Selbstbestimmung schließt Vertretung nicht aus: Die Mär von der demokratienotwendigen Höchstpersönlichkeit der Wahl
Gerade hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass der Ausschluss vollbetreuter Menschen vom Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verfassungswidrig ist. Diese Entscheidung ist richtig, und sie war überfällig. Denn das Wahlrecht ist das bedeutendste Recht der Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Staat. Dass es aber, wie die Verfassungsrichter in ihrem Beschluss ebenfalls anmerken, von Verfassungs wegen zwingend ein höchstpersönliches Recht ist, gehört zu den Leerformeln des deutschen Staatsrechts, die nicht richtiger werden, je häufiger man sie wiederholt.
Selbstbestimmung schließt gesetzliche Vertretung aus
Freilich: Das Bundeswahlgesetz bestimmt explizit, dass das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nur persönlich ausgeübt werden kann (§ 14 Abs. 4 BWahlG). Und dies erscheint mit Blick auf Art. 20 Abs. 1, 2 GG zunächst auch unmittelbar einleuchtend, denn das Demokratieprinzip organisiert staatliche Herrschaft als Selbstbestimmung und Selbstregierung des Volkes. Dies verlangt, so ließe sich argumentieren, dass der Wahlberechtigte selbst handelt, seine Stimme also höchstpersönlich abgibt. Selbstbestimmt handeln und selbst handeln ist aber nicht dasselbe.
Selbstbestimmt als Freie und Gleiche am Prozess der politischen Willensbildung teilzunehmen, setzt Sach- und Selbsteinsicht in politischen Angelegenheiten voraus – das Bundesverfassungsgericht spricht von der Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen (u.a. Rn. 45). Diese Fähigkeit wird in der Demokratie grundsätzlich allen zugetraut. Die Herrschaftsform der Freien und Gleichen unterstellt die Fähigkeit zu Willensfreiheit und gleicher Urteilskraft – und zwar unabhängig davon, ob sich diese Fiktion im Einzelfall in einer vernünftigen Wahlentscheidung manifestiert. (Woran sollte eine solche auch zu messen sein?)
Wo diese politische Einsichtsfähigkeit aber fehlt, etwa unterhalb eines notwendigerweise pauschal zu bestimmenden Wahlalters, scheidet Selbstbestimmung von vornherein aus. Sie kann auch nicht durch gesetzliche Vertretung hergestellt werden, denn diese erweitert zwar die rechtlichen Möglichkeiten des Vertretenen, sie tut dies aber unter den Vorzeichen von Fremdbestimmung. Deshalb – nicht wegen eines angeblichen Höchstpersönlichkeitsgrundsatzes – ist eine Betreuerbestellung für das Wahlrecht wegen fehlender politischer Einsichtsfähigkeit ebenso ausgeschlossen wie ein Familien- oder Kinderwahlrecht, verstanden als Wahlrecht von Geburt an, das bis zur Erreichung des Wahlalters durch die Eltern ausgeübt wird.
Dass Selbstbestimmung und Stellvertretung nicht per se unvereinbar sind, zeigt aber der Blick auf die gewillkürte Stellvertretung im Wahlrecht. Anders als beim Kinderwahlrecht ist Ausgangspunkt hier eine Person, der die Teilnahme am Prozess der demokratischen Kommunikation zugetraut wird. Sie äußert sich nur nicht in der persönlichen Stimmabgabe, sondern in der Entscheidung, einen Dritten mit der Wahrnehmung des Stimmrechts zu betrauen.
Ein Blick über den Tellerrand: Proxy vote und vote par procuration
Was in Deutschland fremd, ja geradezu absurd erscheint und vielen daher auch sofort als verfassungswidrig gilt – ein Reflex, der sich zuletzt auch bei der Debatte um ein Parité-Gesetz gezeigt hat (s. nur hier und hier) –, wird in Frankreich und Großbritannien seit langem praktiziert. Proxy vote bzw. vote par procuration erlauben dort den Wahlberechtigten, sich bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer Wahl vertreten zu lassen. Der Wahlberechtigte muss in der Regel lediglich darlegen, dass ihm die persönliche Stimmabgabe unmöglich ist – was bei Urlaubsreisen ebenso gilt wie bei Fortbildungen oder Krankheit.
Sofort erheben sich Einwände: Das ist doch keine Vertretung im Willen, nur in der Wahlhandlung! Der Wahlberechtigte bediene sich seines Proxys gleich eines Briefes, um seine höchstpersönlich getroffene Wahlentscheidung zu übermitteln.
