Schutzverpflichtungen aus dem Infektionsschutzgesetz
Warum Landesregierungen und Gesundheitsämter bei Überschreitung der gesetzlichen Schwellenwerte die Corona-Bekämpfungsmaßnahmen verschärfen müssen
Trotz steigender Inzidenzen wollen Bund und Länder in der Hoffnung auf Schnelltests und Impfstoffe die Maßnahmen der Pandemiebekämpfung weiter schrittweise lockern. Ob dies nachhaltig einen Weg in die Normalität weist, ist ungewiss. Die wissenschaftliche Politikberatung hält auch andere Konzepte bereit. In der politischen Debatte diskutiert man die unterschiedlichsten 7-Tages-Inzidenzwerte – 50, 100 und sogar 200 –, die dem Infektionsschutzgesetz so nicht zu entnehmen sind. Vielmehr nennt § 28a III IfSchG die Schwellenwerte 50 und 35. Bei genauerem Hinsehen spricht viel dafür, dass diese Norm die zuständigen Behörden sogar dazu verpflichtet, Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zu treffen und zu verschärfen, wenn diese Schwellenwerte überschritten sind.
Schutzpflichten aus dem Infektionsschutzgesetz?
§ 28a III IfSchG konkretisiert in unübersichtlicher Form in zwölf Sätzen die Ermächtigung des Infektionsschutzgesetzes zum Erlass von Maßnahmen und Rechtsverordnungen: Abhängig von der 7-Tages Inzidenz (S. 4, 12) „sind“ regional, soweit es kein regional übergreifendes Infektionsgeschehen gibt (S. 2), Maßnahmen „zu ergreifen“ (S. 5, 6), die eine „effektive Eindämmung“ (S. 6) oder „schnelle Abschwächung“ (S. 5) des Infektionsgeschehens „erwarten lassen“. Bei geringeren regionalen Inzidenzen „kommen“ Maßnahmen lediglich „in Betracht“ (S. 7), wenn nicht landes- oder bundesweite Maßnahmen „anzustreben“ (S. 9, 10) sind.
Am unmittelbar verständlichsten ist Satz 1: Schutzgüter der Maßnahmen sind „Leben und Gesundheit“ sowie die „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“. In den folgenden Sätzen ist hingegen eine ganze Menge unklar, z. B. die Rechtsfolge von Satz 2: Schutzmaßnahmen sollen regional nach S. 4–12 ausgerichtet werden, „soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind“. Die in Bezug genommenen Sätze 9 und 10 betreffen aber gerade überregionale Infektionsgeschehen. Gelten gar die S. 4–12 nicht bei überregionalem Infektionsgeschehen? Das kann wohl kaum gemeint sein. An dieser Stelle sei nur an das Handbuch der Rechtsförmlichkeit und das verfassungsrechtliche Gebot der Normklarheit aus Art. 20 I, III GG erinnert. Verständliche Gesetzgebung sieht anders aus.
Recht konkret sind aber die S. 5 und S. 6 formuliert: Diesen zufolge „sind“ bei einer 7-Tages Inzidenz über 35 „breit angelegte“ (S. 6) und über 50 „umfassende“ (S. 5) regionale Maßnahmen „zu ergreifen“. In ihnen scheint damit nicht nur eine Begrenzung exekutiver Rechtsetzung enthalten zu sein. Der Wortlaut legt eine rechtliche Verpflichtung zum Erlass von Schutzmaßnahmen am Maßstab der Schwellenwerte „35“ und „50“ nahe.
Daraus ergeben aber sich mindestens vier Fragen:
1. An wen richtet sich § 28a III S. 5, 6 IfSchG?
2. Folgen konkrete Handlungspflichten aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG?
3. Ist eine Verpflichtung verfassungsrechtlich zulässig?
4. Resultieren aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG subjektive Rechte?
Wer wird von § 28a III S. 5, 6 IfSchG verpflichtet?
Eine rechtliche Verpflichtung kann sich aus § 28a III IfSchG aber nur ergeben, sofern auch die verpflichtete Behörde dem Gesetz zu entnehmen ist. Ausdrücklich steht in § 28a III IfSchG kein Adressat, sodass ein Blick in den systematischen Zusammenhang notwendig ist. Gem. §§ 54, 32 S. 2 IfSchG bestimmen die Länder, wer für die Ausführung der §§ 28–32 IfSchG zuständig ist. Für Einzelmaßnahmen sind dies in der Praxis die kommunalen Öffentlichen Gesundheitsdienste((z. B. § 10 GDG SH)). Verordnungen erlassen die Landesregierungen (§ 1 I IfSGErmÜV SH). Rechtsgrundlage für den Erlass der Einzelmaßnahmen ist §§ 28 I S. 1, 2, 28a I IfSchG((z. B. Allgemeinverfügung der Stadt Flensburg vom 12.03.2020)), für den Erlass der Verordnungen §§ 32 S. 1, 28 I S. 1, 2, 28a I IfSchG((z. B. Corona-BekämpfVO SH)).
Die Regelung in § 28a III IfSchG steht im Zusammenhang zur Einzelermächtigung der Gesundheitsdienste nach §§ 28a I, 28 I S. 1, 2 IfSchG. Auch der Umfang der Verordnungsermächtigung gem. § 32 S. 1 IfSchG richtet sich der nach den „Voraussetzungen“ der §§ 28–31 IfSchG. Der Erlass von Einzelmaßnahmen durch die Öffentlichen Gesundheitsdienste sowie Verordnungen durch die Landesregierungen wird durch § 28a III IfSchG beschränkt.
Gilt dies auch für eine Verpflichtung? § 28a III S. 2 IfSchG konkretisiert die Reichweite der Maßnahmen, die „regional […] ausgerichtet werden“ sollen. Dass dies sich auf die regionalen Gesundheitsdienste beschränkt, lässt sich daraus nicht ableiten: auch die Landesregierungen können die Geltung von Verordnungen regional differenzieren und entsprechend der S. 5 und 6 ausgestalten. § 28a III IfSchG ist ein Verpflichtungsadressat nicht ausdrücklich zu entnehmen. Im Gesetz ist kein Grund angelegt, wieso Gesundheitsdienste und Landesregierungen im Hinblick auf eine Ermächtigung gleich, im Hinblick auf eine Verpflichtung ungleich behandelt werden sollten. § 28a III S. 5 und 6 IfSchG richten sich daher an die Landesregierungen und die öffentlichen Gesundheitsdienste.
