11 August 2020

Sehr gut, Gut, Akzeptabel

Für ein besseres Wahlgesetz noch zur Bundestagswahl 2021

Die große Koalition hat es mit ihrer Mehrheit also geschafft. Sie hat im Innenausschuss des Bundestags einen gemeinsamen Antrag von Grüne, Linke und FDP nicht ans Plenum verwiesen und damit auf die lange Bank geschoben. Dieser hatte vorgesehen, das Wahlgesetz so zu ändern, dass der Bundestag verkleinert wird. Der abgelehnte Vorschlag lief darauf hinaus, die Wahlkreise von 299 auf 250 zu verringern. Da aber demnächst in den Wahlkreisen schon mit den innerparteilichen Vorbereitungen für die Kür der KandidatInnen begonnen wird und die Sommerpause des Parlaments ansteht, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Koalition dies noch rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl ändert. Zwar bastelt man bei der CDU/CSU an eigenen, quantitativ eher bescheidenen Überlegungen mit dem Ziel, dass einige Direktmandate wegfallen, aber es ist höchst unklar, ob daraus überhaupt etwas wird, ein Gesetzentwurf rechtzeitig kommt, was die SPD dazu sagt und vor allem, ob das juristisch dann Bestand haben wird.((Der Tagesspiegel, Kann der Bundestag jetzt noch Wahlkreise abschaffen?, 16.7.2020))

Die Ausgangslage

Kann es eine Lösung geben, die die Zahl der Wahlkreise prinzipiell konstant hält und trotzdem die Anzahl an Abgeordneten verringert? Die vielleicht dabei sogar noch die Treffsicherheit des Wahlprozesses erhöht? Diese beiden Fragen sollen hier mit Ja beantwortet werden. Die Ausgangslage ist bekannt. Der Bundestag hat regulär 598 Sitze. Bei der letzten Wahl mussten aber dazu 111 Überhangmandate verteilt werden, so dass er faktisch nun 709 Abgeordnete zählt, die größte Anzahl in seiner Geschichte. Überhangmandate kommen dann zustande, wenn die Direktmandate so ungleich verteilt sind, dass sie sehr viel mehr Sitze für eine Partei ergeben würden, als diese an Zweitstimmen erhalten hat. Und da unser Wahlsystem aus gutem Grund((Ein kleiner Blick in die USA zeigt, wohin es führt, wenn nicht mehr die Mehrheit der Stimmen für einen Präsidenten, sondern ein veraltetes und ungleiches Delegiertensystem entscheidet. Weder Donald Trump 2016 noch George W. Bush 2000 wären gewählt worden, sondern Hillary Clinton und Al Gore.)) grundsätzlich als Verhältniswahlrecht konzipiert ist, müssen die anderen Parteien in einem solchen Fall durch zusätzliche Sitze kompensiert werden. Weiter verkompliziert wird das dadurch, dass dieser Ausgleich aus Föderalismusgründen primär auf Landesebene durchgeführt wird. 

Die institutionelle Blockade, hier so schwer etwas ändern zu können, liegt darin begründet, dass die Direktmandate zwar nicht eigentlich wahlentscheidend sind, deren InhaberInnen aber eine faktische Vetomacht innehaben. Direktmandate werden vor allem von den größeren Parteien errungen, auch wenn diese insgesamt in der Wählerattraktivität abnehmen. Das ergibt eine Diskrepanz. „Sie schlägt sich nieder in einer Fraktionszusammensetzung, bei der die größte Regierungsfraktion regelmäßig zu 3/5 bis 2/3 aus Direktabgeordneten besteht.“((Philip Manow, Dimensionen der Disproportionalität–Erststimmen und Direktmandate in den Bundestagswahlen von 1953 bis 2009, Politische Vierteljahresschrift 51, No. 3, 2010, S. 433-55., S. 453.)) Man sollte also nach einer Lösung Ausschau halten, die die Zahl der Direktmandate wenigstens formal nicht verringert und auch ihre Bedeutung einer direkteren regionalen Verankerung nicht schmälert.

