Schweiz: Diktatur der Mehrheit reloaded
Am Sonntag stimmen die Schweizer_innen über die so genannte “Durchsetzungsinitiative” ab. Aus diesem Anlass und vielen weiteren, die alle einzeln aufzuzählen mich in die Depression stürzen lassen würde, stelle ich erneut auf den Blog, was ich vor mehr als sechs Jahren zum Thema “Wir sind das Volk” geschrieben habe:
57 Prozent der Schweizer stellen den Muslimen ihres Landes verfassungsrechtlich den Stuhl vor die Tür. Sie machen die Grundrechte ihrer Verfassung auf Glaubensfreiheit (Art. 15 I, II) und Schutz vor religiöser Diskriminierung (Art. 8 II) bedenkenlos kaputt, weil sie es für wichtiger halten, ihre nationale Toblerone-Identität rein und sauber zu halten.
52 Prozent der Kalifornier kicken das Recht von Schwulen und Lesben, in ihrer sexuellen Identität genauso anerkannt und respektiert zu werden wie Heteros auch, aus ihrer Verfassung: Die enthält künftig den Satz, dass nur Ehen zwischen Mann und Frau “valid or recognized in California” sein können.
Was haben diese beiden Vorgänge miteinander zu tun? Es geht beide Male um Verfassungsänderungen. Es geht beide Male um Plebiszite. Und es geht beide Male um Diskriminierung von Minderheiten.
Kann es sein, dass diese Dreifachparallele nicht ganz zufällig ist?
Verfassungsrecht ist Minderheitenschutz: Es schränkt das Recht der Mehrheit, auf Kosten der Minderheit Gesetze zu machen, ein. Plebiszite sind das Brecheisen, mit dem sich die Mehrheit trotzdem ihren Willen verschaffen kann: Na gut, sagt die Mehrheit. Dann knacken wir die Verfassung eben auf. Dann schreiben wir unseren Willen direkt in die Verfassung.
Zum Brecheisen taugen Plebiszite deshalb, weil sich daran der Anspruch knüpft, dass das “Volk” direkt entscheidet. Und das Volk ist bekanntlich der Souverän. Es ist immer so: Wenn sich jemand auf Souveränität beruft, dann heißt das, dass er nicht reden will. Dass er die Zustimmung der Anderen nicht braucht und nicht will. Dass er über die Anderen einfach drüberlatscht.
In Plebisziten entscheidet aber nicht das “Volk”, das ist ein großer Irrtum. In Plebisziten entscheidet die Mehrheit. Es wird gefragt: Machen wir es so? Wenn dann mehr als die Hälfte der Befragten den Finger hebt, dann machen wir es so. Und zwar auch die, die ihren Finger nicht gehoben haben.
Das klingt einfach, ist es aber nicht: Wer formuliert die Frage? Die Mehrheit wovon? Und was, wenn die Überstimmten die Entscheidung nicht akzeptieren, weil sie sagen, wir werden hier nicht überstimmt, sondern unterdrückt?
Plebiszitäre Mehrheitsdemokratie ist eine extrem voraussetzungsreiche Sache. Sie kann in kleinen, homogenen Gemeinschaften funktionieren, wenn diese sehr stabil sind und aus lauter Gleichen bestehen, die noch lange Zeit miteinander auskommen müssen. In der antiken Polis beispielsweise – vorausgesetzt, die Frauen und Habenichtse sind von vornherein nicht mit dabei. Oder im idyllischen Innerrhoden, wo man sich ohne Alphorn und Almöhibart vermutlich kaum noch auf die Straße trauen kann.
Diese Voraussetzungen sind aber weit und breit nirgends gegeben, und zwar – face it, Eidgenossen! – auch in der Schweiz nicht. Statt unter lauter Gleichen zu leben, müssen wir überall mit Differenz zurecht kommen. Müssen reden und verhandeln und anerkennen und gemeinsame Grundlagen bauen, und mit Abstimmen und Majorisieren kommen wir keinen Schritt weiter.
Viele glauben, genau das sei der eigentliche Skandal. Das sei gefährlich für die Demokratie, dass wir nicht mehr einfach abstimmen können über die Dinge. Dem müsse man entgegensteuern, und zwar mit den Mitteln des Verfassungsrechts. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte mal eine Phase, wo es in diese Richtung tendierte.
Diese Medizin, davon bin ich überzeugt, ist viel gefährlicher als die vermeintliche Krankheit. So gehen Verfassungen kaputt. Kalifornien, Musterland der plebiszitären Demokratie und einer Verfassung unterworfen, die zu den Ältesten der Welt gehört, wird inzwischen von manchen als “failed state” bezeichnet. Der Schweiz kann man nur zurufen: Macht nur so weiter.
Ein paar Fakten zur Schweiz:
– Letzter bewaffneter äußerer Konflikt während der Napoleonischen Kriege.
– Letzter bewaffneter innerer Konflikt 1847 mit ca. 80 Toten.
– Seit 100 Jahren eine stabile Währung, die den Bürgern die Vermögensbildung sichert und für nahezu ständig wachsenden Wohlstand sorgt.