Inhalt der Verpflichtungen aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG
Gem. § 28a III S. 5 IfSchG sind bei der Überschreitung einer 7-Tages Inzidenz von 50 „umfassende Schutzmaßnahmen“ zu erlassen, die eine „effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“. Bei der Überschreitung einer 7-Tages Inzidenz von 35 sind nach S. 6 „breit angelegte Schutzmaßnahmen“ zu treffen, die eine „schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen.“
Das IfSchG konkretisiert keinen der Begriffe((kritisch im Gesetzgebungsverfahren schon Kießling, S. 7 und Klafki, S. 5)). Zwar listet § 28a I IfSchG Standardmaßnahmen auf, aber § 28a III S. 5, 6 IfSchG knüpfen daran nicht an. Die Gesetzesbegründung (S. 34 f.) differenziert zwischen „schwerwiegenden“ und „starken“ Einschränkungen des öffentlichen Lebens, was die Auslegung kaum weiterbringt. Einen Maßstab zur Bestimmung der Unterschiede fehlt. In der Eingriffsintensität ist er nicht zu finden – ob eine Betriebsschließung (§ 28a I Nr. 14 IfSchG) oder ein Gottesdienstverbot (§ 28a I Nr. 10 Var. 5 IfSchG) intensiver in Grundrechte eingreift, lässt sich nicht pauschal beantworten. Das notwendige Zusammenwirken mehrerer Maßnahmen in einem Gesamtkonzept verkompliziert die Bestimmung((Gerhardt, IfSchG, 5. Aufl. 2021, § 28a Rn. 102)).
Die Rechtsbegriffe der § 28a III S. 5, 6 IfSchG bleiben unbestimmt. Nach herkömmlichem Verständnis müssen sie durch Normsetzung konkretisiert werden. Es fehlen rechtliche Maßstäbe, die eine effektive gerichtliche Kontrolle der Maßnahmen am gesetzlichen Untermaß ermöglichen.
Dies gilt, besonders in verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren, auch in freiheitsrechtlichen Konstellationen: Ob eine Landesregierung die Ermächtigung zum Verordnungserlass überschreitet, lässt sich aufgrund der Unbestimmtheit über eine grobe Willkürkontrolle hinaus kaum gerichtlich feststellen((kritisch im Gesetzgebungsverfahren im November 2020 schon Kießling und die anderen Sachverständigen)).
Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verpflichtung
Wenn sie Kommunen als Träger der öffentlichen Gesundheitsdienste zum Erlass von Schutzmaßnahmen verpflichten, müssen sich Bund und Länder an Art. 28 II S. 1 GG bzw. entsprechendem Landesverfassungsrecht messen lassen. Dies ist unproblematisch, soweit die finanziellen Belastungen ausgeglichen werden. Die eigentliche Aufgabenübertragung an die Kommunen erfolgt durch die Länder (s. o.), sodass auch Art. 84 I S. 7 GG der Verpflichtung nicht entgegensteht.
Anders liegt der Fall, wenn ein Bundesgesetz Landesregierungen verpflichtet: Zwar erlaubt Art. 80 I S. 1 GG, die Landesregierungendiese zum Verordnungserlass zu ermächtigen. Eine Aussage, ob der Bund auch bestimmen darf, unter welchen Umständen eine Landesregierung eine Verordnung erlassen muss, ergibt sich aus Art. 80 I GG nicht. Aufgrund der Eigenstaatlichkeit der Länder (Art. 20 I, 30 GG) ist eine einseitige Verpflichtung der Länder durch den Bund nicht selbstverständlich. Auch die in der Gewaltenteilung angelegte Frage, ob ein Parlament eine Regierung unter bestimmten Voraussetzungen zum Normerlass verpflichten darf, ist nicht trivial((bejahend in anderer Konstellation BVerfGE 78, 249 [272 f.] – 1988)).
Subjektive Rechte aus § 28a III S. 5 und 6 IfSchG?
Schließlich stellt sich die Frage nach subjektiven Rechten aus § 28a III S. 5 und 6 IfSchG: Sind einzelne Personen berechtigt, von den Landesregierungen die Erfüllung der Verpflichtung zu verlangen? Dies hängt zentral von der Bestimmbarkeit der Verpflichtungen ab (s. o.). Zweite Voraussetzung ist ein bestimmbares Individualinteresse((vgl. Maurer/Waldhoff, VerwR, 20. Aufl. 2020, § 8 Rn. 8)). Schutzzweck der Maßnahmen ist gem. § 28a III S. 1 IfSchG gerade der „Schutz von Leben und Gesundheit“, was sich klar auf individuelle Interessen einzelner Personen bezieht. Dies wird auch in der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses deutlich (S. 73), wonach die Maßnahmen der „Umsetzung“ der Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit aus Art. 2 II S. 1 GG dienen.
Soweit die offenen Rechtsbegriffe bestimmbar sind, lassen sich § 28a III S. 5 und 6 IfSchG auch individuelle Ansprüche auf staatlichen Schutz durch Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgerichtet an den gesetzlichen Schwellenwerten entnehmen. Diese Rechte unterscheiden sich von Ansprüchen aus grundrechtlichen Schutzpflichten((zu diesen bereits im November knapp hier)) grundlegend. Während bei grundrechtlichen Schutzpflichten aufgrund der Gewaltenteilung eine gerichtliche Zurückhaltung geboten ist, bestimmt hier der demokratisch legitimierte Gesetzgeber den Anspruch durch Gesetz. Der Anspruch ist dann verwaltungsgerichtlich im Wege einer allgemeinen Leistungsklage durchsetzbar.
Ein Absatz mit 12 – bald 13 – Sätzen und vielen Rätseln: § 28a III IfSchG
Die am 4.3.2021 beschlossenen, aber noch nicht im Bundesgesetzblatt verkündeten Änderungen des § 28a III IfSchG zielen darauf ab, Virusmutationen in der Pandemiebekämpfung zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist nach dem zukünftigen S. 12 für die „Aufhebung oder Einschränkung“ der Schutzmaßnahmen nach den S. 9–11 (wonach Maßnahmen „anzustreben“ sind) die Durchimpfung der Bevölkerung „zu berücksichtigen“. § 28a III IfSchG wird dann aus 13 unstrukturierten Sätzen bestehen. Verständlicher wird das Gesetz durch diese Änderungen nicht.
Schlussendlich lässt sich hier zweierlei festhalten: Erstens haben § 28a III S. 5, 6 IfSchG eine rechtstaatlich-liberale Funktion. Sie bestimmen Bedingungen für Eingriffe in Freiheitsrechte. Zweitens sprechen Wortlaut und Gesetzgebungsgeschichte der Norm für eine rechtliche Verpflichtung von Landesregierungen und Öffentlichen Gesundheitsdiensten zu Schutzmaßnahmen, mit korrespondierenden subjektiven Rechten Einzelner.