Die Bedeutungsdimension bei den WählerInnen nimmt deutlich ab. Immer weniger InhaberInnen von Direktmandaten haben eine wirkliche Mehrheit, also mindestens 50% der gültigen Erststimmen. 2017 waren es unter den 299 Direktmandatierten bei der CDU gerade noch 8 Abgeordnete, bei der CSU 5, bei der SPD wie allen anderen Parteien 0. Das klägliche Häufchen markiert einen Riesenunterschied selbst zur vorherigen Bundestagswahl 2013, bei der die alten Volksparteien auch schon im Abstieg begriffen waren. Damals waren es bei der CDU immerhin noch 64, bei der CSU 36, und bei der SPD 2 Abgeordnete mit über 50% Zustimmung in ihren Wahlkreisen. Die logische Schlussfolgerung daraus ist, für die aussagemäßig immer schwächer gewordene Erststimme künftig mehr als eine einzige Präferenz zu fordern. Viel mehr WählerInnen hätten so Einfluss auf die Entscheidung, wer ihre Region im Bundestag vertritt, und zwar auch dann, wenn ihr(e) jeweilig meistgewünschte KandidatIn keinen Erfolg hätte.

Approval Voting und Condorcet

Solche Abfragen von Mehrfachpräferenzen können unterschiedlich gestaltet werden. Die einfachste Lösung ist die sogenannte Zustimmungswahl (‚Approval Voting‘), die vor allem in den USA zunehmend bei Wahlen zu Leitungsgremien von Berufsverbänden eingesetzt wird. Dabei können die WählerInnen alle KandidatInnen, die sie für akzeptabel halten, auf dem Wahlzettel ankreuzen und die Person mit dem höchsten Stimmenanteil, bzw. bei mehreren SiegerInnen die mit dem höchsten Stimmenanteil über 50%, gewinnt. Dieses Verfahren hat allerdings den Nachteil, so gar keine Unterscheidungen zu erlauben. Ob ‚begeisterte Zustimmung‘ oder ‚wenn sein muss, geht die Person auch gerade noch‘ oder etwas dazwischen, hier ist immer ein Kreuz mit gleicher Gewichtung zu machen. Das entspricht sicher bei vielen WählerInnen nicht dem Grad der Ausdifferenzierung in der politischen Positionierung.

Auf dem Gegenpol des Spektrums möglicher Berücksichtigung von Mehrfach-Präferenzen steht eine weit kompliziertere Lösung. Sie reiht sämtliche KandidatInnen, um sogenannte ‚Condorcet‘-Lösungen zu ermöglichen.((Ein französischer Mathematiker des 18. Jahrhunderts mit grundsätzlichen Arbeiten zu Entscheidungsproblemen- und verfahren.)) Dazu werden paarweise Vergleiche angestellt und der Gewinner/die Gewinnerin muss alle anderen schlagen. Wenn das nicht möglich ist, bleibt der Sitz leer. Auch das findet Fürsprecher, unter anderem in diesem Blog, und ist kürzlich in einer Ökonomiezeitschrift wieder einmal für den Bundestag als Reform bei den Erststimmen vorgeschlagen worden. Aber wirklich praktikabel erscheint das nicht. Es gibt mittlerweile jede Menge Kleinstparteien und wer will schon in der Wahlkabine darüber nachdenken müssen, ob die Kandidatin einer Tierschutzpartei dem Kandidaten einer angeblichen Familienpartei vorzuziehen ist, und wo man da noch im Vergleich die Vertreterin der Seniorenbewegung oder das lokale Aushängeschild einer Spaßgruppierung einzuordnen hat?

ExCumLex

Ich schlage deshalb eine dazwischenliegende, sehr praktikable Variante vor („ExCumLex“). Statt bei DirektkandidatInnen auf dem Wahlzettel wie jetzt nur eine Spalte vorzusehen, wo man maximal ein einziges Kreuz hinter einem Namen machen darf, könnte es derer drei geben. Sie würden etwa mit ‚Sehr gut‘, ‚Gut‘, ‚Akzeptabel‘ betitelt und alle WählerInnen könnten so viele KandidatInnen, wie sie oder er für sinnvoll halten, in einer der drei Spalten ankreuzen. Und zwar nur in einer, Häufungen von Stimmen für eine Person bleiben ausgeschlossen. Z.B. könnte so eine fiktive Thüringer Wählerin und sehr zufrieden mit ihrer von Ramelow geführten Koalition im Lande auch bei der Bundestagswahl 2021 eine solche Kombination vorziehen und in ihrem Wahlkreis deshalb den für sie auch persönlich überzeugenden Kandidaten der Linken als ‚Sehr gut‘ bewerten. Aber sie könnte auch die beiden Kandidatinnen von Grünen und SPD, sozusagen als Ersatz, wenn es für ihre Erstpräferenz nicht reichen sollte, noch als ‚Gut‘ ankreuzen. Und vielleicht würde sie auch an den Kandidaten der CDU noch ein ‚Akzeptabel‘ vergeben, um einen sonst eventuell drohenden Sieg des regionalen AfD-Vertreters zu verhindern helfen.

