Solidarität statt Social Distancing
Chancen für ein soziales Europa
Mit dem Vertrag von Lissabon hat das Ziel einer sozialen Marktwirtschaft (Art. 3 UAbs. 1 EUV) Eingang in die EU-Verträge gefunden. Dennoch war das letzte Jahrzehnt von primär wirtschaftspolitischen Integrationsbestrebungen dominiert; der Ausbau der sozialen Dimension der Union ist hingegen fragmentarisch geblieben. Die Europäische Säule Sozialer Rechte („ESSR”) soll nun eine Trendwende einleiten.
Die ESSR hat das Potential als Katalysator sozialen Aufschwungs zu fungieren und einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung des von vielen prophezeiten Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten zu leisten. Ob die Säule dieser Funktion als soziale Impulsgeberin und Richtschnur politischen und legislativen Handelns gerecht werden kann, könnte schon der Mai zeigen: Auf den Sozialgipfel in Porto am 7. und 8. Mai folgt am 9. Mai, dem „Europatag”, die Eröffnung der Konferenz über die Zukunft der EU; die Realisierung des „sozialen Europas“ steht dabei ganz oben auf der Agenda.
Die von der Kommission vorgelegten Richtlinien-Entwürfe zu angemessenen Mindestlöhnen in der Europäischen Union („Mindestlohn-Richtlinie“), sowie zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durch Lohntransparenz und Durchsetzungsmechanismen („Lohntransparenz-Richtlinie“), könnten dabei ein wichtiger erster Schritt für ein sozialeres Europa sein.
Hintergrund
Die 2017 im Rahmen des Göteborger Sozialgipfels von Europäischem Parlament, Rat und Kommission feierlich proklamierte ESSR legt in zwanzig Grundsätzen unverbindliche Sozialstandards fest. Diese ambitionierten Ziele sind inhaltlich breit gefächert und erstrecken sich über die Bereiche Arbeitsmarkt (-chancen), Arbeitsbeziehungen und Sozialschutz. Ihre Umsetzung stellt einen der Arbeitsschwerpunkte der portugiesischen Ratspräsidentschaft dar; Anfang März 2021 wurde auch von der Kommission ein Aktionsplan präsentiert.
Wenngleich sich die Kommission legistisch und argumentativ zunehmend auf die ESSR stützt, müssen Mutmaßungen über eine Integration der Säule in das Primärrecht, etwa nach dem Vorbild der Grundrechtecharta, relativiert werden. Die ESSR ist derzeit wohl nicht mehr als ein politisches Programm. Auf die ESSR Bezug genommen wird aber in nicht nur bei den bereits genannten sich im statu nascendi befindlichen Richtlinien, sondern auch im Zuge der Initiativen zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen bei der Plattformarbeit und betreffend die Frage der Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf Tarifverträge für Solo-Selbstständige.
Europäische Mindestlohnpolitik
Ein Vergleich zwischen den Mitgliedstaaten offenbart eine gewaltige Kluft bei der Höhe der Mindestlöhne (z.B. Luxemburg 12,73 Euro/Std., Bulgarien 2 Euro/Std.), aber auch das Urteil einer europäischen Gesamtschau fällt nicht besser aus: Etwa jede sechste Arbeitnehmer*in („AN”) in der EU gilt als Niedriglohnempfänger*in. Bei ihrem Amtsantritt hatte Kommissionspräsidentin von der Leyen daher angekündigt, ein Rechtsinstrument vorzulegen, mit dem sichergestellt werden würde, dass alle AN in der EU einen gerechten Mindestlohn erhalten. Ein Entwurf dafür liegt nun, wie bereits erwähnt, vor.
So weit, so gut. Die Geister scheiden sich allerdings schon in Anbetracht der vorgesehenen Kompetenzgrundlage (Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV, siehe etwa hier und hier), denn Art. 153 Abs. 5 AEUV nimmt das Arbeitsentgelt expressis verbis aus der Regelungskompetenz der Union aus. Das betrifft jedenfalls Maßnahmen mit direkter Auswirkung auf die Lohnhöhe, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht aber sämtliche mit dem Arbeitsentgelt in Zusammenhang stehende Fragen. Mittelbare Vorgaben für die Entgeltfestsetzung kennt das europäische Arbeitsrecht schon jetzt, so etwa im Rahmen der Regelungen des Gleichbehandlungs-, Entsende-, Urlaubs- oder Mutterschutzrechts. Art. 153 Abs. 5 AEUV stünde allerdings sehr wohl einer Vereinheitlichung der Entgelthöhe oder der Einführung eines unionsweiten Mindestlohns entgegen (etwa EuGH C-395/08 und C-396/08, Bruno u.a). Sollte der Richtlinien-Entwurf die weiteren Hürden des Gesetzgebungsverfahrens nehmen, wird in der Frage, ob der kompetenzrechtliche Tanz auf dem Vulkan gut geht, wohl der EuGH das letzte Wort haben.
