Sind Verstöße gegen die Vorlagepflicht noch an Art. 101 GG zu messen?
Am 1. Juni 2021 hat das BVerfG den Beschluss des zweiten Senats zur Zulassung von Tierarzneimitteln veröffentlicht (s. den Beschluss und die Pressemitteilung). Die Beschwerdeführerinnen hatten unter anderem gerügt, das BVerwG habe gegen seine Vorlagepflicht nach Art. 267 UAbs. 3 AEUV verstoßen und damit auch ihr Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt. In der letzten Randnummer des Beschlusses heißt es, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig sei, scheide ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG aus. Aus der Formulierung geht hervor, dass das BVerfG – wenngleich es eine Verletzung vorliegend ohne nähere Prüfung verneint hat – davon ausgeht, dass Verstöße gegen die Vorlagepflicht an Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu messen sind. Das überzeugt jedoch nicht mehr; Maßstab der Prüfung muss vielmehr Art. 47 UAbs. 2 GRC sein.
Hintergrund sind die beiden Entscheidungen des ersten Senats Recht auf Vergessen I und Recht auf Vergessen II. Nachdem deren Kernaussagen mittlerweile auch vom zweiten Senat übernommen worden sind (hier und hier), kann man insoweit von einer gefestigten Rechtsprechung sprechen. Zur Erinnerung: Das BVerfG geht seit November 2019 davon aus, dass in unionsrechtlich volldeterminierten Bereichen ausschließlich die Grundrechte der Charta, nicht hingegen die des Grundgesetzes anwendbar sind. Prozessuales Pendant dessen ist die Tatsache, dass das BVerfG im Rahmen von Verfassungsbeschwerden auch Verstöße gegen Chartagrundrechte prüft. Die Abgrenzung zwischen voll- und teildeterminiertem Bereich ist anhand der Frage vorzunehmen, ob die in Rede stehenden unionalen Vorschriften „auf die Ermöglichung von Vielfalt und die Geltendmachung verschiedener Wertungen angelegt“ sind (hier, Rn. 80).
Zahlreiche Aspekte der Entscheidungen wurden bereits andernorts diskutiert.((S. insbes. die Beiträge von Kühling, NJW 2020, 275; Karpenstein/Kottmann, EuZW 2020, 185; Kämmerer/Kotzur, NVwZ 2020, 177; Wendel, JZ 2020, 157; Klein, DÖV 2020, 341; Edenharter, DÖV 2020, 349; Thym, JZ 2020, 1017; Scheffczyk, NVwZ 2020, 977; Classen, EuR 2021, 92; Swoboda, ZIS 2021, 66; Preßlein, EuR 2021, 247.)) Die Frage, ob sich aus Recht auf Vergessen II auch ein anderer Maßstab für die Verletzung einer unionsrechtlichen Vorlagepflicht ergibt, wurde jedoch – soweit ersichtlich – bislang nirgends aufgeworfen. Auch beide Senate des BVerfG scheinen nach wie vor davon auszugehen, dass insoweit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anwendbar ist (neben dem eingangs erwähnten Beschluss hier, hier und hier). Im Folgenden möchte ich darlegen, weshalb das meines Erachtens nicht mehr zutrifft. Ich will aber betonen, dass es sich hierbei nicht um ein fertiges Konzept handelt, sondern um erste Überlegungen; für Anregungen und Korrekturen, sollte ich etwas übersehen haben, bin ich selbstverständlich dankbar.
Vorlagebeschlüsse als volldeterminierte Akte: Drei mögliche Einwände
Sofern ein Gericht eines Mitgliedstaates nach Art. 267 UAbs. 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet ist, hat es – das ist ja das Wesen der Vorlagepflicht – keinen Spielraum bezüglich der Frage, ob es vorlegt. Mit anderen Worten: Der Aussetzungs- und Vorlagebeschluss ist ein unionsrechtlich volldeterminierter Akt deutscher Staatsgewalt. Wenn dies zutrifft, dann ist dieser Akt aber seit Recht auf Vergessen II an den Chartagrundrechten zu messen, genauer gesagt an Art. 47 UAbs. 2 GRC.