Aufgrund der miserablen Gesetzgebung sind Inhalte von Übermaß und Untermaß sowie der subjektiven Rechte nur schwer zu bestimmen. Deutlich bestimmt sind jedoch die gesetzlichen Schwellenwerte von 35 und 50, die überraschend und wohl rechtswidrig gar nicht mehr Ausgangspunkt politischer Entscheidungen zu sein scheinen. Die Rechtsprechung steht damit nun vor der Herausforderung, die Norm zu konkretisieren und die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen am Untermaß des § 28a III S. 1 IfSchG zu überprüfen – bis hin zu einer Verpflichtung von Öffentlichen Gesundheitsdiensten und Landesregierungen, die Maßnahmen an den gesetzlich vorgeschriebenen Schwellenwerten auszurichten.
Schöner Beitrag, vielen Dank für die zutreffenden Anregungen. Ich stelle mir die Frage, ob die von Dir in den Blick genommenen Sätze 5 und 6 bei einer etwas anderen Betrachtungsweise abgesehen von der gesetzgebungstechnischen Misere einen Mehrwert haben können. Du konzentrierst Dich mit der aus praktischer Sicht sicherlich bedeutsamen Bindung der Landesregierungen als Verordnungsgeber. Die Bindungswirkung der Sätze 5 und 6 könnte ihre Wirkung doch – bitte korrigiere mich falls ich falsch liegen sollte – auch für die kommunalen Gesundheitsdienste adressieren. Mit §§ 28, 28a besitzen sie die notwendige Ermächtigungsgrundlage, um (punktuell und regional) auf das Überschreiten der normierten Inzidenzwerte zu reagieren, oder? Bei wohlwollender Deutung könnte man die Regelung unabhängig von der Qualifizierung als subjektiv-öffentliches Recht und obwohl dies womöglich nicht einmal beabsichtigt war, m.E. so verstehen. Die Folgeprobleme liegen natürlich auf der Hand und sind nicht neu: Wie ist das Verhältnis von regionaler Allgemeinverfügung zu überregionaler Rechtsverordnung? Können sich die Kreise und kreisfreien Städte über die materiellen Gesetze “hinwegsetzen” und anlassbezogen strengere Maßnahmen erlassen? Ich weiß es nicht. Es wäre aber zumindest ein interessantes Gedankenspiel. Liebe Grüße!
Wenn die entsprechende Landesverordnung eine Bestimmung enthält, dass diese lokalen Verordnungen/Allgemeinverfügungen vorgeht, wohl kaum.
Was mich aber interessieren würde:
Wie ist das Verhältnis IfSchG zur Bildunghoheit der Länder?
Könnte die Schulministerin einer Stadt, aktuelles Bsp. Duisburg, zwingen Schulen offenzuhalten, selbst wenn die Corona-Schutzverordnung kein Verbot weitergehender Regulierung enthält?
Vielen Dank für die Anmerkungen und den Hinweis!
M. E. ist die kommunale Ebene aus den S. 5 und S. 6 in gleicher Weise verpflichtet wie die Landesregierungen. Das hätte ich noch deutlicher herausarbeiten können.
Die Landesregierungen werden in § 32 I IfSchG ermächtigt, Maßnahmen nach den §§ 28 und 28a IfSchG zu treffen, nicht aber zu regeln, wann welcher Kreis tätig werden darf. Das müsste aus meiner Sicht dann per Gesetz geschehen. Die Verschärfung von Maßnahmen durch die öffentlichen Gesundheitsdienste ist aus meiner Sicht rechtlich kein Problem.
Die Folge werden dann aber noch unübersichtliche Regelungszusammenhänge sein, die eher aus Verwaltungswissenschaftlicher Sinn problematisch sind.
Vielen Dank für den Beitrag.
Es zeigt sich in praxi nun die bereits im Gesetzgebungsverfahren und nach Einführung des § 28a IfSG auch unmittelbar in der Lit. vorgetragene Schwäche der einfachgesetzlichen Positivierung eines Inzidenzwerts als Leitfigur der Pandemiebekämpfung.
Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, dass § 28a Abs. 3 S. 1 IfSG eine Ausrichtung der Eindämmungsmaßnahmen zu Recht (auch) an der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems verlangt, die Vorschrift allerdings im Ergebnis bloß eine starre Orientierung am Inzidenzwert einfordert (§ 28a Abs. 3 S. 4 IfSG spricht zwar von “insbesondere”; das wird durch den eindeutigen Wortlaut des § 28a Abs. 3 S. 5 IfSG – wie Sie zutreffend herausstellten – aber postwendend konterkariert). In ihrer Relevanz stetig zunehmende Parameter wie Teststrategie, Immunisierung in der Bevölkerung, Intensivbettenkapazitäten, Krankheitsverläufe etc. müssen sich dem starren Inzidenzschema des § 28a Abs. 3 unterordnen. Die von Ihnen zu Recht angesprochene Problematik einer Handlungspflicht der Länder bei Überschreitung eines Schwellenwertes macht das vor diesem Hintergrund nicht besser.
Sehr geehrter Herr Eibenstein,
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Was die Gesetzgebungsorgane als Maßstab gewählt haben ist meines Erachtens juristisch hier nicht erheblich, eher dass sie die Inzidenzwerte als Maßstab gewählt haben (und damit immerhin einen faktisch zu ermittelnden Wert). Solange der Wert nicht vollkommen wilkürlich gewählt wird, wird er sich verfassungsrechtlich kaum kritisieren lassen.
Ob der Maßstab klug (nicht wilkürlich!) gewählt ist, ist eine andere Frage die außerhalb meiner Expertise liegt.
Für augenfällig intensive flächendeckende Grundrechtsbeschränkungen genügt Ihnen (auch bei zunehmend verändertem äußerlichen Umständen) das Bestehen eines nicht willkürlichen Inzidenzwertes?
Sehr geehrter Herr Eibenstein,
mein Beitrag bezog sich nur auf die Wahl des Maßstabes “Inzidenzwert”. Dass die Maßnahmen in Grundrechte eingreifen und daher die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffes erfüllt sein müssen, versteht sich von selbst.
Schade, dass Sie offenbar derart polemisch auf – wie ich finde – interessante Folgefragen reagieren. Dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausnahmslos Geltung beansprucht, wird wohl kaum
Hier irgendwo ernsthaft bezweifelt.
Ich halte den Inzidenzwert als „Leitfigur“, wie zuvor geschrieben wurde, aber auch zu kurz gedacht. Interessant wäre jedenfalls auch, ob sich nicht eine Verfassungswidrigkeit des § 28a III, 5 IfSG daraus ergeben kann, dass ungeachtet der vänderung der pandemischen Parameter weiterhin bei bestimmter Inzidenz bestimmte Handlungsgebote an die Exekutive bestehen. Was, wenn zwar eine Inzidenz in einem Landkreis bei 51 liegt, in dem Landkreis aber nahezu jeder Einwohner geimpft oder immun ist?