– Vier offizielle Sprachen und eine ethnisch diverse Bevölkerung und einem gut integriertem Ausländeranteil von 25% ohne größere Spannungen.
– Ein wirtschaftlich überaus erfolgreiches Land mit einem hohen Exportanteil und hervorragender Bildung.
– Ein äußerst stabiles politisches System mit der weltweit wohl besten Einbindung der Bürger in die politischen Entscheidungsprozesse.
Ein paar Fakten zu Deutschland:
– Ursächlich Beteiligung an zwei Weltkriegen mit Millionen Toten in ganz Europa und hinreichend bekannten Kriegsverbrechen.
– Aktuell in mindestens drei Kriegseinsätzen und diversen anderen Auslandseinsätzen involviert mit dutzenden toten deutschen Soldaten.
– Gegenwärtig mit der dritten instabilen Währung innerhalb von hundert Jahren unterwegs.
– Die hart erarbeiteten Vermögen von zwei Generationen wurden durch Inflation und Kriege aufgefressen.
– Deutlich erkennbare Ghettoisierung durch nicht integrierte Zuwanderer.
– Eine vielzahl von Gewalttaten gegen Zuwanderer und eine vielzahl von Straftaten durch Zuwanderer.
– Eine ausgeprägte Politikverdrossenheit und eine deutlich gefährdete Stabilität des politischen Systems durch regelmäßige Entscheidungen gegen die Bevölkerungsmehrheit.
Glauben Sie, Herr Steinbeis, vor diesem Hintergrund wirklich in der Position zu sein sich in dieser Weise über die Schweiz herablassend zu äußern?
Ist es auf dauer klug in einer vorgeblichen Demokratie Entscheidungen gegen die Mehrheit der eigenen Bürger zu treffen?
Im übrigen setzt man mit einer Architekturentscheidung nicht die Religionsfreiheit aus. Meine Kirche hat auch keinen Turm und meine Gebete werden trotzdem erhört.
Frau Perry und Frau Stier haben im übrigen zwischenzeitlich in Kalifornien standesamtlich geheiratet. :-)
“Frau Perry und Frau Stier haben im übrigen zwischenzeitlich in Kalifornien standesamtlich geheiratet.”
Ja, weil es dort eine Bundesverfassung gibt, in der das Recht auf Gleichbehandlung (14. Verfassungszusatz) über dem Plebiszit steht.
In Deutschland wird überhaupt nicht gefordert, dass bei verfassungsändernden Volksentscheiden nicht die 2/3-Mehrheit nötig sein soll.
Und Bürger haben auch schon so gewählt, dass Parteien in eine Regierung gekommen sind, die populistische Politik für ihre Klientel auf Kosten von Minderheiten gemacht haben. Selbst kleine Koalitionspartner können großen Einfluss auf Verfassungsänderungen oder auf die Verhinderung davon haben.
> Ja, weil es dort eine Bundesverfassung gibt, in der das Recht auf Gleichbehandlung (14. Verfassungszusatz) über dem Plebiszit steht.
Soll ich Ihnen etwas verraten? Selbst die Schweizer angebliche Diktatur hat eine Bundesverfassung welche Grundrechte kennt, die durch keine Volksabstimmung ausgehebelt werden können.
Die Schweiz beweist seit Jahrzehnten das man keine Angst vor dem eigenen Volk zu haben braucht. Die Erfahrungen der deutsche Geschichte und die Gegenwart lassen mich im Hinblick auf den Zustand von Deutschland und der EU Schlimmes befürchten.
Eine “Elite” die immer alles besser kann und besser weiss als das Volk und deswegen regelmäßig die eigenen Gesetze bricht. Uns ist wahrlich zu gratulieren, dass wir in keiner “Dikatur des Volkes” leben müssen.
Wenn sie brav sind, kein Fotohandy mitbringen und nichts davon erzählen, dürfen unsere Abgeordneten in einer Dunkelkammer sogar die Verträge lesen, über die sie abstimmen sollen.
Das ist doch mal was! :-)
Noch ein paar Fakten zur Schweiz:
– Frauenwahlrecht seit 1971, das ist doch mal was.
– Im Demokratieranking einer schweizer Uni ziemlich weit hinter Deutschland, u.a. wegen mangelhafter Gewaltenteilung, wenig Politikbeteiligung, Intransparenz und zu großem Einfluss bestimmter reicher Personen auf die (Partei-)politik. http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Die-besten-Demokratien–Schweiz-weit-abgeschlagen/story/20819716
– Nationalrat ist gleichzeitig Chefredakteur und Verleger einer großen Zeitschrift. So weit hat es nicht mal Berlusconi getrieben.
Und dann noch ein Fakt zu Ihnen, Herr Keefer: Nach allen Meinungsumfragen dürften Sie mit Ihren Ansichten in Deutschland in der Minderheit sein. Wie wäre es mit einem Referendum über Ihre Ausweisung?
Regiert in einem Parlament keine “Diktatur der Mehrheit”?
Muss sich die Minderheit dort nicht genauso unterordnen?