Die Auswahl der MandatsträgerInnen wäre trotz der relativ vielen erhobenen Informationen bei einer solchen Regelung eigentlich sehr einfach. Zuerst werden die ‚Sehr gut‘ ausgezählt. Gibt es dort eine Mehrheit über 50%, ist diese Person gewählt. Und sind es sogar mehrere, gewinnt die mit dem höchsten Wert. Kommt es, wie oft sehr wahrscheinlich, auf dieser ersten Ebene nicht zu einem positiven Ergebnis, werden in einem zweiten Schritt ‚Sehr gut‘ und ‚Gut‘ zusammengezählt. Die virtuelle Frage an die WählerInnen lautet hier: Gibt es KandidatInnen, die Sie ‚sehr gut‘ oder ‚gut‘ finden? Beim Beispiel der Thüringer Wählerin wären für diese jetzt noch drei KandidatInnen im Auszählungstopf. Und wieder wird dann nach einer oder der größten Stimmenmehrheit über 50% geschaut. Führt auch dies zu keinem Ergebnis, werden schließlich noch die Nennungen von ‚Sehr gut‘, ‚Gut‘ und ‚Akzeptabel‘ zusammengefasst und erneut ausgezählt. Die Beispiels-Thüringerin hätte jetzt sogar für vier Personen ihre Zustimmung signalisiert. Kommt es auch bei diesem letzten Schritt nicht zu einem Ergebnis über 50%, bleibt der Direkt-KandidatInnensitz in diesem Wahlkreis leer. Hier war niemand Persönlichkeit genug und mit überzeugender Programmatik auftretend, um eine Mehrheit der Wahlberechtigten hinter sich zu versammeln.

Das ExCumLex Verfahren hat eine ganze Reihe Vorteile: Formal setzt es relativ ausdifferenziertere Meinungen, so wie sie in der politischen Sphäre häufig sind, sehr gut in Entscheidungen um.((Gerd Grözinger, Entscheidungskompetenz und Abstimmungslogik. Zur Wahl von Wahlverfahren, nebst Vorstellung einer neuen Variante, Staatswissenschaft und Staatspraxis, No. 2, 1996, S. 195 – 232.)) Es ist außerdem transparent und nicht allzu kompliziert. Skalen von drei (oder auch vier, wenn man noch weiter differenzieren will) kennt man z.B. von Schulnoten. Damit kann jede und jeder umgehen. Und niemand muss hier mehr ankreuzen, wenn nicht gewünscht. Man kann genauso gut auch gar kein Kreuz machen, so wie jetzt, oder sich auf nur eine Person beschränken und alle anderen damit ablehnen. Es bietet aber definitiv mehr Möglichkeiten als vorher. Man muss bei einer Präferenz für KandidatInnen einer regional kleineren Partei seine Stimme nicht einfach verschenken oder innerlich etwas knurrend eine ‚Leihstimme‘ anderswo vergeben, sondern kann jetzt seine Vorlieben klar demonstrieren und trotzdem noch einen Einfluss über die jetzt mögliche Angabe von Ersatzpräferenzen auszuüben. Umgekehrt müssen die KandidatInnen selbst der größeren Parteien nach einer solchen Änderung nicht mehr nur ihre Kernklientel bedienen, sondern zusätzlich noch versuchen, auch die Folgepräferenzen von WählerInnen anderer Couleur anzusprechen. In Zeiten, in denen im Bundestag und auch in Landtagen Koalitionen mehrerer Parteien immer wahrscheinlicher werden, ist die Stärkung der Position nachgewiesen integrativer Abgeordneter vermutlich kein Nachteil für das demokratische Miteinander.