„ Was die Gesetzgebungsorgane als Maßstab gewählt haben ist meines Erachtens juristisch hier nicht erheblich“
Warum nicht? Warum interessiert Sie der Maßstab, nach dem infektionsschutzrechtliche Ge-/Verbote verfügt werden nicht? Das ist doch geradezu der entscheidende Punkt (bei dem ich iÜ. meinem Vorredner zustimmen möchte).
Sehr geehrte RA. C. Mueller und Dr. P. Stuermer,
vielen Dank für Ihr Nachfassen!
Eine rechtswissenschaftliche Diskussion um § 28a III IfSchG muss aus meiner Sicht in erster Linie berücksichtigen, dass es sich dabei um eine gesetzgeberische Entscheidung handelt. Daraus ergeben sich die Anforderungen an eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Entscheidung.
Der juristische Maßstab ist dabei einer der Rechtmäßigkeit, nicht der Zweckmäßigkeit.
§ 28a III S. 5, 6 IfSchG dient in jedem Fall der Rechtfertigung von Eingriffen. So muss sich nicht nur die Einzelmaßnahme, sondern auch abstrakt-generell die Norm an der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Im Rahmen der Geeignetheit muss sich fragen lassen, ob das Mittel (Maßnahmen an Inzidenzwerte) zu koppeln, den Zweck (Schutz des Gesundheitssystem, Schutz der Gesundheit) verfolgen kann. Im Rahmen der Erforderlichkeit, ist die Frage ob es ein milderes, aber gleich geeingetes Mittel gibt. Die Kopplung an Inzidenzwerte scheint mit dabei eher eine Frage der Geeignetheit zu sein, als der Erforderlichkeit (die Kopplung an andere Faktoren ist nicht unbedingt milder). In beiden Punkten aber, wird sich festhalten müssen, dass die Judikative der Exekutive mit einem judical-self-restraint begegenen muss, selbst kaum Maßstäbe über die Wilkürkontrolle hinaus hat, die unterschiedliche Eignung von Faktoren zu ermitteln.
Daraus ergeben sich für mich zwei Ergebnisse: 1. im Moment ist die Kopplung an Inzidenzwerte nicht verfassungswidrig (nochmal: das ist eine Perspektive der Rechtmäßigkeit, nicht der Zweckmäßigkeit). 2.: es kann Situationen geben (wie die von der vorrednen Person beschriebene), in der die Norm sich nicht mehr im verfassungswidrigen Rahmen hält. Allerdings muss sich dies nicht aus aus dem Anknüpfen an Inzidenzwerte ergeben, sondern ergibt sich dann ggf. aus der Höhe. Dies scheint mir in der aktuellen Situation aber recht spekulativ.
Es stellt sich die Frage wieso die Werte 35/50 gewählt wurden. Zu dem Zeitpunkt war es wegen Überlastung von Krankenhäusern und Nachvollziehbarkeit bei Gesundheitsämtern.
Das Thema Überlastung dürfte sich durch Impfung der älteren Bevölkerung erledigt haben.
Gesundheitsämter mag ich nicht beurteilen.
Das Parlament sollte vielleicht doch diskutieren
Habe ich richtig gelesen? Das IschG ist nur bis 31.03.2021 festgeschrieben. ..Das heisst dann ist es nicht mehr gültig? Was dann? Ist der Lockdown dann gesetzwidrig?
Sehr geehrter Herr Kollege Gallon,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, wenn ich diesmal ein Beispiel aus der Gerichtsbarkeit bringen darf, dass in der Begründung zur Eilentscheidung des OVG Saarbrücken §§ 32, 28a IFSG so kurz angesprochen worden ist. Das Gericht nimmt wohl an, dass dort keine taugliche Rechtsgrundlage konstituiert wird. Nach der Begründung dürfte es aber auch § 28a IFSG als nicht mit dem Übermaßverbot vereinbar ansehen.
1. Wenn das Gericht der Auffassung ist, dass die Norm gegen das Übermaßverbot verstößt, müsste es eigentlich dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, darf aber nicht so tun, als gäbe es die Norm nicht.
2. Ob man dann eine Willkür- oder Vertretbarkeitskontrolle anlegt, wäre eine andere Frage; man muss jedenfalls dem Gesetz- oder Verordnungsgeber eine Einschätzungsprärogative zugestehen und es vermeiden, die Epidemie auf der faktischen, also der epidemiologischen Seite besser verstehen zu wollen, als es der Mainstream der Epidemiologen tut.
3. Unter anderem bei der Entscheidungsbegründung des OVG hatte ich nicht das Gefühl, dass es sich mit den (mathematisch-epidemiologischen) Modellen, die das Regierungshandeln anleiten, richtig eingehend beschäftigt hat.
a. In qualitativen Begriffen wird vom Gericht an einer Begründungsstelle über ein im Wesentlichen vor allem quantitatives oder jedenfalls weitgehend quantifizierbares Problem gesprochen: Zum Beispiel spricht es davon, dass die Öffnung des Einzelhandels nur einen “niedrigen” Anteil am Pandemiegeschehen, also wohl nur niedrigen Einfluss auf den R-Wert hat. Aber was heißt “niedrig” und wie genau wirken sich viele nebeneinander bestehende, jeweils als Einflussfaktoren mit für sich “niedrigem” Anteil am Infektionsgeschehen kumulativ bei welcher Inzidenzzahl auf den R-Wert aus? Ohne Schutzmaßnahmen liegt der R-Wert über 2 (aber das klingt eigentlich zu viel, weil innerhalb von 26 Tagen bei einem Ansteckungsfall Deutschland in der Folge komplett durchseucht würde; vielleicht verwechsle ich da was – im November 2020 lag der R-Wert aber zeitweise bei 1,2). Man könnte daher meinen, dass eine Absenkung um bloß 0,01 keinen nennenswerten Effekt hätte. Das stimmt aber nicht: Derzeit liegt der R-Wert bei 1,06. In 45 Tagen würden aus aktuell 17.500 Neuinfektionen bei Einfrierung dieses R-Werts daraus fast 241.000 tägliche Neuinfektionen; bei 1,05 dagegen “bloß” 157.000; also um die 85.000 pro Tag weniger. Ein kleiner Zahlenwert kann in einer Exponentialfunktion über die Zeit einen großen Unterschied machen. Um in 45 Tagen bei um die 20.000 (= Inzidenz ~ 100) zu bleiben, müsste man unter einen R-Wert von 1,005 kommen. Bei 1,01 lägen wir schon bei 27.384.
