Solang sie noch am Leben sind
Mehr als zwei Wochen ist es her, dass das letzte deutsche Evakuierungsflugzeug aus Kabul abgehoben ist. Was die Bundesrepublik dort zurückgelassen hat, ist ein Versprechen. Denjenigen Menschen, “für die Deutschland besondere Verantwortung trägt”, hat die Bundesregierung versprochen, sie “bei der sicheren Ausreise aus Afghanistan zu unterstützen”. Dieses Versprechen gilt nicht nur den sogenannten Ortskräften, die in Afghanistan für sie gearbeitet haben, sondern auch “besonders schutzbedürftigen Menschen”: Menschenrechtsaktivist_innen, Richter_innen, Journalist_innen, Anwält_innen, Künstler_innen, Intellektuelle, Wissenschaftler_innen – Menschen mit einem Wort, die wohl ganz überwiegend schon bisher den Versprechen des Westens vertraut haben und überhaupt dem Traumbild, das so ein rechter Innenminister sich von einer idealen Asylbewerber_in macht (soweit er nicht eh von ganz anderen Sachen träumt), ziemlich nahe kommen dürften. Diese Menschen irren in diesen Tagen in Kabul von Versteck zu Versteck, auf dass sich die Einlösung des deutschen Versprechens nicht dadurch erledigt, dass die Taliban sie vorher finden.
Zeit spielt also eine gewisse Rolle. Das Versprechen ist obendrein limitiert: es gilt nur für solche Menschen, “die die Bundesregierung bis zum Ende der militärischen Evakuierungsaktion als besonders gefährdet identifiziert hat, und denen wir eine Ausreise mit der Bundeswehr in Aussicht gestellt hatten”. Die verschiedenen Bundesministerien führen offenbar Listen, auf aber nur die draufkommt, wer sich rechtzeitig – also vor dem 26.8., dem Datum des endgültigen Abzugs – gemeldet hat.
Der Stichtag 26.8. war vorher nirgends kommuniziert worden. Ich habe vor zwei Tagen mit Tilmann Röder von der FU Berlin gesprochen, der seit Jahren das Auswärtige Amt in Sachen Rechtsstaatsförderung in Afghanistan berät und die Initiative Luftbrücke Afghanistan mitgegründet hat, die sich um die Koordination und Sortierung der per Email eintreffenden Hilferufe aus Kabul kümmert. Er wisse von über 1300 Personen plus Familien, die wegen dieses Stichtags aus dem Raster fliegen, hat er mir gesagt. Was aus ihnen werden soll, weiß kein Mensch.
Die Absender der Hilferufe, die vor diesem Stichtag eingelaufen sind, warten um so länger auf ein Signal aus Berlin. Die Menschen in ihren Verstecken in Kabul wissen zumeist noch nicht mal, ob sie überhaupt auf so einer Liste stehen. Tilmann Röder sagt, er wisse von zwei oder drei Fällen, wo jemand kontaktiert worden sei, unter Tausenden. Und selbst da habe es keinerlei Hinweise gegeben, was jetzt weiter mit ihnen passieren soll.
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Bewerbungsfrist ist der 15.09.2021. Weitere Informationen gibt es hier.
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Was geschieht jetzt mit diesen Menschen? Wie läuft das Verfahren? Wer bestimmt über sie und ihre “besondere Schutzbedürftigkeit”, und nach welchen Kriterien? Das weiß niemand. Und mit jedem Tag, der vergeht, ohne dass es darauf Antworten gibt, wird das Versprechen der Bundesrepublik Deutschland an die Menschen, für die sie “besondere Verantwortung trägt”, weniger wert. In zwei Wochen sind Bundestagswahlen. Mal sehen, wie viele von ihnen dann noch am Leben sind.
Ich habe am Dienstagabend meine Fragen dazu an die Pressestelle des Bundesinnenministeriums übermittelt. Heute morgen habe ich angerufen, was denn da der Stand sei. Die Fragen liegen beim zuständigen Fachreferat, hat es geheißen. Bislang keine Antwort.
Das Bundesinnenministerium trägt politische Verantwortung für sein Tun und Lassen. Und wenn es die nicht wahrnimmt, müssen wir es halt tun, die Bürger_innen der Bundesrepublik Deutschland, die am 26.9. wahlberechtigt sind. Wenn wir sie nicht wahrnehmen?
Well, that’s on us then.
Rückkehrer
Anders steht es um die Justiz. Die ist unabhängig und damit gerade nicht politisch verantwortlich. Man kann sie nicht zur Verantwortung ziehen für das, was sie anrichtet. Man kann nicht mit ihr abrechnen. Das kann sie nur selber tun.
Hat sie Anlass dazu?