Eine starke Reduzierung der Bundestagsgröße darf man aus zwei Gründen erwarten. Zum einen ist es sehr wahrscheinlich, dass etliche Direktmandate nicht besetzt werden können, weil die erforderlichen 50% selbst bei der Berücksichtigung aller Folgepräferenzen nicht erreicht werden dürften. In vielen Fällen sind die Gräben zwischen den AnhängerInnen der Parteien doch zu tief, um politischen Gegnern wenigsten ein ‚Akzeptabel‘ zukommen zu lassen. Unbesetzte Direktmandate bei einer festgelegten Anzahl von Mindestsitzen für das Parlament erhöhen aber direkt den Spielraum für die Listenmandate und mindern den eventuellen Bedarf an Überhangsmandaten. Zum anderen, und das ist vermutlich die weit bedeutendere Wirkung, gehen nach dem gegenwärtigen System der nur relativen Mehrheit die Direktmandate weit überproportional an die größeren Parteien, vor allem auf die konservative Seite. Die Wahl 2017 ergab 231 Direktsitze für die CDU/CSU, 58 für die SPD, 5 für die Linke, 2 für die AfD, 2 für Grüne/Bündnis90, 0 für die FDP und 2 Sitze gingen noch an (heute) Fraktionslose. Das entspricht einem 77%-Anteil für die CDU/CSU und ist damit weit von ihrer Position bei den Zweitstimmen entfernt. Mit der Reform würde sich diese eklatante Schieflage stark abbauen und die Erststimmenverteilung mehr der Zweitstimmenverteilung annähern, indem sie kleinere Parteien stärkt. Die Zahl eventueller Überhangsmandate würde somit verringert. Das ist eine durchaus realistische Annahme, wie eine simulierte Landtagswahl von Baden-Württemberg 2011 zeigt.((Joachim Behnke and Florian Bader, Die Ermittlung von Wahlkreissiegern mithilfe von Approval Voting. Eine Simulation anhand der baden-württembergischen Landtagswahl 2011, ZPol Zeitschrift für Politikwissenschaft 25, No. 4, 2015, S. 469-500.))

Schließlich wäre eine Auswertung der verschiedenen Muster an Präferenzen auch noch aus einem anderen Grund lehrreich: Nach einer Wahl beginnen Koalitionsverhandlungen und niemand kann genau sagen, welche Kombinationen eigentlich vom Wahlvolk gewünscht werden. Wenn man aber sieht, welche Gruppen von WählerInnen bei der Erststimme welchen Kandidatinnen anderer Parteien auch noch in welcher Intensität vertrauen oder eben durch Nicht-Ankreuzen eher misstrauen, hätten die Parteiführungen eine bessere Grundlage für ihre Einschätzung, ob eine Koalitionsvariante eine prinzipielle Zustimmung bei ihren WählerInnen finden oder eher nicht.

Approval für Approval Voting

Die Wahlbevölkerung scheint für eine Erweiterung ihrer Optionen bei Wahlen sehr offen zu sein, sie ohne Probleme zu verstehen und sie auch aktiv anzuwenden. In einem Experiment von Forschern der Universität Konstanz wurden 2008 in einem Gebiet (Messel) in Hessen die Zustimmungsbereitschaft von WählerInnen für mehrere KandidatInnen direkt parallel zur Landtagswahl erhoben. Das gleiche Verfahren wurde noch mal bei der Bundestagswahl 2009 in einigen Bezirken der Stadt Konstanz durchgeführt. Etwa die Hälfte der Wahlberechtigten hat daran teilgenommen. Obwohl ‚Approval Voting‘ ein relativ grobes Instrument für politische Präferenzen darstellt, wurde es doch stark genutzt. Im Durchschnitt wurden jeweils knapp 2 Stimmen pro WählerIn abgegeben. Die relative Mehrheit wählte 2 aus, gefolgt von der Gruppe derjeniger mit nur 1 Stimmabgabe und dann von denen mit 3. Noch mehr Kreuzvergaben waren dagegen selten zu beobachten. In Messel bestätigte die Verteilung der Stimmen im Experiment dabei auch das Ergebnis der Landtagswahl. Die siegreiche Kandidatin (SPD) erhielt nun über 50% der Stimmen, während sie bei der eigentlichen Wahl darunterlag. Ganz anders dagegen war die Situation im Konstanzer Fall: Offiziell war hier der CDU-Kandidat mit weniger als 40% der Stimmen der Gewinner. Bei einer Zustimmungswahl wäre es aber der Kandidat der Grünen mit über 50% geworden, gefolgt von jemandem aus der SPD, während der CDUler hier nur auf Platz 3 landete.((Carlos Alós-Ferrer and Ðura-Georg Granić, Two field experiments on approval voting in Germany, Social Choice and Welfare 39, No. 1, 2012, S. 171-205.))