b. Bei Annahme einer IFR von 0,5 % und Stabilisierung um 20.000 täglichen Infektionen resultierten daraus 4.500 Todesfälle, was ungefähr den Todesfällen bei umgebremsten Verlauf einer schweren Grippewelle im selben Zeitintervall entspricht. Würde man jetzt den Effekt der Impfungen vulnerabler Gruppen einstellen, müsste man gegenrechnen, wie sich eine möglicherweise erhöhte Sterblichkeit aufgrund der neuen Variante des Virus auswirkt. Ich finde es aber schwer, den “richtigen” IFR zu ermitteln: Anders als oben gibt das RKI den IFR für 2020 auf Basis einer Münchener Studie mit 0,86 %; bei einer um 60 % erhöhten Sterblichkeit aufgrund der Mutation wären wir bei einer IFR von 1,376 %. Wenn es gelingt, durch Verschärfung der Schutzmaßnahmen den R-Wert im Durchschnitt der nächsten 45 Tage auf 1,005 abzusenken, läge – eine Durchimpfung unberücksichtigt – die Anzahl der Todesfälle in diesem Zeitraum dann bei sogar 12.485.
c. Man müsste in die Abwägung auch das Risiko einstellen, dass bei einer höheren Anzahl der Neuinfektionen auch das Risiko einer Mutation gesteigert ist, die infektiöser oder letaler und/oder immun gegen Impfstoffe sein könnte.
d. Es wird u. a. von Herrn Professor Murswiek implizit, aber vielleicht missinterpretiere ich ihn da, unterstellt, dass die Einführung von Schutzmaßnahmen im Falle einer schweren Grippewelle unangemessen wäre. Ist das denn so sicher? Dürfen die Verantwortlichen nicht, wenn sie frühzeitig bemerken, dass die Grippe diesmal besonders tödlich ist, etwa über den Winter in Altersheimen für Besucher eine Maskenpflicht anordnen? Dass es faktisch noch nicht gemacht und nicht zu dieser Frage entschieden wurde, sagt doch noch nichts über die rechtliche Zulässigkeit aus? Mit der angedeuteten Begründungslinie von Herrn Professor Murswiek – also der Perpetuierung eines vormaligen Schutzniveaus – wäre es ja zB damals auch verfassungswidrig gewesen, eine Gurtpflicht einzuführen (1975 war nach Anstieg in den Jahren die Anzahl der Verkehrstoten ja sogar bereits wieder auf dem Niveau Ende der 50er).
e. Richter können schauen, ob ausreichend begründet worden ist, ob krasse Fehler gemacht, Spielräume verlassen worden sind; aber wie sollen sie 5.000 oder 20.000 Menschenleben gegen 1 Mio. zusätzliche Arbeitslose, eine um 200 Mrd. gestiegene Staatsverschuldung und 20.000 Insolvenzen abwägen? Für solche Abwägungsprozesse sind in erster Linie die beratenen Parlamentarier bzw. nachrangig Vertreter der Exekutive zuständig. Es wäre m. E. klug, hier als Gericht Zurückhaltunzu üben.
3. Soweit es um die Unbestimmtheit des § 28a IFSG geht: Trotz mancher Verfehlungen bei der Normgebung ist ja – wie Sie sagten – zumindest klar, dass in Regionen, wo sich der Inzidenzwert oberhalb der Inzidenzwerte bewegt, entweder “breit angelegte” oder “umfassende” Maßnahmen zu implementieren sind. Derzeit sollten also fast überall “umfassende Maßnahmen” eingeführt sein.
a. Für ein Gericht ist es nicht unmöglich, diese unbestimmten Rechtsbegriffe, wie das ja auch sonst im Gefahrenabwehrrecht oder überhaupt im Verwaltungsrecht ständig passiert, zu präzisieren: Durch die Kopplung an einen zu erzielenden Effekt der “Eindämmung” (= starkes und stetiges Abnehmen der Anzahl der Neuinfektionen) und der Abschwächung (= im Vergleich zur Eindämmung schwächeres, möglichst stetiges Abnehmen der Anzahl der Neuinfektionen) des Pandemiegeschehens erhalten die Begriffe durch das Gesetz zumindest eine gewisse Kontur. Man weiß jedenfalls, dass eine dauerhafte Stagnation oder gar eine Zunahme der Fallzahlen in Regionen oberhalb 35er Inzidenz der gesetzgeberischen Zielvorstellung zuwiderläuft; die Maßnahmen also weder breit genug noch umfassend genug angelegt sind. Falls es wegen der Mutation unmöglich geworden sein sollte (wobei es im UK ja dennoch funktioniert hat), die Infektionszahlen zu drücken, wäre diese Zielvorstellung zumindest so weit als möglich aufrechtzuerhalten.
b. Wieviel an Regelungsdichte kann bei einem Pandemiegeschehen, in dem die Dynamik so hoch ist, dass zwei Woche nach Beschluss und Inkrafttreten eines Gesetzes, dieses bereits überholt sein, überhaupt vom Gesetzgeber eingefordert werden?
Eine Frage, die noch bleibt: Wie geht es jetzt weiter? Ist die Entscheidung OVG Saarbrücken wegweisend auch für die anderen Gerichte oder hat sich zwischenzeitlich die Lage so offenkundig zum Schlechteren gewandelt, dass auch eine erneute Verschärfung der Schutzmaßnahmen von den Gerichten hingenommen werden wird?
Beste Grüße
Jens Fischer
Sehr geehrter Herr Fischer,
vielen Dank für Ihren Beitrag.
Könnten Sie mir das Az. des Beschlusses des OVG Saarbrücken, auf welches Sie sich beziehen, zukommen lassen?
In der Tat stellen sich im Zusammenhang mit dem Erlassen sowie dem Unterlassen von Infektionsschutzmaßnahmen Rechtsfragen, die mir offen aber auch sehr unterschiedlich zu sein scheinen. Dabei ist eine (die in den vorherigen Kommentaren diskutierte Frage), was die Gesetzgebungsorgane gesetzlich vorsehen müssen und dürfen, eine andere was für die Exektuive daraus folgt.
Ihren Ausführungen zur Zuständigkeit für politische Abwägungsprozesse stimme ich zwar grundlegend zu, neben die Wilkürkontrolle wird aber auch die Vereinbarkeit mit Grund-, isb. Freiheitsrechten zum Prüfungsmaßstab der Gerichte gehören. Dies bedeutet aber nicht, dass sämtliche Fragen durch die Gerichte ausdeterminiert werden können. Es gibt, auch in § 28a III S. 5 und 6 IfSchG einen politischen Entscheidungsraum zwischen Untermaß und Übermaß, der durch die Verwaltung ausgestaltet werden kann.
Ihren Gedanken zur verwaltungsgerichtlichen Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe durch die Rechtsprechung finde ich sehr interessant. Mit dieser Verbindung der Tatbestandsmerkmale lässt sich möglicherweise doch mehr konkretisieren, als von mir angenommen.