Bis vor sehr kurzer Zeit konnte die deutschen Verwaltungsgerichte in Afghanistan in vielen Fällen keine “ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts” (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) für Geflüchtete und damit kein Recht auf subsidiären Schutz erkennen. Jedenfalls “volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Männer” hätten in Afghanistan auch nicht ohne weiteres unmenschliche Behandlung zu befürchten, die einer Abschiebung im Wege stehe, und mussten daher bis zum 11.8., als der Bundesinnenminister diese Praxis endlich aussetzte, befürchten, in ein Flugzeug gesetzt und nach Kabul geflogen zu werden. Also, wie wir jetzt wissen und wohl auch schon länger wissen konnten, direkt in die Hände der Taliban. Die auch und gerade von volljährigen, alleinstehenden und arbeitsfähigen afghanischen Männern jetzt vermutlich Rechenschaft darüber verlangen, warum sie denn zu den Ungläubigen geflohen sind, anstatt für Allah zur Waffe zu greifen.
Wie gefährlich es für eine bestimmte Afghan_in in ihrem Heimatland werden kann, ist keine Rechts-, sondern eine Sachfrage. Das muss erst ermittelt werden. Es ist viel verlangt von so einer Richter_in irgendwo in Ansbach, eine Prognose darüber abzugeben, wie gefährlich es für einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Ecke von Nangarhar denn wohl werden könnte. Aber sie kann sich dazu einer Fülle von Erkenntnisquellen bedienen; Auswärtiges Amt und EASO wissen allerhand, UNHCR und die Menschenrechts-NGOs ebenfalls, wobei diese Erkenntnisquellen schnell veralten, und theoretisch könnte sie auch ein Sachverständigengutachten einholen. Trotzdem bleibt das ein mühsames und fehleranfälliges Geschäft, zumal so viel davon abhängt, und manche fänden besser, wenn das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zentrale “Länderleitentscheidungen” zu der jeweiligen Gefahrenlage fällen könnte, wie es sie z.B. in Großbritannien gibt, aber das hat sich politisch nicht durchgesetzt.
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Wie die Richter_in nun die Beweise bewertet – darin ist sie weitestgehend frei. Es gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, und der ist nach der üblichen Formel erst und insbesondere dann verletzt, wenn sie Umstände ignoriert, “deren Entscheidungserheblichkeit sich ihr hätte aufdrängen müssen“. Gehört dazu auch das, was die Ethnologin Friederike Stahlmann bereits 2018 in einem 354 Seiten starken Gutachten über das Schicksal herausgefunden hat, das Rückkehrer aus dem Westen in Afghanistan erwartet?
Rückkehrer haben diese Wahl (für welche Seite sie arbeiten und kämpfen wollen) schon durch ihre Flucht getroffen, indem sie aus Sicht der Taliban ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten und sich bewusst dem Machtanspruch der Taliban entzogen und statt des Kampfes auf Seiten der Taliban lieber ihr Leben riskiert haben, um sich unter den Schutz der Ungläubigen zu stellen. Die Flucht nach Europa ist somit ein Akt des politischen Widerstands. Die religiöse Legitimation um den Kampf für das Islamische Emirat sorgt zudem dafür, dass diese Feindschaft religiös definiert wird. Das bringt in der Konsequenz all jene, die als Gegner wahrgenommen werden, in die tödliche Gefahr, zu Apostaten, Spionen oder sogar Ausländern deklariert zu werden. (S. 310)
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) in Valetta, eine EU-Agentur, die für die Asylbehörden der Mitgliedstaaten relevante Informationen über Herkunftsländer recherchiert, veröffentlichte – gestützt auch auf Stahlmanns Forschung – im September 2020 einen Bericht über “Afghan nationals perceived as Westernized”:
In their August 2018 report, the UNHCR noted that ‘[t]here are reports of individuals who returned from Western countries [to Afghanistan] having been threatened, tortured or killed by AGEs [Anti–Government Elements] on the grounds that they were perceived to have adopted values associated with these countries, or they had become “foreigners” or that they were spies for or supported a Western country.’ The same source indicated that the following individuals could be additionally seen as Westernised by the AGEs: humanitarian and development workers, and women in public sphere.
Würde man anerkennen, dass allein der Aufenthalt in Europa als solcher in den Augen der Taliban ein individueller Verfolgungsgrund ist, dann müsste man allen Afghan_innen, egal wovor sie ursprünglich geflohen waren, nicht nur subsidiären Schutz, sondern Asyl gewähren. Soweit die Justiz die Verantwortung für eine solche Entscheidung nicht auf sich nehmen wollte – könnte man das nicht vielleicht sogar verstehen?
Andererseits: Wofür sind die Gerichte unabhängig, anders als die von ihren Wähler_innen bedrängten Politiker_innen, wenn nicht dafür, einen Abschiebestopp verhängen zu können, wo die Sachlage einen Abschiebestopp verlangt?
