen, die nicht an eine Erkrankung des Kindes, sondern an den Wegfall der Betreuungsmöglichkeit anknüpft (und deswegen sozialrechtlich eine versicherungsfremde Leistung darstellt). Sie wurde erst kürzlich bis 19.3.2022 verlängert.
Diese Sonderregelung kommt nicht nur bei Schulschließungen nach dem IfSG, sondern auch bei „Schulferien“ zum Tragen, die „aus Gründen des Infektionsschutzes“ angeordnet werden (§ 45 Abs. 2a S. 3 SGB V). Aus den gleichen Gründen steht Eltern grundsätzlich gem. § 56 Abs. 1a S. 1 Nr. 1, S. 5 IfSG ein Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls zu, bei gesetzlich Krankenversicherten geht der Anspruch nach § 45 Abs. 2a SGB V allerdings vor (§ 45 Abs. 2b SGB V).
Eine Begründung für die Formulierung „Schulferien aus Gründen des Infektionsschutzes“ findet sich in den Gesetzesmaterialien (zu beiden Gesetzen) nicht. Der Zeitpunkt der Gesetzesänderungen (Mitte Dezember 2020 bzw. Januar 2021) spricht aber dafür, dass damit nichts anderes als vorgezogene bzw. verlängerte Schulferien gemeint sind, die von den Ländern angeordnet werden, um entweder eine Art „Vorquarantäne“ z.B. vor Weihnachten zu ermöglichen oder um nach einem entsprechenden Ereignis Kontakte zu reduzieren, damit Infektionsketten gar nicht erst entstehen. Dies ist insofern bemerkenswert, als damit vom Bund anerkannt wird, dass es solche verlängerten „Corona-Ferien“ – also Schulschließungen aus Infektionsschutzgründen außerhalb des IfSG – überhaupt gibt.
Folgen verlängerter Ferien für die Kinder
Die Eltern sind somit finanziell (wenn auch in begrenzter Höhe, vgl. § 45 Abs. 2 S. 3 SGB V, § 56 Abs. 2 IfSG) abgesichert, wenn sie wegen der „geschlossenen“ Schulen nicht arbeiten können – egal ob es sich um eine Schulschließung nach dem IfSG oder eine Schließung in Form von Corona-Ferien handelt. Aus Sicht der Kinder hingegen macht die Rechtsgrundlage einen großen Unterschied: Ferien bedeuten, dass kein Unterricht stattfindet; Schulschließungen nach dem IfSG bedeuten Distanzunterricht. Dieser Unterschied stellt – gerade vor dem Hintergrund, dass das BVerfG vorletzte Woche ein Recht auf schulische Bildung aus Art. 7 Abs. 1 iVm Art. 2 Abs. 1 GG anerkannt hat (Rn. 44) – den Ansatz des Bundes in Frage. Kann es wirklich richtig sein, Schulschließungen aus dem IfSG-„Instrumentenkasten“ der Länder herauszunehmen, wenn dies dazu führt, dass die Länder trotzdem die Schulen schließen und dann sogar der Unterricht ausfällt?
Wenn schon das Verbot von Präsenzunterricht nach dem IfSG einen Eingriff in das bestehende Bildungsangebot zu außerschulischen Zwecken darstellt, das die spezifisch schulische Entfaltungsmöglichkeit der Schüler:innen einschränkt (so das BVerfG vorletzte Woche, Rn. 76), gilt das erst recht für Schulferien, die „zu außerschulischen Zwecken“ angeordnet werden und keinen Ersatzunterricht mit sich bringen. Das BVerfG erachtete die Schulschließungen im Frühjahr u.a. auch deshalb nur für verhältnismäßig, weil damals die Durchführung von Distanzunterricht gewährleistet war (Rn. 164). Darauf hatte der Bund jedoch keinen Einfluss – das BVerfG sieht hier allgemein die Länder in der Pflicht, auch wenn nicht sie es waren, die die Schulschließung angeordnet hatten. Die Situation liegt bei vorgezogenen Ferien nächste Woche in Form weniger Tage natürlich insofern anders, als dieser überschaubare Zeitraum nicht mit der Dauer der Bundesnotbremse (oder auch der Dauer der Schulschließungen Anfang des Jahres und im Frühjahr 2020) vergleichbar ist. Möglicherweise ist der „unverzichtbare Mindeststandard von Bildungsleistungen“, von dem das BVerfG spricht, noch nicht unterschritten, wenn die Ferien nur um ein paar Tage vorgezogen werden, und die Länder sind noch nicht nach Art. 7 Abs. 1 GG dazu verpflichtet, „Präsenzunterricht möglichst durch Distanzunterricht zu ersetzen“ (Rn. 170). Bildungspolitisch sollte aber die Formel gelten: wenn schon Schulschließungen, dann nur in Form von Distanzunterricht.