Ich würde mich über einen weiteren Austausch freuen.
Mit den besten Grüßen,
Johannes Gallon.
Sehr geehrter Herr Gallon,
die Entscheidungsbegründung finden Sie hier (https://openjur.de/u/2331150.html). Was mich gewundert hat, war, dass die Geschäfte, unter allerdings strikten Auflagen (nach Terminvereinbarung, mit max. einer weiteren Person aus Hausstand je 40 qm Ladenfläche) betreten werden konnte. Die Argumentation zum Gleichheitssatz finde ich aber recht plausibel. Am 09.03. lag die Inzidenzzahl im Saarland, nachdem sei seit dem 01.03. abfiel, bei 59,2 im Landkreis Saarlois bei 49,98.
Ich verstehe die Regelung in § 28a III S. 5 und 6 IFSG als gebundene Entscheidung. Ein Entschließungsermessen hat die Exekutive oberhalb der 35er Inzidenz nicht. Das Auswahlermessen ist einerseits nach unten dahin begrenzt, dass die implementierten Schutzmaßnahmen ausreichen müssen, um das Pandemiegeschehen einzudämmen oder abzuschwächen. Nach oben hat der Gesetzgeber bei der Auswahl der Maßnahmen in §28a Abs. 2 S. 2 IFSG zunächst mal eine Grenze dahin gesetzt, dass die Maßnahmen ein Mindestmaß an sozialen Kontakt aufrechterhalten müssen und Individuen und Gruppen nicht komplett isolieren dürfen (also Wahrung Menschenwürde).
Innerhalb dieser äußeren Grenzen kann die Exekutive bei der Bestimmung Wahl spezifischer Schutzmaßnahmen unverhältnismäßig handeln kann. M. E. wäre das einerseits möglich, wenn zwar die implementierten Schutzmaßnahmen insgesamt zu einem Eindämmungs- und Abschwächungseffekt führen, darunter aber ganz effektlose Maßnahmen sind.
Ein Verstoß gegen Übermaßverbot lge vor, wenn der Einzelhandel einen vernachlässigbaren Beitrag zum Pandemiegeschehen beiträgt. Wenn die Schließung zB des gesamten Einzelhandels etwa nur einen Beitrag von unter 0,001 zum R-Wert liefert und trotzdem die Geschäfte geschlossen gehalten werden.
Was den Anknüpfungspunkt Inzidenzwert betrifft: Die primäre Begründung in den Gesetzesmotiven war, dass man bei Überschreitung der Werte Infektionsketten schwerer nachvollziehen kann, nachrangige Begründung die Kapazitäten der Krankenhäuser abzusichern, als Zweck im Gesetz wurde dann gleichrangig der Schutz von Leben und Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens benannt. Mir ist in dieser Diskussion immer noch nicht ganz klar, warum die Inzidenzzahl ein so unglaublich schlechter Orientierungswert ist? Ich persönlich wüsste sie derzeit aber vor allem um den R-Wert ergänzt. Das OVG moniert u.a., dass mit steigender Testquote und daraus folgenden positiven Ergebnissen es zwar zu Schwierigkeiten bei der Nachverfolgbarkeit von Kontaktketten kommt, dass sich aber das Pandemiegeschehen dann objektiv gar nicht verschlechtert hat. Kann man denn, werfe ich jetzt etwas unüberlegt in den Raum, nicht einfach die Inzidenzwerte nehmen und wegen der erhöhten Testfrequenz entsprechend erhöhen. Dann müsste man auf der anderen Seite aber auch die höhere Infektiosität bzw. Kontagiosität des Virus berücksichtigen. Wir bekommen ja immer nur einen Rückblick auf Vergangenheitswerte: Verbreitet sich die Mutation, könnte zum Zeitpunkt, wo die Inzidenzzahl, sagen wir, 30 festgestellt worden ist, der unbekannt tatsächliche Inzidenzwert zu diesem Zeitpunkt anstelle bei 60 vielleicht bei 100 oder mehr liegen, weil zwischenzeitlich wegen der Mutation der R-Wert angestiegen ist; entsprechend wäre es dann in zwei Wochen viel schwerer die Kontaktketten nachzuverfolgen, auch wenn man bei bereits bei Feststellung der Inzidenzzahl 50 Maßnahmen eingeführt hat. Die Berechnung könnte 10 % mehr positiven Tests wegen erhöhter Testfrequenz und einem Anteil von 70 % der um 50 % infektiöseren Virusmutation so aussehen: (1,1 / (1,5 * 0,7 + 1 * 0,6)) * 35 = 23. Der 35er Inzidenzwert würde also auf 23 abgesenkt, dessen Erreichen derzeit freilich eher entfernt erscheint.
Besser wäre m. E. aber auch, dass man für die Zukunft der Gesetzgeber, Impfquote und R-Wert (das der als Bezugspunkt ganz fehlt, ist wirklich ein Versäumnis) neben den Tests und der Infektiosität der Mutation bündelt – soweit das möglich ist. Auf der anderen Seite: Wenn man mit dem Richtwert „Inzidenzzahl“ bei höherer Impfquote zu schnell das Ziel „Nachverfolgbarkeit der Infektionsketten“ aufgibt, man dann blind für den weiteren Verlauf wird und die Kontrolle über das Geschehen verliert und es zu einer extrem schnellen Durchseuchung kommt, bringen womöglich die Krankenhausaufenthalte jüngerer, ungeimpfter Menschen das Gesundheitssystem an Kapazitätsgrenzen; zumal auch die Frage möglicher Langzeitschäden noch nicht ganz geklärt ist.
Beste Grüße
Jens Fischer
Gestatten Sie mir bitte, auf die Einladung von Herrn Gallon zu einem weiteren Austausch einzugehen.
Zunächst möchte ich mich aber meine vorangegangene Darstellung der R-Werte korrigieren. Da ist bei mir einiges durcheinander geraten und missverständlich. Ich wollte den R-Wert bezogen auf den Tag als Zeiteinheit darstellen, aber so wird er mit Bezug auf die Pandemie offenbar nirgendwo repräsentiert. Deshalb lag im November der R-Wert – bezogen auf eine 1-Tagesperiode – nie bei 1,2. Auch die Basisreproduktionszahl dürfte dann nicht auf die 1-Tages-, sondern auf die 4-Tages oder 7-Tagesperiode bezogen sein: Es geht also um die Steigerung innerhalb einer Periode von 1, 4 oder 7 Tagen. Wenn die Basisreproduktionszahl bei 2 liegt und auf eine 7-Tagesperiode bezogen ist, dann dürfte – wenn ich nicht schon wieder etwas durcheinanderbringe – der 1-Tages-R-Wert bei 1,1 liegen. Möglicherweise liegt der derzeitige (geglättete) 1-Tages-R-Wert aber gar nicht soweit von 1,06 entfernt und in der Sache halte ich daran fest, dass man die Effekte von Schutzmaßnahmen an den Einfluss auf den (geglätteten und über Vergangenheitswerte hinaus in epidemiologischen Modellen verwendeten) R-Wert rückbingen sollte, bevor man zu Verstößen gegen das Übermaßverbot ausführt.