Natürlich wird sich die bisher so stark begünstigte CDU/CSU der Berücksichtigung von Mehrfachpräferenzen bei Erststimmen mit Macht entgegenstemmen. Aber die SPD könnte vielleicht begreifen, dass für sie als mittlerweile nur noch kleinerer Partei darin auch eine große Chance liegen dürfte, sich wieder stärker regional zu verankern. Sie könnte deshalb beim Koalitionspartner wegen der Grundsätzlichkeit der Frage auf eine Freigabe der Stimmabgabe drängen, um dann zusammen mit Grünen, Linken, FDP eine Koalition der demokratisch Vernünftigen zu bilden. Denn es ist sicher in der Bevölkerung höchst unpopulär, an einem Wahlsystem, das zu einem sich noch weiter aufblähenden Parlament führt, nur deshalb festzuhalten, weil einflussreiche Personen einer einzigen Parteiengruppierung um ihre Pfründe fürchten.


5 Comments

  1. mq86mq Tue 11 Aug 2020 at 13:36 - Reply

    Ich würd zwar auch davon ausgehn, dass mit dem System weniger Überhangmandate entstehen würden (wohl eher wegen dem Quorum, das allgemein den Kern des Systems ausmacht), aber je nach tatsächlichem Wählerverhalten und künftiger Parteienlandschaft besteht doch ein deutliches Risiko, dass damit eine kleine Partei stark überhängt und eine 4-stellige Bundestagsgröße verursacht. So ein Experiment sollte man nicht ohne Deckelung machen.

    Bei der Statistik sollte man sich nicht zu viel erwarten. Dafür wär eine sehr viel komplexere Auszählung nötig als das, was zur Sitzverteilung gebraucht wird. Schon jetzt wird nichtmal die grundlegende Splittingstatistik ausgewertet, die auf der Ebene der Wahlbezirke eigentlich sowieso ermittelt wird (was bei dem Vorschlag sicher entfallen würde). Und die repräsentative Wahlstatistik kommt normalerweise nicht vor der Regierungsbildung raus.

  2. Politbuerokrat_in Tue 11 Aug 2020 at 15:16 - Reply

    “Bei der letzten Wahl mussten aber dazu 111 Überhangmandate verteilt werden” — Das ist sachlich falsch. Überhangmandate gab es nur 49. Sie hätte es auch in den Wahlsystemen von 1956-2009 gegeben. Überhangmandate wurden vom BVerfG auch nie beanstandet, solange sie den Parteienproporz nur gering verzerren.

    Ausschlag für die Verfassungswidrigkeit gab erst der Effekt der “negativen Stimmgewichte durch interne Überhangmandate”, d.h. Überhangmandate, die auftreten, wenn in einem Land eine Partei mehr Direktmandate erhält als sie in diesem Land Landeslistenmandate bekommen hat.

    Man entschied sich für Ausgleichsmandate, obwohl die Nachteile absehbar waren. Eine einfachere Lösung wäre gewesen, die Überhangmandate länderübergreifend zu verrechnen. Das hätte zwar den Länderproporz leicht verzerrt, allerdings sind wohl noch nie im Bundestag Kampfabstimmungen entlang von Länderinteressen geführt worden.

    Ihr Vorschlag, in bestimmten Situationen Direktmandate nicht zuzuteilen, ist nicht neu. Er ist damals und auch jetzt problematisch, weil MenschInnen in den betroffenen Wahlkreisen keine direkten Ansprechpartner mehr hätten. Das ist deutlich schlimmer als ungenauer Länderproporz.

  3. Martin Fehndrich Tue 11 Aug 2020 at 20:40 - Reply

    Das ist ja so verlockend. Man ändert einfach irgendwie die Wahl im Wahlkreis und hofft, daß sich am Ende die Direktmandate gleichmäßiger verteilen und zu weniger Überhangmandaten führen.

    Das kann je nach Wahlergebnis funktionieren. Es kann aber auch gehörig daneben gehen und zu noch mehr Überhang- und Ausgleichsmandaten führen.

    Der hier beschriebene Ansatz hat beispielsweise den Nachteil “mittlere” Kandidaten zu stützen, und zwar auch dann, wenn die mittlere Partei nicht die größte Partei ist. Die Folge könnten Überhangmandate für eine kleinere Partei sein und wegen der größeren Hebelwirkung zu besonders vielen Ausgleichsmandaten und einem besonders großen Bundestag führen.

    Am eigentlichen Problem des Bundestagswahlrechts ändert der Versuch eines halt anderen Erststimmenwahlsystems wenig (ebenso wie der Ansatz von Lembcke und Heber VerfBlog, 2018/12/04). Wahlkreiskandidaten müssen quasi doppelt über Erststimmen und Zweitstimmen gewählt werden und wenn das Wahlergebnis das nicht hergibt, entstehen Überhangmandate.