Richtig daran ist, dass der Wahlberechtigte seinem Proxy in der Regel auftragen dürfte, wie er abstimmen soll – im britischen Formblatt heißt das: „You should let you proxy know how you want them to vote on your behalf“. Dies zu kontrollieren aber hat der Wahlberechtigte keine Möglichkeit, denn die Stimmabgabe durch den Stellvertreter unterliegt selbst dem Wahlgeheimnis – ja aus der Bevollmächtigung folgt nicht einmal die Pflicht, die vertretene Stimme überhaupt abzugeben. Insofern unterscheidet sich die Stellvertreterwahl deutlich von der Wahl mit einer Hilfsperson, wie wir sie im deutschen Wahlrecht kennen (§ 33 Abs. 2 BWahlG). Denn dabei ist der Wahlberechtigte selbst anwesend und kann das Handeln der Hilfsperson unmittelbar kontrollieren. Es dürfte daher auch kein Zufall sein, dass der Vertreter nach britischem wie französischem Wahlrecht anders als die Hilfsperson selbst wahlberechtigt sein muss: Proxy vote und vote par procuration erlauben eine Stellvertretung im Wahlrecht und verlangen deshalb, dass der Vertreter selbst über die zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess erforderliche Einsichtsfähigkeit verfügt.
Natürlich: Nur weil Großbritannien und Frankreich die Stellvertreterwahl kennen, muss eine solche in Deutschland nicht zulässig sein. Was unter Demokratie im Sinne des Grundgesetzes zu verstehen ist, bestimmt das Grundgesetz selbst. Die deutsche Verfassung aber ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern steht in einer gemeineuropäischen Tradition. Der Rechtsvergleich spricht daher dagegen, die Höchstpersönlichkeit der Stimmabgabe zum Wesen demokratischer Selbstbestimmung hochzustilisieren.
Die Wahlrechtsgrundsätze
Sofort erhebt sich der nächste Einwand: Aber die Wahlrechtsgrundsätze!
Natürlich: Ein Stellvertreterwahlrecht kommt bei lebensnaher Betrachtung zwangsläufig mit den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in Konflikt.
Dies gilt zunächst für den Grundsatz der geheimen Wahl, denn der Wahlberechtigte wird dem Vertreter in der Regel sagen, wie er abstimmen soll und damit seinen Wahlwunsch offenbaren. Das Wahlgeheimnis aber dient dazu, die Wahlfreiheit zu schützen. Deshalb wird die geheime Stimmabgabe im Wahlraum zur Pflicht des Wählers. Bei der Stellvertreterwahl aber geht es lediglich um die Offenbarung des Wahlwunsches und dies lediglich im Verhältnis zwischen Stimmberechtigtem und Vertreter. Das Wahlgeheimnis anderer wird dadurch nicht gefährdet, der Schutzzweck der geheimen Wahl ist daher von vornherein nur am Rande berührt.
Ein Stellvertreterwahlrecht kommt ferner mit dem Grundsatz der gleichen Wahl in Konflikt, denn es verschafft dem Stimmrechtsvertreter faktisch ein Pluralstimmrecht. Formal allerdings bleibt es dabei, dass jedem Wahlberechtigten genau eine Stimme zusteht – nicht das Stimmrecht selbst wird ausdifferenziert, sondern seine Ausübung. Dies unterscheidet die Stellvertreterwahl grundlegend von den historischen Ausprägungen eines Pluralwahlrechts. Und anders als diese, die an Umstände in der Person des Pluralstimmberechtigten selbst anknüpften (etwa an Vermögen, Bildung oder Stand), beruht das Pluralstimmrecht des Stellvertreters auf der freien Entscheidung des Wahlberechtigten, sich bei der Stimmabgabe vertreten zu lassen. Es ist folglich selbst Ausdruck von Selbstbestimmung – und es ermöglicht Selbstbestimmung, indem es als Form der Abwesenheitswahl die tatsächlichen Partizipationsmöglichkeiten erweitert. Insofern steht es auch im Dienste der Allgemeinheit der Wahl. Sofern gewährleistet ist, dass die Anzahl der Stimmrechtsvollmachten, die auf eine Person entfallen, begrenzt ist (in Frankreich in der Regel auf eine, in Großbritannien auf zwei) und der Stimmberechtigte seine Stimme bis zuletzt noch selbst abgeben kann, scheint das faktische Pluralstimmrecht der Stellvertreter daher rechtfertigungsfähig.
Schließlich ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl berührt, denn der Wahlberechtigte, der einen anderen mit der Ausübung seines Stimmrechts betraut, hat ja nicht mehr das letzte Wort, sein Wille wird mediatisiert. Von den klassischen Konstellationen einer mittelbaren Wahl unterscheidet sich die Stellvertreterwahl aber dadurch, dass die Vermittlung nicht nach der Stimmabgabe ansetzt, sondern bei der Stimmabgabe selbst bzw. davor – und dies auf Initiative des Wahlberechtigten selbst. Ist sichergestellt, dass der Wahlberechtigte sich bis zur Stimmabgabe durch den Vertreter noch umentscheiden und seiner Wahlpräferenz unmittelbar Ausdruck verleihen kann, erscheint das Ergebnis jedenfalls nicht mehr so eindeutig.