Das Aktenzeichen zum Beschluss des OVG Saarbrücken lautet (Az. 2 B 58/21).
Ich verstehe die Regelung in § 28a III S. 5 und 6 IFSG als gebundene Entscheidung. Ein Entschließungsermessen hat die Exekutive oberhalb der 35er Inzidenz nicht, das Auswahlermessen ist einerseits nach unten dahin begrenzt, dass die implementierten Schutzmaßnahmen ausreichen müssen, um das Pandemiegeschehen einzudämmen oder abzuschwächen. Nach oben hat der Gesetzgeber bei der Auswahl der Maßnahmen in §28a Abs. 2 S. 2 IFSG zunächst mal eine Grenze dahin gesetzt, dass trotz der Maßnahmen ein Mindestmaß an sozialen Kontakt aufrechterhalten bleibt, Individuen und Gruppen nicht komplett isolieren werden (also Wahrung Menschenwürde).
Innerhalb dieser äußeren Grenzen kann die Exekutive bei der Bestimmung spezifischer Schutzmaßnahmen prinzipiell auch selbst unverhältnismäßig handeln. Dennoch hat der Gesetzgeber auch hier weitreichende Vorentscheidungen getroffen. M. E. wäre unverhältnismäßiges Verwaltungshandeln eineseits denkbar, wenn zwar die implementierten Schutzmaßnahmen insgesamt zu einem Eindämmungs- und Abschwächungseffekt führen, darunter aber völlig effektlose Maßnahmen sind. Ein Verstoß gegen Übermaßverbot läge vor, wenn der Beitrag des Einzelhandels zum Pandemiegeschehen vernachlässigbar Beitrag ist: Wenn die Schließung zB des gesamten Einzelhandels etwa nur einen Beitrag von unter 0,001 zum 1-Tages-R-Wert liefert und trotzdem die Geschäfte geschlossen gehalten werden. Man muss allerdings dabei beachten, dass im Gesetz u. a. Schließungen des Einzelhandels in § 28 Abs. 1 IFSG ausdrücklich vorgesehen sind. Ohne Zusatzinformationen kann auch die Verwaltung nicht annehmen, dass diese Schutzmaßnahme per se einen nur vernachlässigbaren Effekt nach sich ziehen würde; man muss jedenfalls unterstellen, dass der Gesetzgeber mit der Schließung des Einzelhandels der Verwaltung ein grundsätzlich taugliches, in bestimmten Anwendungskontexten verhältnismäßiges Mittel Instrument an die Hang geben wollte.
Danke für den Beitrag.
Wieso § 28a III S. 5, 6 IfSG eine „rechtstaatlich-liberale Funktion“ haben sollen, mutet zwar ziemlich paradox an, will ich aber nicht weiter verfolgen. Das Aufstellen von „Bedingungen für Eingriffe in Freiheitsrecht“ hat ein berechenbares Element, mit Liberlität hingegen nichts gemein.
Tatsächlich ergeben sich erst aus Ihren Kommentaren unter dem Beitrag einige Fragen.
Neben der fachwissenschaftlichen Komponente ist es doch geradezu virulent, ob das ergreifen bestimmter Ge-/Verbote von einem Inzidenzwert abhängig sein kann (wurde bereits angesprochen oben).
Auch frage ich mich, wie Sie den Konflikt sehen, dass Maßnahmen grds. nur lokal bezogen und nicht überregional in der Fläche verfügt werden können. Die Rspr. hat das bereits im Zuge der Beherbergungsverbote massiv bemängelt, danach teilweise wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit bloß nicht weiter verfolgt.
Sehr geehrter Herr Meissner,
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Zur rechtstaatlich-liberalen Funktion: die Begrenzung von Eingriffsmöglichkeiten der Exkekutive durch die Legislative halte ich für eine Funktion des Rechtsstaates, welche die Freiheitsbetätigung sichert. Mithin für rechtstaatlich-liberal.
Zu 2.: Aus meiner Sicht trifft die Verpflichtung des § 28a III S. 5 und S. 6 IfSchG auch die Landesregierungen. Mithin können (soweit vhm) Maßnahmen auch in der Breite verfügt werden. Schlichtweg: sie werden es nicht. Oder beziehen sich “die Breite” auf das gesamte Bundesgebiet?
Die Referenz auf das Beherbergungsverbot ist mir nicht ganz klar; aus meiner Sicht hat die Einführung des § 28a IfSchG und die zunehmende Begründung durch die Exektuiven den Wandel der Betrachtung durch die Rechtsprechung durchgeführt. Dazu schon hier: https://staging.verfassungsblog.de/rechtsstaatliche-immunabwehr/
Mit freundlichen Grüßen,
Johannes Gallon.
Ich teile ganz klar die Kritik an der schlechten Qualität und Verworrenheit von § 28a IfSG, gerade in der durch den Gesundheitsausschuss bereits zwei Mal in letzter Minute erheblich geänderten Fassung. Diese Mängel schlagen leider unmittelbar auf die Bund-Länder-Beschlüsse (der nächste kommt übermorgen) und in der Folge auch auf die Rechtsakte der Länder, Kommunen und Gesundheitsbehörden durch. Es fehlt nicht nur an allgemeiner Normenklarheit und inhaltlicher Bestimmtheit iSv Art. 80 GG, sondern auch an klaren Vorgaben, welche Maßnahmen das Parlament in welcher (auch zeitlichen) Priorisierung einzeln und zusammen als generell verhältnismäßig betrachtet, was die Norm als Ermächtigungsgrundlage insgesamt so problematisch macht. Indes dürfte insbes. § 28a Abs. 3 IfSG noch verfassungskonform so auszulegen sein, dass die Inzidenzwerte nur festlegen, ab wann spätestens gehandelt werden muss.