Inhaltlich nimmt der Richtlinien-Vorschlag Rücksicht darauf, dass die MS zwar überwiegend auf gesetzliche Mindestlöhne vertrauen, eine Minderheit aber auch auf tarifvertragliche Mindestlohnsysteme setzt (DK, FIN, IT, Ö, SWE und ZYP). Dazu verfolgt der über weite Strecken vage Entwurf einen dualen Ansatz: So sind die MS einerseits aufgefordert, Maßnahmen zur Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung zu ergreifen (Art. 4), MS in denen weniger als 70 Prozent der AN den Schutz tarifvertraglicher Mindestlöhne genießen, haben einen Aktionsplan vorzulegen (Art. 4). Andererseits ist für MS mit gesetzlichen Mindestlöhnen vorgesehen, dass im Rahmen der nationalen Festsetzung Kriterien wie die Kaufkraft, das allgemeine Niveau der Bruttolöhne, deren Wachstumsrate und die Entwicklung der Arbeitsproduktivität berücksichtigt werden müssen. Unterschiedliche gesetzliche Mindestlohnsätze für bestimmte Gruppen von AN („Variationen”) sollen nur zulässig sein, soweit diese diskriminierungsfrei und unter Einhaltung eines Verhältnismäßigkeitstests vorgenommen werden (Art. 6).
In Summe zeichnet sich der Entwurf sicherlich durch seinen rücksichtsvollen Umgang mit den Eigenarten der mitgliedstaatlichen Mindestlohnsysteme aus; Zweifel müssen aber nicht nur in Hinblick auf die Achtung des Subsidiaritätsprinzips, sondern auch bezüglich der Eignung zur tatsächlichen Eindämmung von „in-work poverty” gehegt werden. Einerseits wird zwar in Hinblick auf die Angemessenheit von Mindestlöhnen in den Erwägungsgründen auf international übliche Indikatoren, wie etwa 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns verwiesen, in der zentralen Bestimmung dazu (Art. 5) sieht der Entwurf jedoch – zweifelsohne auch aus kompetenzrechtlichen Gründen – keinen einheitlichen Referenzwert vor. Andererseits betrifft Erwerbsarmut Gutteils auch Personen in prekärer Selbständigkeit, die nicht vom persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst sind. Ferner profitieren Teilzeitarbeitende („Teilzeitquote“ Ö 26,9 Prozent, D 26,8 Prozent) und atypisch Beschäftigte in deutlich geringerem Ausmaß von typischerweise auf Stundenbasis festgelegten Mindestlöhnen.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Seit den römischen Verträgen verfolgt die EU das Ziel der Entgeltgleichheit der Geschlechter (Art. 119 EGV, Art. 141 EG, nunmehr in: Art. 157 AEUV). Obwohl der EuGH bereits 1976 im Fall Defrenne II (C-43/75) die unmittelbare horizontale Wirkung des Grundsatzes der Entgeltgleichheit klargestellt hat, bestehen auch heute noch massive praktische Unterschiede: 2019 verdienten Frauen im EU-Durchschnitt 14,1 Prozent weniger als Männer (Bruttostundenlohn). Deutschland und Österreich befinden sich mit einem gender pay gap von 19,2 Prozent (D) und 19,9 Prozent (Ö) im Spitzenfeld der Länder mit großer Einkommensungleichheit. Nur in Estland (21,7 Prozent) und Lettland (21,2 Prozent) ist die Ungleichheit im Durchschnitt noch gravierender.
Auf der Grundlage von Art. 157 Abs. 3 AEUV („Chancengleichheit und […] Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen […]”) soll die vorgeschlagene Lohntransparenz-Richtlinie die EU nun diesem Ziel näherbringen. Im Gegensatz zum Entwurf der Mindestlohn-Richtlinie ist die Kompetenzgrundlage hier relativ unstrittig. Richtigerweise stützt sich dieser nicht auf Art. 153 Abs. 1 lit. i AEUV („Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz”), da Abs. 5 leg cit die unmittelbare Regelung des Entgelts ausschließt.