Selbst wenn man meint, die Unmittelbarkeit der Wahl verlange auch ihre Höchstpersönlichkeit, wird die höchstpersönliche Stimmabgabe aber nicht zu einem zwingenden Gebot demokratischer Selbstbestimmung, denn die Unmittelbarkeit gehört schon nicht zu den demokratienotwendigen Wahlrechtsgrundsätzen.
Gewillkürte Stellvertretung eröffnet Selbstbestimmung
All dies ändert nichts daran, dass es gute Gründe gibt, das Wahlrecht einfachgesetzlich als höchstpersönliches Recht auszugestalten. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die spezifischen Missbrauchsmöglichkeiten, die in einem Stellvertreterwahlrecht angelegt sind – etwa den Kauf oder die erzwungene Übertragung von Stimmrechten. Daraus lässt sich aber kein zwingendes Gebot der höchstpersönlichen Stimmabgabe ableiten. Denn auch andere Formen der Stimmabgabe, insbesondere die Briefwahl, aber auch die Hinzuziehung einer Hilfsperson, sind missbrauchs- und manipulationsanfällig. Von diesen Konstellationen aber wissen wir: Der Gesetzgeber darf gewisse Risiken für den Wahlvorgang in Kauf nehmen, um andere Wahlrechtsgrundsätze zu fördern (etwa BVerfGE 59, 119). Bei der Stellvertreterwahl wie bei der Briefwahl ist dies die Allgemeinheit der Wahl.
Ein Stellvertreterwahlrecht ist nicht zum Nulltarif zu haben und seine verfassungsrechtliche Bewertung hängt von seiner konkreten Ausgestaltung ebenso ab wie von der Gesamtkonzeption der wahlrechtlichen Regelungen. Zu behaupten, das Wahlrecht sei verfassungsrechtlich zwingend höchstpersönlicher Natur, aber verkürzt die Möglichkeiten demokratischer Selbstbestimmung unnötig.
Mit der Frage, ob dem Demokratieprinzip ein Gebot höchstpersönlicher Stimmabgabe zu entnehmen ist, hat sich die Autorin ausführlich im Rahmen ihrer Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin (Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M.) beschäftigt. Sie trägt den Titel „Liquid Democracy: Internet-basierte Stimmendelegationen in der innerparteilichen Willensbildung“ und wird demnächst erscheinen.
Problematischer kann es noch liegen, wenn man noch mögliche Gestaltungsformen bei Stellvertretungen, wie etwa Anfechtbarkeit, mit bedenkt.
Solch Gestaltungsformen können einige Unsicherheit in den Wahlprozess hineintragen. Das kann das Demokratieprinzip betreffen. Dies soweit hier Mehrheiten einige Unsicherheit insichbergen und entgegen einem Demokratieprinzip nur scheinbare Mehrheiten bestehen können.
Soweit man solche Gestaltungsmöglichkeiten dagegen nicht zulassen will, kann dies Wahlgrundsätze betreffen. So etwa einen Grundsatz der Gleichheit und Unmittelbarkeit von Wahlen. Dies soweit hier Entscheidungen nur mit Unsicherheit gleich und unmmittelbar dem Willen des eigentlich Berechtigten entsprechen können.
Bei solch möglicher beschwerender Betroffenheit von Demokratie,- oder von Wahlgrundsätzen kann unsicher sein, welch vorteilhafter Sinn dies rechtfertigend aufwiegen können soll.
Weniger möglicher vorteilhafter Sinn schiene dabei eventuell mehr Gestaltungsfreiheit. Dies weil mehr Gestaltungsfreiheit als durch Nichtwahl kaum zu erlangen sein kann. So jedenfalls nicht ohne entsprechende Nachteile, wie einer größeren Rechtsunsicherheit hinsichtlich von Demokratie-, oder Wahlgrundsätzen.
Ein vorteilhafter Sinn für Stellvertretung bei Wahlen kann weniger gewiss scheinen.
Das kann für grundsätzliche Unverhältnismäßigkeit und Unzulässigkeit von Stellvertretung bei Wahlen nach dem Grundgesetz in Deutschland sprechen.
So zumindest, soweit kein besonders wichtiger Grund für eine Stellvertretung erkennbar ist.
Die These
“Gewillkürte Stellvertretung eröffnet Selbstbestimmung”
möchte ich weiterentwickeln zu
“Gewillkürte Stellvertretung ermöglicht Stimmenkauf”.
… und Druck durch Familie, Gruppe, Arbeitgeber usw. weil durch Stellvertretung Geheimheit umgangen und Wähler auf Linie gebracht werden können.