Aus den Mängeln der Vorschrift aber einen individuellen Anspruch auf „Einhaltung“ ausgerechnet der Schwellenwerte von 35 und 50 als Untermaß bzw. „Ausgangspunkt politischer Entscheidungen“ abzuleiten, überzeugt mich nicht. Aus folgenden Gründen:
1) Infektionsschutz und Pandemiebekämpfung dienen in erster Linie dem öffentlichen Gesundheitsschutz und nicht dem individuellen (vgl. § 1 IfSG). In diesem Sinne nennt § 28a Abs. 1 IfSG ausdrücklich die „Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)“ als Gesetzesziel. Nur als Klarstellung dieses Gesetzesziels wird nach der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses (S. 73) der Schutz von Leben und Gesundheit NEBEN der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems in § 28a Abs. 3 S. 1 IfSG erwähnt. Auch wenn das Gesetz damit der Umsetzung der „grundrechtlichen Schutzpflicht“ des Gesetzgebers aus Art. 2 Abs. 2 GG dient, sollen Ansprüche Einzelner ersichtlich nicht geschaffen werden. Auch in § 28a Abs. 3 S. 5 und 6 IfSG selbst wird nur auf die angestrebte Eindämmung bzw. Abschwächung des allgemeinen Infektionsgeschehens und nicht auf individuellen Gesundheitsschutz Bezug genommen.
2) § 28a Abs. 3 S. 5 und 6 IfSG besagen nur, dass bei Überschreiten der Schwellenwerte von 50 bzw. 35 bestimmte Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, nicht aber, dass sie aufrechtzuerhalten seien, bis sie wieder unterschritten sind. Die Inzidenzwerte fungieren nur als Höchstgrenzen, bis zu denen keine umfassenden bzw. breit angelegten Maßnahmen für erforderlich gehalten werden. Auch aus § 28a Abs. 3 S. 11 IfSG ist nichts anderes zu folgern, denn dort wird nur klargestellt, dass Maßnahmen erforderlichenfalls auch bei Unterschreiten der Schwellenwerte aufrechterhalten bleiben können. Die Bestimmung besagt aber nicht, dass einmal beschlossene Maßnahmen nicht angepasst und insbesondere in ihrer Gewichtung innerhalb der Gesamtstrategie nicht verändert werden dürften, bis die jeweiligen Schwellenwerte (wieder) erreicht sind. Im Gegenteil verbietet sich eine derartige Lesart, da sie der gebotenen fortlaufenden Kontrolle der Verhältnismäßigkeit (insbesondere der überwiegend nur situativ und im Wege eines Try and Error zu beurteilenden Geeignetheit) der verschiedenen, sehr erheblichen Grundrechtseingriffe offensichtlich zuwiderlaufen würde.
Sehr geehrter Frau Kaufhold,
ich glaube die Kritik an der etwas verworrenen Regelungen wird allseits geteilt (vor allem soweit es um die Frage der Zuständigkeiten geht). Ihren Ausführungen zu 2 kann ich aber nicht ganz zustimmen – und zwar aus folgendem Grund: Ich meine im siebten oder achten Satz des dritten Absatzes wird auch unterhalb der 35er-Inzidenz intendiertes Ermessen (“ist angezeigt”) konstituiert, breit angelegte oder umfassende Maßnahmen zu implementieren, die verhindern sollen, dass einer der Grenzwert überschritten werden wird, falls das angesichts des Geschehens alsbald wahrscheinlich bevorsteht.
Dass aber Maßnahmen angepasst werden können, weniger geeignete ganz weggelassen, neue stattdessen vielleicht hinzugefügt werden können, halte ich auch für möglich und auch sehr sinnvoll. Hier hätte die Exekutive sicher Spielräume einzuschätzen, ob das jeweilige Ensemble an Schutzmaßnahmen zu (hinreichend stark) sinkenden Inzidenzzahlen führt. Ich zumindest verstehe “breit angelegt” und “umfassend” ja relativ zum Effekt des Abschwächens oder Eindämmens.
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit auch, ich nehme an bei Herrn Steinbeis, entschuldigen, weil ich ihm erstens Arbeit mit meinem letzten quasi Doppelpost gemacht habe und dazu Unrecht getan, weil ich dachte, er hätte meinen Post von gestern Abend gelöscht. Hintergrund war vermutlich, dass es immer einen kurzen Check auf Sachlichkeit (was ich gut finde) gibt, bevor Beiträge hier veröffentlicht werden und auch Herr Steinbeis wird – gerade an einem Sonntag – ein Leben selbst jenseits dieser wunderbaren Seite haben und dann dauerts halt was. Also: Dankeschön und ‘tschuldigung :)
Sehr geehrte Frau Kaufhold,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Leider scheine ich meinen ursprünglichen Kommentar nicht abgesendet zu haben, oder er ist untergegangen.
Ich stimme ihnen insofern zu, als dass § 28a III IfSchG ein Untermaßverbot enthält. Ein Argument, wieso Ansprüche “Einzelner, ersichtlich nicht geschaffen wurden” würde mich sehr interessieren.
Zum zweiten Punkt, Sie sprechen eine interessante Frage an. Aus meiner Sicht ist aber zwischen der Verhältnismäßigkeit des Gesetzes und der Verhältnismäßigkeit der Einzelmaßnahmen zu unterscheiden. Ein Gesetz kann ja auch zu verhältnismäßigen Einzelmaßnahmen verpflichten. Enthielte das Gesetz eine darüber hinausgehende Verpflichtung, müsste es wohl verfassungskonform ausgelegt und darauf reduziert werden. Eine grundsätzliche Verpflichtung zu Schutzmaßnahmen steht aus meiner Sicht auch nicht der erforderlichen Anpassung und Veränderung entgegen.
Sehr geehrter Herr Gallon,
vielen Dank. Ich möchte auch noch etwas nachtragen, das ich gerade erst gesehen habe. Nur zwei Tage vor Ihrem Beitrag hat sich Murswiek hier auf dem Verfassungsblog grundlegend gegen die Relevanz von Art. 2 Abs. 2 GG im gegebenen Zusammenhang ausgesprochen (https://staging.verfassungsblog.de/wie-wiegt-man-corona/):
“Die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet den Staat zum Schutz vor Eingriffen Dritter, nicht vor allgemeinen Lebensrisiken oder vor Naturkatastrophen. Zum Schutz vor Epidemien ist der Staat verfassungsrechtlich kraft des Sozialstaatsprinzips verpflichtet. Daraus ergibt sich nicht ein Optimal- sondern ein Minimalschutz, eine Pflicht zur Sicherung der Existenzgrundlagen. Auch wenn man eine prinzipielle Schutzpflicht bejaht, sagt dies nichts darüber, welche Mittel zum Schutz eingesetzt werden müssen und eingesetzt werden dürfen. Deshalb ist das Bestehen einer Schutzpflicht für die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Lockdown irrelevant. In der Abwägung kommt es nicht darauf an, ob der Staat zum Lebens- und Gesundheitsschutz prinzipiell verpflichtet ist, sondern darauf, wie groß die konkrete Lebens- und Gesundheitsgefahr ist, der mit den Freiheitseinschränkungen begegnet werden soll, und wieviel diese Freiheitseinschränkungen zur Zielerreichung beitragen.”
Mich überzeugt das.