Konkrete Regelungen im IfSG und flankierende Maßnahmen
Es könnte also geboten sein, das grundsätzliche Schulschließungsverbot des § 28a Abs. 8 IfSG noch einmal zu überdenken. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist kein Plädoyer für Schulschließungen. Vorzugswürdig gegenüber der jetzigen Rechtslage erscheint aber eine Lösung, die Schulschließungen (in Form von Distanzunterricht) unter bestimmten – sehr engen – Voraussetzungen erlaubt. Nicht zuletzt der Schutz der Kinder selbst könnte als Ziel größere Bedeutung erlangen (und im Gesetz verankert werden), wenn sich erste Erkenntnisse als belastbar erweisen, die eine höhere Hospitalisierungsrate von Kindern bei der Omikronvariante beobachten.
Je konkreter der Bund die Voraussetzungen und die einzelnen Rechtsfolgen wie Wechsel- und Distanzunterricht fasste, desto mehr erhielte er die Entscheidungshoheit über Schulschließungen zurück. Gleichzeitig müssten flankierende Maßnahmen in den Schulen bzw. zur Unterstützung der Familien ergriffen werden, so dass der Distanzunterricht auch wirklich qualitativ hochwertig ist und alle Kinder erreicht. Dies kann in vielen Aspekten nur in Kooperation mit den Ländern gelingen. An anderer Stelle hat es der Bund in der Hand, die Schulen sicherer (und Schließungen ggf. überflüssig) zu machen: etwa durch eine Impfpflicht auch für das Personal an Schulen, die die Unionsfraktion letzten Freitag im Bundestag vorgeschlagen und die die Ampel abgelehnt hat.
„flankierende Maßnahmen zur Unterstützung der Familien“ – was könnte damit gemeint sein? Der wirklich eklatante Mangel an Ausstattung zum digitalen Lernen lag auf Seiten der Schulen. Außerdem macht aber eine Internetverbindung, ein Endgerät oder eine Lernplattform allein noch keinen digitalen Unterricht aus, wenn dieses Equipment nur zum Versenden von (Haus-) Aufgaben zwischen Schule und Schülerschaft genutzt wird. Vor allem Grundschüler können noch kaum selbständig Aufgaben bearbeiten, insbesondere diese nicht selbst einteilen, sich neuen Stoff in Aufgaben erarbeiten oder Erfolgskontrollen eigenständig durchführen.
Wenn wieder Familienmitglieder als eine Art pädagogische Unterrichtshilfe eingespannt werden sollen (und das schwingt bei der Formulierung der „flankierenden Maßnahmen zur Unterstützung der Familien“ mit), kommt das Schulverhältnis durcheinander. Erziehungsberechtigte haben im Schulverhältnis nämlich nicht die Verpflichtung, an der staatlichen Aufgabe des Unterrichtens mitzuwirken. Ihnen kommt vornehmlich die Aufgabe zu, ein Kind an einer Schule anzumelden und für dessen regelmäßigen Schulbesuch zu sorgen. Außerdem sollte zu Hause ein dem Schulverhältnis förderliches Umfeld geschaffen werden.
Mit der Bereitstellung von digitaler Ausstattung und einem ruhigen Arbeitsplatz wäre diese Pflicht der Eltern erfüllt. Alles weitere ist eine Angelegenheit des Staates und nicht der Familien.