Man könnte einwenden, der EuGH überlasse es den mitgliedstaatlichen Gerichten, zu beurteilen, ob in einem bestimmten Verfahren eine unionsrechtliche Frage entscheidungserheblich ist (CILFIT, Rn. 10 f.). Ob es sich dabei wirklich um einen rechtlichen Spielraum handelt oder ob damit nur gemeint ist, dass nicht jeder Antrag eines Prozessbeteiligten auf Vorlage zur Vorlagepflicht führt, ist hier unerheblich. Jedenfalls bezieht sich diese Aussage nur auf die Frage, wann eine Vorlagepflicht besteht. Wenn aber eine Vorlagepflicht besteht, gibt es keinerlei Spielraum mehr, sondern muss von Unionsrechts wegen vorgelegt werden.
Zweitens ließe sich argumentieren, es liege gar kein Fall der Volldeterminierung vor, da das Unionsrecht nicht das gesamte prozessuale Verhalten des Gerichts (also z. B. auch sitzungspolizeiliche Verfügungen etc.) vollständig vorgibt. Letzteres trifft zwar zu, denn aus Art. 19 EUV, 47 GRC ergeben sich für das mitgliedstaatliche Prozessrecht als Ganzes bekanntermaßen nur gewisse Rahmenvorgaben (s. statt vieler Unibet ./. Justitiekansler, Rn. 37–44). Doch die Abgrenzung zwischen voll- und teildeterminiertem Bereich darf nicht in Bezug auf irgendeine Gesamtheit von Verhaltensweisen, sondern muss stets in Bezug auf ein ganz bestimmtes Verhalten – hier: den Erlass bzw. Nichterlass eines Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses – vorgenommen werden. Man kann ja auch nicht sagen, der Gesetzgeber sei bei Erlass einer bestimmten Vorschrift nicht volldeterminiert gewesen, nur, weil ihm bei Erlass einer anderen Vorschrift (gleichviel, ob in demselben oder einem anderen Gesetz) ein Spielraum zukam. Bestimmt man den Gegenstand, in Bezug auf den die Frage nach der Determinierung zu stellen ist, mit der gebotenen Präzision, gibt es daher keinen Zweifel an der Volldeterminiertheit. Auch die Anwendung des Abgrenzungskriteriums des BVerfG führt zu diesem Ergebnis: Die maßgebliche Norm des Unionsrechts – Art. 267 UAbs. 3 AEUV – ist mitnichten auf die Ermöglichung von Vielfalt und die Geltendmachung verschiedener Wertungen angelegt, sondern auf eine unionsweit möglichst einheitliche Vorlagepraxis, welche ihrerseits die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherstellen soll.
Auch der denkbare Einwand, dass laut BVerfG (vgl. hier, Rn. 25–32, und hier, S. 316) das Unionsrecht es von den Mitgliedstaaten nicht verlangt, einen Rechtsbehelf einzurichten, mit dem Verstöße gegen die Vorlagepflicht gerügt werden können, verfängt nicht. Denn vorliegend geht es um die Frage, ob ein Verstoß gegen Art. 267 UAbs. 3 AEUV zugleich einen Verstoß gegen Art. 47 UAbs. 2 GRC darstellt. Ob die Mitgliedstaaten auch zur Einrichtung eines Rechtsbehelfs verpflichtet sind, um gegen diese beiden Verstöße vorzugehen, ist eine ganz andere Frage (nebenbei: eine Frage, die anhand der Art. 19 UAbs. 2 EUV, 267 AEUV und 47 UAbs. 1 (!) GRC zu beantworten ist). Mit anderen Worten gilt nur, dass es beispielsweise nicht gegen das Unionsrecht verstieße, wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber die Verfassungsbeschwerde abschaffte. Zur Frage, ob Verstöße gegen die Vorlagepflicht zugleich Art. 47 UAbs. 2 GRC verletzen (und im Wege einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden können), ist damit nichts gesagt.
Folgen: Absenkung des Schutzniveaus?
Was für Folgen hat es nun, wenn Verletzungen der Vorlagepflicht seitens der Fachgerichte an Art. 47 UAbs. 2 GRC zu messen sind? Geht mit der Änderung des Prüfungsmaßstabes eine Erhöhung oder Absenkung des Schutzniveaus für die Prozessbeteiligten einher? Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Verstöße gegen die Vorlagepflicht eine Verletzung von Art. 47 UAbs. 2 GRC darstellen, gibt es bislang, soweit ersichtlich, keine Entscheidungen des EuGH (für diesbezügliche Hinweise bin ich dankbar!).