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Morgen jähren sich die Terroranschläge vom 11. September 2001 zum 20. Mal. Was hat damals begonnen? Als Auftaktevent für unsere Kette von Online-Symposien, die wir in den nächsten Monaten gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte und gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung aus diesem Anlass veranstalten wollen, haben wir heute mittag live mit drei tollen Gästen – EVA PILS, ANJA MIHR und STEPHAN DETJEN, moderiert von our own MARLENE STRAUB – die Folgen der Anschläge auf Recht und Verfassung im nationalen, europäischen und globalen Rahmen diskutiert.
Die Verfassung von Afghanistan von 2004 halten manche für mitschuldig am Zusammenbruch des politischen Systems. SHAMSHAD PASARLAY widerspricht: Trotz ihrer Mängel hätte die Verfassung funktionieren können, wenn sich beizeiten der politische Wille gefunden hätte, an diesen Mängeln etwas zu ändern.
Im Wahlprogramm der CDU/CSU findet sich unterdessen eine asylrechtliche Forderung, der man ihre Brisanz nicht auf den ersten Blick anmerkt: eine Liste mit “kleinen sicheren Herkunftsstaaten“, die nur für den unionsrechtlich determinierten Flüchtlingsschutz und den subsidiären Schutz eine Sicherheitsvermutung etabliert. Für RHEA NACHTIGALL verbirgt sich dahinter der verfassungswidrige Versuch, den Widerstand des Bundesrats gegen eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten zu umgehen.
„Gib der Natur Rechte!“, fordert ein Volksbegehren in Bayern, das natürliche Eigenrechte in die bayerische Landesverfassung aufnehmen möchte. ELENA SOFIA EWERING und ANDREAS GUTMANN halten das für verfassungsrechtlich unproblematisch und eine große Chance für eine Weiterentwicklung des Rechts.
Kurz vor der Bundestagswahl wächst die Angst vor Fake News und Desinformation in Deutschland. SEBASTIAN GOLLA warnt davor, das Gegenmittel in neuen Strafgesetzen zu suchen.
Im Kampf gegen den Klimawandel kommt Jurist_innen eine Schlüsselrolle zu. SASKIA STUCKI, GUILLAUME FUTHAZAR, TOM SPARKS, ERIK TUCHTFELD und HANNAH FOEHR rufen dazu auf, sich dem World Lawyer’s Pledge on Climate Change anzuschließen.
Unser Online-Symposium “To Break Up or Regulate Big Tech” zum Digitalen Gesetzgebungspaket der EU ist in die zweite Woche und zu Ende gegangen mit Beiträgen von CATALINA GOANTA, JENS-UWE FRANCK und MARTIN PEITZ, HANNAH RUSCHEMEIER, PADDY LEERSEN und RUTH JANAL.
Wie schon letzte Woche angekündigt gibt es ab diesem Sonntag um 18 Uhr etwas Besonderes zu sehen, und zwar hier. Nicht verpassen!
Das war’s für diese Woche. Ihnen alles Gute, unterstützen Sie uns bitte auf Steady oder über Paypal, und bleiben Sie gesund, geimpft oder genesen!
Ihr
Max Steinbeis
MS: „Dieses Versprechen gilt nicht nur den sogenannten Ortskräften, die in Afghanistan für sie gearbeitet haben, sondern auch „besonders schutzbedürftigen Menschen“: Menschenrechtsaktivist_innen, Richter_innen, Journalist_innen, Anwält_innen, Künstler_innen, Intellektuelle, Wissenschaftler_innen – Menschen mit einem Wort, die wohl ganz überwiegend schon bisher den Versprechen des Westens vertraut haben und ….“
Anscheinend gibt es zwei Versprechen
1. das Versprechen bestimmte Afghanen aufzunehmen
2. die Versprechen des Westens, auf die bisher vertraut wurde.
Meine Erinnerung ist bei den Versprechen zu 2. löchrig. Wer hat für wen was genau versprochen? Mir ist im Wesentlichen nur die Aussage von dem früheren Verteidigungsminister Peter Struck aus 2002 erinnerlich, dass „unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird“.
Falls es um das „nation building“ geht: „Nation building“ kenne ich nur aus Berichten über das Umfeld des Weißen Hauses. Und Präsident Biden hat ja auch erklärt, dass es bei der US-Mission in Afghanistan nie um „nation building” gehen sollte. Zum „nation building“ sind mir aus der deutschen Regierungspolitik keine Ausführungen erinnerlich. „Nation building“ dürfte heute den meisten Menschen im Westen als Hybris erscheinen und dürfte bei halbwegs realistischer Betrachtung auch bereits schon 2001/2002 erkennbar Hybris gewesen sein.