Die Krux, dass 51% eine Norm für 100% definieren dürfen, und die restlichen 49% sozusagen “unterdrückt” werden, ist so oder so vorhanden. Und das kann praktisch genauso konkret Minderheiten in der Bevölkerung treffen, parlamentarisch wie “direkt”.
Ich halte es für einen Irrweg, dieses oder jenes demokratische System als das pauschal bessere hinzustellen. Wenn das Volk weiser ist als das Parlament – kommt durchaus mal vor – dann sollte das Volk direkt regieren. Wenn nicht, dann nicht.
Die parlamentarische Demokratie in Deutschland hat es fertig gebracht, sich am Individuum zu vergreifen und ein Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen auszusprechen. Die Schweizer hingegen haben sich in marginaler Weise an einer Gebäudeform vergriffen.
Oder das Beispiel Sterbehilfe: 70%-80% in Deutschland sind für eine liberale Handhabung wie in der Schweiz. Was macht das Parlament? Es verschärft das Strafrecht.
Die Verfassung ist doch so oder so das Instrument, mit dem die Demokratie eingeschränkt wird. Nicht alles, für das es eine Mehrheit gibt, ist auch “erlaubt”. Ich kann nur hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht die Verschärfung des Strafrechts im Bereich der Sterbehilfe wieder aufhebt. Hätten wir das direkt demokratisch entschieden, müsste ich darauf nicht hoffen und hätte bereits jetzt ein ganz wesentliches Grund- und Menschenrecht mehr…
> Die Krux, dass 51% eine Norm für 100% definieren dürfen, und die restlichen 49% sozusagen „unterdrückt“ werden, ist so oder so vorhanden.
Sie werden es nicht glauben, aber in einem Geniestreich schaffen es EU-Institutionen mittlerweile dieses zentrale Problem demokratischer Systeme abschließend zu bewältigen: Man vermeidet die Abstimmung, weil man weiß wie sie auszugehen hat!
Mario Draghi brachte es vor einigen Monaten auf den Punkt:
“… there was a large majority on the need to trigger it now, and so large that we didn’t need to take a vote.”
@ JLP: Die Alternative zum Referendum über die Ausweisung von GK könnte ein Referendum über die Abspaltung von Bundesländern aus der Bundesrepublik und ein Beitrittsgesuch zur Schweizerischen Eidgenossenschaft sein. Der CSU-Landtagsabgeordnete Steffen Vogel hat schon die Abspaltung des Freistaates thematisiert. Und in Sardinien gibt es eine Gruppe, die aus Enttäuschung über den ihrer Meinung nach dysfunktionalen Zentralstaat den Anschluss der Insel an die Eidgenossenschaft als „Canton Marittimo“ propagiert (http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/schweiz/schweiz-sda/Mit-Haut-und-Haar-zum-27-Kanton-der-Schweiz;art46447,404115).
@MS: Die Depressionsgefährdung rührt vielleicht auch von einer überspannten Erwartung an den Weltgeist. Durch den Prozess des Weltgeistes mag sich der „Endzweck“ der Weltgeschichte realisieren und zwar als „Vernunft in der Geschichte“. Aber der Weltgeist fährt nicht auf einer schnurgeraden sechsspurigen Magistrale durch die Weltgeschichte, sondern schreitet dialektisch voran. Und im Übrigen ist der Fortschritt eine Schnecke (Günther Grass): im Kanton Appenzell Innerrhoden wurde 1990 auch das Stimmrecht für Frauen eingeführt. Aber immerhin eine Schnecke.
> Die Alternative zum Referendum über die Ausweisung von GK könnte ein Referendum über die Abspaltung von Bundesländern aus der Bundesrepublik und ein Beitrittsgesuch zur Schweizerischen Eidgenossenschaft sein.
Jetzt wird’s konstruktiv! Die übrigen Bundesländer könnten sich dann vielleicht “Klein-EU” taufen und direkt aus Brüssel regiert werden.
Seltsam vernünftig diese Schweizer.
Eigentlich dürften die gar nicht so vernünftig sein. Denn so können andere darauf kommen, dass Politik auch ohne Parteienkartell, Personenkult und gut geschierte “Eliten” auskommen kann. Man fragt das Volk, bekommt eine Antowrt und gut ist.
Das Schweizer System hat sich bewährt, das Land ist traditionell politisch und wirtschaftlich stabiler, als die Staaten Europas. Und das, obwohl in den meisten Kantonen gar keine reine direkte Demokratie existiert, im Verhältnis zu den Staaten Europas hingegen schon. Das große Europa könnte viel von der kleinen Schweiz lernen, wenn es sich denn traut.
Es ist nun unfraglich, dass die Schweiz im Verhältnis zu Deutschland und Europa geradezu ein demokratisches Vorbild ist. Denn es ist weit demokratischer, einen Entscheid der Mehrheit der eigenen gesamten Bevölkerung umzusetzen, als nur eines einzelnen relativ willkürlich handelnden Regierungsmitglieds oder weniger entscheidender Personen, was eher dem Demokratieverständnis der DDR entsprechen dürfte.