Art. 47 UAbs. 2 GRC ist allerdings eng angelehnt an Art. 6 Abs. 1 EMRK, weshalb die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung berücksichtigt werden darf und muss (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRC sowie hier, S. 34). Der EGMR wiederum hat entschieden, dass die EMRK kein direktes Recht auf Einhaltung von Vorlagepflichten gewährt, dass jedoch das Unterlassen einer von Prozessbeteiligten angeregten Vorlage gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstößt, wenn es willkürlich (arbitrary) ist, d. h. wenn es insoweit an einer plausiblen Begründung fehlt (Somorjai ./. Ungarn, Rn. 56 m. w. N.). Spezifisch zur Vorlage an den EuGH hat der EGMR ausgeführt, letztinstanzliche Gerichte seien verpflichtet zu begründen, weshalb sie nach der CILFIT-Rechtsprechung eine unionsrechtliche Frage nicht dem EuGH vorlegen – sei es, weil sie die Frage für nicht entscheidungserheblich, für bereits geklärt (acte éclairé) oder für offenkundig nicht klärungsbedürftig (acte claire) halten (Somorjai ./. Ungarn, Rn. 57 m. w. N.). Der EGMR prüft, ob eine solche Begründung vorliegt, überprüft jedoch nicht die Auslegung des insoweit relevanten Rechts durch die mitgliedstaatlichen Gerichte auf ihre Richtigkeit (ebd.; zudem Dhahbi ./. Italien, Rn. 31; s. zur ganzen Frage auch den vom EGMR selbst herausgegebenen Guide on Article 6, Rn. 319–325).
Diese Straßburger Rechtsprechung scheint tendenziell ein etwas niedrigeres Schutzniveau zu bieten als diejenige des BVerfG. Zwar legt letzteres im Ausgangspunkt ebenfalls das Willkürverbot zu Grunde, handhabt seine Kontrolle anhand von Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG aber mittlerweile durchaus wirkungsvoll (s. die schöne Zusammenfassung der Maßstäbe hier, Rn. 3–9, und hier, Rn. 15–21). Allerdings ist zum einen zu beachten, dass der Maßstab des EGMR durch das Kriterium „arbitrary“ bzw. „duly reasoned“ sehr flexibel ist und eine höhere Kontrolldichte – generell oder im Einzelfall – ohne weiteres zulässt. Zum anderen ist Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar bei der Auslegung von Art. 47 UAbs. 2 GRC als Rechtserkenntnisquelle relevant, aber selbstverständlich nicht allein maßgeblich. Der EuGH betont vielmehr zu Recht auch insoweit die Autonomie des Unionsrechts (s. die Nachweise bei Schwerdtfeger in Meyer/Hölscheidt GRC, Art. 52 Rn. 63 f.). Aus Gründen der Einheit der Primärrechts und des effet utile könnte es daher durchaus naheliegen, dass die Charta in der Rechtsprechung des EuGH ein höheres Schutzniveau erhält als die EMRK, um der Vorlagepflicht aus Art. 267 UAbs. 3 AEUV effektive Schutzmechanismen zur Seite zu stellen (freilich nur, sofern in den Mitgliedstaaten entsprechende Rechtsbehelfe bestehen, zu deren Einrichtung diese, wie bereits gesagt, von Unionsrechts wegen wohl nicht verpflichtet sind).
Ausblick
Tritt man von den dogmatischen Fragen einen Schritt zurück, so wird klar, dass im System des Grundrechtsschutzes nach Recht auf Vergessen I + II noch diverse Fragen der Klärung harren. Wir alle beginnen erst allmählich, die weitreichenden Folgen dieser Entscheidungen zu begreifen. Wir sind es zwar gewohnt, zu fragen War dieses Gesetz oder war jener Verwaltungsakt unionsrechtlich volldeterminiert? Wir müssen aber ebenso fragen: War diese Gerichtsentscheidung unionsrechtlich volldeterminiert?
Zu guter Letzt: Es wirkt kurios, dass das BVerfG mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG einen Maßstab zu Grunde legt, der ebenjenen Grundsätzen widerspricht, die es erst vor Kurzem selbst etabliert hat. Welche Gründe auch immer das Gericht hierzu veranlasst haben mögen – es wäre vielleicht nicht nur um der dogmatischen Konsistenz willen, sondern auch aus taktischen Gründen besser beraten, die Gelegenheit zu ergreifen und mit der „Macht des ersten Wortes“ (Thym, JZ 2020, 1017) für eine Auslegung des Art. 47 UAbs. 2 GRC einzutreten, die der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vom Schutzniveau her mindestens gleichkommt.
