Soll sie halt ins Heim: Pflege für gelähmte alte Mutter ist kein geschütztes Familienleben
Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt das Recht auf Achtung des Familienlebens. Das bedeutet unter anderem, dass ein Mitgliedsstaat nicht ohne weiteres Familien auseinander reißen kann, um sein Ausländer- und Aufenthaltsrecht durchzusetzen. Kindern ihre Eltern wegzunehmen oder umgekehrt, indem man die einen oder die anderen ins Abschiebungsflugzeug setzt, verletzt deren Menschenrechte. Aber was heißt “Familie”? Wie weit geht sie? Gehört der Schwager der Cousine dritten Grades dazu? Oder die Großtante? Oder die kranke alte Mutter?
Heute hat der Straßburger Gerichtshof dazu eine Kammerentscheidung veröffentlicht, die einen frösteln macht.
Marina Senchishak ist eine 72-jährige Russin, die seit einem Schlaganfall 2006 halbseitig gelähmt ist. Als 2007 ihr Mann starb, zog sie zunächst zu ihrer Enkelin und im Jahr darauf zu ihrer einzigen (überlebenden) Tochter. Diese lebte seit Ende der 80er Jahre in Finnland. Das finnische Ausländerrecht ist aber ziemlich restriktiv, und so gelang es der alten Dame nicht, ihren Aufenthaltsstatus zu legalisieren. 2012 waren alle Rechtsmittel ausgeschöpft, und sie sollte abgeschoben werden.
Sie zog nach Straßburg und berief sich zum einen auf das Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3), da sie in Russland keine adäquate medizinische Behandlung bekommen könne. Das leuchtete der Kammer weder faktisch noch rechtlich ein (okay, mir auch nicht). Außerdem aber berief sie sich auf Art. 8, den Schutz ihres Familienlebens mit ihrer einzigen Tochter.
Dieser Schutz, so die Rechtsprechung des EGMR seit jeher, ist in erster Linie für die “Kernfamilie” da, also Eltern und ihre minderjährigen Kinder. Andere Verwandte müssen beweisen, dass sie in besondere Weise von ihren Familienmitgliedern abhängen.
Das konnte oder wollte die Kammer im Fall von Frau Senchishak nicht gelten lassen. Es gebe schon gar kein nennenswertes Familienleben zwischen ihr und ihrer Tochter: Sie habe schließlich zwischen 1988 und 2008 zwei Jahrzehnte getrennt von ihr gelebt. Und die sechs Jahre seit 2008 habe sie sich als illegale Ausländerin in Finnland aufgehalten, was zu instabil sei, um als Familienleben zählen zu können.
Und abhängig sei sie auch nicht von ihrer Tochter: Sie habe es nach ihrem Schlaganfall zwei Jahre lang in Russland ohne sie ausgehalten. Und selbst wenn: in Russland gebe es prima Pflegeheime. Und von der Stadt westlich von Helsinki, wo die Tochter lebt, sei es auch nicht so weit bis zu ihrer Heimatstadt Vyborg jenseits der russischen Grenze (gut 200 km), dass diese nicht auch dort für ihre Mutter sorgen könne.
Diese Art zu argumentieren finde ich, gemeinsam mit den Kammermitgliedern Ledi Bianku (Albanien) und Zdravka Kalaydijeva (Bulgarien), regelrecht schaurig: engherzig, formalistisch, lebensfern, kalt – eigentlich genau die Art von Juristenstieselei, gegen die wir den Straßburger Gerichtshof eigentlich dringend bräuchten.
Ich weiß nicht, wie die Beziehungen zwischen Frau Senchishak und ihrer Tochter genau beschaffen sind. Eins aber scheint unbestritten zu sein: Wir haben es hier mit einer alten Frau mit schwerer körperlicher Behinderung zu tun, die von ihrem einzigen Kind versorgt wird. Da sollte man schon bessere Argumente haben, bevor man diese Beziehung so off-hand aus dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK entfernt.
Besonders grausig finde ich das Argument, die Zeit seit 2008 zähle nicht als Familienleben, weil man als Ausländer mit instabilem Aufenthalt gar kein Familienleben haben könne. Als ob Familienmitglieder, wenn sie sich um einander kümmern, dabei die ganze Zeit das Ausländerrecht im Kopf haben. So zu argumentieren, fällt vielleicht einer Ausländerbehörde ein. Aber gerade dann wäre mir schon daran gelegen, in Straßburg vor eben dieser Sorte Juristenvernageltheit Zuflucht finden zu können.
In unserer alternden Gesellschaft sind erwachsene Kinder, die sich um ihre kranken Eltern kümmern, zunehmend normal, und nicht nur das: sie sind auch eine sozialpolitisch dringend benötigte und ziemlich kostbare Ressource. Das sollte sich auch auf unser Bild, was wir als “Kernfamilie” gelten lassen, auswirken. So locker zu sagen, och, die braucht doch ihre Tochter nicht, die ist doch in einem Vyborger Pflegeheim genauso gut aufgehoben – das finde ich wirklich hart.
Im Grunde stellt sich die Kammermehrheit auf den Standpunkt: Kümmert ihr euch mal um eure minderjährigen Kinder. Was aus euren Eltern wird, wenn sie nicht mehr alleine klar kommen, braucht nicht eure Sorge sein. Das ist ja kein “Familienleben”.
Mal sehen, ob das nicht noch ein Nachspiel vor der Großen Kammer hat.
Wie sagte schon vor Zeiten ein schlauer Mensch: “Der gute Jurist trennt das Schuldverhältnis von Rest der Welt!”
Hmmm… Interessant. In Deutschland ist das so, dass wir für unsere Eltern verantwortlich sind. Ich habe meinen Vater seit über zehn Jahren nur einmal gesehen (Beerdigung meiner Oma). Sollte er heute allerdings Pflegebedürftig werden kann es immer noch sein, dass die Herrschaften des Sozialamtes (oder was da zuständig ist) mir einen netten Brief schicken in dem steht, dass ich für meine Eltern Verantwortung übernehmen soll. Die können die Verantwortung sogar in zahlen fassen, die meistens von einem €-Zeichen verfolgt werden.
Hier möchte eine Person in einem EU-Land sich um ihre Mutter kümmern und darf das nicht.
In Deutschland geht das BVerfG seit neuestem einen anderen Weg: “Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schließt familiäre Bindungen zwischen nahen Verwandten ein, insbesondere zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind.” (1 BvR 2926/13 v. 24.6.2014, hier: Auch Großeltern müssen bei der Vormundsauswahl in Betracht gezogen werden).