Inhaltlich werden zwei Schwerpunkte gesetzt. Einerseits soll AN durch ein Auskunftsrecht Informationen über ihr eigenes Einkommen und über das Durchschnittseinkommen aufgeschlüsselt nach Geschlecht und gleicher oder gleichwertiger Arbeit zugänglich gemacht werden (Art. 7). Andererseits soll die Lohntransparenz-Richtlinie eine Berichterstattungspflicht vorsehen: Arbeitgeber*innen („AG”) mit mindestens 250 AN sollen künftig Informationen, wie etwa über das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern, die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten, öffentlich (z.B. über die Homepage) zugänglich machen. Alternativ können die MS diese Informationen selbst aus für Steuer oder Sozialversicherung erhobenen Daten zusammenstellen und veröffentlichen (Art. 8). Bei nicht gerechtfertigten Diskrepanzen soll AG künftig eine Begründungs- beziehungsweise Abhilfeverpflichtung treffen (Art. 9).
Die Umsetzung des Richtlinien-Entwurfs würde sowohl Österreich als auch Deutschland zu einer Anpassung der Rechtslage zwingen. So müssen in Österreich de lege lata etwa AG, die dauernd mehr als 150 AN beschäftigen, lediglich innerbetrieblich einen Einkommensbericht erstellen. Demgegenüber sind nach deutscher Rechtslage AG mit idR mehr als 500 Beschäftigten verpflichtet, Maßnahmen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung und Entgeltgleichheit öffentlich zugänglich zu machen. Angemerkt sei, dass sowohl die österreichische als auch die deutsche Unternehmenslandschaft Großteils aus kleinen und mittleren Unternehmen besteht (Ö 99,6 Prozent, D 99,4 Prozent), die erwähnte Berichterstattungspflicht wohl aber nur auf Großunternehmen (> 250 AN) Auswirkungen haben wird.
Ausblick
Beide Richtlinien-Entwürfe sind im Großen und Ganzen zu begrüßen, da diese in Umsetzung der ESSR einen weiteren Schritt in Richtung eines sozialen Europas darstellen. Es bleibt zu hoffen, dass sie auch dem politischen Gegenwind (siehe etwa hier und hier) standhalten werden können.
Vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie ist nicht nur der wirtschaftliche Wiederaufbau, sondern auch der Ausbau sozialer Strukturen in der EU in den Fokus gerückt. Die auf der ESSR basierenden Initiativen könnten dabei einen wichtigen Beitrag zur Schaffung höherer gemeinsamer Sozialschutzstandards leisten. Im Rahmen des Sozialgipfels im Mai will sich die portugiesische Ratspräsidentschaft daher für die sozialpolitischen Ziele der Europäischen Säule Soziale Rechte einsetzen und „von Prinzipien zu Taten“ schreiten. Im Vorfeld des Gipfels haben jedoch bereits 11 Mitgliedsstaaten Kritik an einer potentiellen weitergehenden sozialen Integration geäußert. Letztendlich bietet die Bewältigung der weit reichenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der „Corona-Krise“ der Union und den Mitgliedsstaaten eine Chance zur substanziellen strategischen Neuausrichtung. Ob der Paradigmenwechsel gelingt, könnte sich schon bald weisen. In Krisenzeiten zeigt sich bekanntlich der wahre Charakter.
Anknüpfend an Euren letzten Satz fürchte ich, dass sich in der Coronakrise der zutiefst unsoziale Charakter in, soweit ich das überblicken kann, jedem Mitgliedsstaat und in fast allen Diskussionen gezeigt hat.
Werktätige, Soloselbständige und Studierende mit Nebenjob verlieren Arbeit, Aufträge und Einkommen. Aber die Mieten bleiben unverändert hoch. Einnahmen aus vererbten Vermögen sind anscheinend sakrosant.
Grenzen werden geschlossen, außer wenn die reichen Länder ausbeutungswillige Arbeiter aus Osteuropa benötigen. Die werden dann auf dem Spargelhof oder in Massenunterkünften eingesperrt wie einst bei der Zwangsarbeit.
Fluglinien und Tourismusunternehmen werden mit Milliarden gerettet. Arme, die keine Flaschen mehr sammeln und keine Essensspenden mehr aholen können, bekommen (in D) einmalig (nicht monatlich!) 150 € Sonderzahlung.
Die Medien diskutieren über “Impfprivilegien” wie Restaurants, Konzerte oder Kreuzfahrten, ohne dass jemandem auffällt, dass all diese Aktivitäten schon immer Privilegien waren – nämlich für Reiche.
Und so weiter.
Die Coronakrise wäre eine große Chance gewesen, mal für ein oder zwei Jahre innezuhalten und richtig große Veränderungen zu diskutieren. Stattdessen hören wir uns die Jammerei von Menschen an, die in großen Altbauwohnungen rumzoomen und sich jeden Tag Essen liefern lassen.
Klar, ein anstäniger Lohn ist besser als ein Hungerlohn. Aber solange sich an den Eigentumsdisparitäten nichts ändert, führen höhere Löhne hauptsächlich zu steigenden Mieten. Das Prekariat bleibt prekär. :/