Ich denke, diese Inkonsistenz in der BVerfG-Rechtsprechung zeigt, dass der Maßstab der Volldeterminiertheit nicht der richtige ist. Der EuGH benutzt ihn nicht, sondern sagt nur, dass die Anwendung nationaler Grundrechte nicht Vorrang, Wirksamheit und Einheitlichkeit des Unionsrechtes gefährden darf (Urteil Melloni). Genau dies droht nicht, wenn Art. 101 GG angewendet wird, weshalb auch keine Sperrwirkung besteht. Es handelt sich nicht um einen Rechtsbehelf gegen die Anwendung des Unionsrechtes, sondern gegen die Nicht-Anwendung, das ist der entscheidende Unterschied.
Vielen Dank für Ihren interessanten Artikel!
Anfangs habe ich mich noch gefragt, ob man nicht eine Differenzierung danach vornehmen muss, ob die der möglichen Vorlage zugrundeliegende Rechtsfrage unionsrechtlich vollständig determiniert. Letztlich haben Sie mich aber doch überzeugt, dass es darauf ankommt, ob die möglicherweise durch die Nichtvorlage verletzte Norm (Art. 267 III AEUV) unionsrechtlich vollständig determiniert ist (was sie – wie Sie das überzeugend erklärt haben – ist).
Spannende Fragen und Überlegungen, danke! Aus der Gerichtspraxis gefragt:
Wie steht es mit der Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 GG? Müsste diese nicht auch (nur) bei möglicher Verletzung unionaler Grundrechte statthaft sein? Und wären nicht die sehr hohen Zulässigkeitsschranken – vergleichbar mit einer ohne Weiteres zulässigen Vorlage an den EuGH – abzusenken?
Derzeit überlegen es sich Kammern und Senate (Einzelrichter in Kollegialorganen dürfen bekanntlich – Entlastungsargument !- nicht dem BVerfG vorlegen) sehr genau, ob sie – in der Regel: gravierende – Bedenken zur Grundrechtskonformität von Gesetzen dem Bundesverfassungsgericht unterbreiten, aus nicht unberechtigter Befürchtung, nach wochenlanger Zusatzarbeit sich eine “Ohrfeige” aus Karlsruhe einzuhandeln. Aus der Praxis weiß ich, dass bisweilen selbst offensichtlich grundrechtswidrige Normen zähneknirschend angewendet werden, weil der Gang nach Karlsruhe so mühselig ist … Könnte man dies nicht wenigstens für angenommene Verletzungen unionaler Grundrechte ändern?
Ich finde ihren Aufsatz sehr interessant. Gewiss scheint es wie eine juristische Paradoxe oder eine dogmatische Inkonsistenz überhaupt, mindestens aus einem logischen Gesichtspunkt. Allerdings glaube ich, dass die Praxis des BVerfG sinnvoll ist. Zunächst aus reinen pragmatischen Überlegungen. Der Kontrollmasstab aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist seit langem aufgebaut worden und er ist vorhersehbar and völlig wirksam: ich kenne keine europäische Rechtsordnung, in der mehr gerichtliche Entscheidungen wegen Verstoss gegen Art. 267 AEUV aufgehoben werden als die deutsche. Im Unterschied dazu ist ein eventueller Kontrollmasstab aus Art. 47 GRC im Zusammenhang mit Art. 267 AEUV noch inexistent. Aber auch aus rechtsformellen und -politischen Gründen kann man daran zweifeln, dass im aktuellen Stand des EU-Rechts der EuGH in der Lage ist –wenn überhaupt in der Stimmung—, einen für die Einhaltung der Vorlagepflicht spezifischen grundrechtsmässigen Kontrollmasstab zu bauen. Solche Masstab wurde nur in den wenigen Mitgliedstaaten nutzbar, in denen es einen grundrechtsmässigen subsidiären Rechtsweg gegen gerichtliche Entscheidungen letzter Instanz schon besteht. Um solcher Konstruktion Sinn zu geben, sollte zunächst eine uniforme prozedurale Absicherung der Vorlagepflicht in der Europäischen Union eingeführt werden.