    • causb Thu 20 Aug 2020 at 22:03 - Reply

      @Martin Fehndrich
      Bei der ersten Bundestagswahl gab es zwei Überhangmandate aber kein Stimmsplitting, nur eine Stimme die für einen Wahlkreiskandidaten und seine Liste zählte.

      Das Problem war und ist, das ohne Berücksichtigung des Ergebnisses in den Wahlkreisen die nominal 598 Sitze proportional zugeteilt werden. Darüber mag man bei einem provisorischen Wahlrecht noch hinwegsehen …

      Lösung wäre mit dem Ergebnis der Wahlkreise die restlichen 299 Sitze per Höchstzahlverfahren proportionalisierend zuzuteilen (Exaktheit bezüglich der Proportionalität ist angesichts der 5% Hürde eh Unsinn).

      Für die letzte Wahl
      CDU 209 34,95 %
      SPD 145 24,25 %
      LIN 48 8,03 %
      GRÜ 45 7,53 %
      CSU 46 7,69 %
      FDP 40 6,69 %
      AFD 65 10,87 %

      Und ja, Wahlkreise zu gewinnen lässt einen ein wenig besser abschneiden.

      • Clovis Wed 26 Aug 2020 at 18:26 - Reply

        Lieber causb,

        Sie haben natürlich weitgehend recht, aber die Sache ist im Detail komplizierter. Ich werde das nicht aufdröseln, vielmehr versuchen den Punkt herausarbeiten, der politisch wichtig ist.

        Dazu ein paar Hintergrundinfos: Martin Fehndrich gehörte meines Wissens zu den Klägern, die das BVerfG-Urteil zu “negativem Stimmgewicht” erstritten haben, dem also der Schlamassel zu verdanken ist. Man kann davon ausgehen, dass er die Wahlrechtsprobleme, u.a. auch alle von Ihnen genannten Punkte/Ideen bestens kennt. Zudem steht er den Grünen nahe, vermutlich daher eher linken politischen Vorstellungen, was natürlich unschwer erkennbar auch für den Autor Gerd Grözinger gilt, wobei Fehndrich bei Wahlrechtsthemen mit weitaus geringerem weltanschaulichen Bias argumentiert.

        Bei Grözinger wird deutlich, dass es die Überhangmandate alten Zuschnitts sind, die Linke stören und unbedingt vermeiden wollen. Der Grund liegt darin, dass seit der Wiedervereinigung das linke Lager in drei Geschmacksrichtungen aufgesplittert ist und der Gewinn von Linken Überhangmandaten seither schwieriger geworden ist. Aber noch die Schröder Regierung konnte von Überhangmandaten profitieren, daher haben sie damals auch niemanden gestört.

        Ihre Lösung würde zwar technisch Überhangmandate beseitigen, (und nebenbei ohne Listenverbindungen auch das negative Stimmgewicht) aber es würde ein analoger proporzverzerrender Effekt eintreten, der noch stärker als bei den alten Überhangmandaten wäre. Daher wird es dafür definitiv keine linke Unterstützung geben.

        Die Proporzverzerrung ist natürlich technisch irrelevant, aber man kann wie Sie argumentieren, dass Wähler durch Stimmensplitting und Überhangmandate versuchen können, ihr individuelles Stimmgewicht zu vergrößern im Vergleich zu tumben Einparteienwählern. Es ist vielsagend, dass Grözinger etwas vorschlägt, dass diesen Effekt im Kern verstärkt. Natürlich schafft sein approval voting einen Anreiz, möglichst viele Parteien anzukreuzen, um das individuelle Stimmgewicht zu vergrößern. Konsequenter Weise hätte er natürlich gleich auf die Listenstimme und deren Auswertung verzichten sollen, schließlich haben die Wähler ja schon eine Zweit- (genauer: x-fach) Stimme und die gewaltigen Hausgrößen, auf die Fehndrich völlig zurecht hinweist, wären auch verschwunden.

        Was Grözinger mit dem Satz “Hier war niemand Persönlichkeit genug und mit überzeugender Programmatik auftretend, um eine Mehrheit der Wahlberechtigten hinter sich zu versammeln.” meint, bleibt wohl für immer sein Geheimnis, angesichts eines Wahlrechts bei dem ein Wäler 1, 2, 3, 10, oder so viele Stimmen wie Kandidaten (sinnvoller Weise N-1) abgeben kann. Es ist aber zweifelos der bizarrste Vorschlag zum Thema.

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