Sollten Impfunwillige im Triage-Fall nachrangig behandelt werden? Teil II
(Fortsetzung zu Teil I vom 21.11.)
In den vergangenen Tagen wurde mehrfach gemeldet, dass man sich auf eine Triage in oder beim Zugang zu Intensivstationen „vorbereite“. In diesem Kontext haben die Wortmeldungen zur Frage der Berücksichtigung des Impfstatus der Patienten zunächst zugenommen. Dass sich in Deutschland gesundheitspolitische Amtsträger, und sei es noch so vorsichtig, dazu befürwortend positioniert hätten, ist mir nicht bekannt. Auch die unter dem Redaktionstitel „Impfstatus entscheidet vielleicht bei der Triage“ wiedergegebenen Äußerungen des Vertreters einer Kassenärztlichen Vereinigung enthalten keine solche Forderung. Von social media-Kommentaren verärgerter Bürger abgesehen, wird Unterstützung für den Vorschlag weiterhin selten publik. Am ehesten kommt sie, wie im Fall des in Teil I kommentierten Verhaltensökonomen, von akademischer Seite.
Politisch bleibt das Thema in Deutschland ein Tabu. Sonstige Träger einschlägiger Ämter – Vertreter medizinischer Fachgesellschaften, Mitglieder von Ethikräten u. ä. – äußern sich, wenn überhaupt, abwehrend, ohne sich mit Argumenten aufzuhalten. In die am 23.11. veröffentlichte Vorabfassung einer aktualisierten Version der medizinischen Leitlinie „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“ wurde unterdessen der schlichte Hinweis aufgenommen, „aufgrund des Gleichheitsgebots“ sei eine Triage gemäß Impfstatus „nicht zulässig“. Bereits einen Monat zuvor hatte sich die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaft in ihrer einschlägigen Richtlinie in Reaktion auf die in der Schweiz etwas ungeniertere politische Debatte ebenso positioniert: „Auch wenn die Ressourcenknappheit auf einer Infektionskrankheit beruht, gegen die eine wirksame Impfung vorliegt, muss der Impfstatus als Triage-Kriterium ausgeschlossen sein“ (S. 5). In Deutschland schließt ein rückblickender Pressebericht zum Thema, publiziert am 28.11., mit dem kategorischen Satz: „Begriffe wie Schuld, Kausalität, Verursacherprinzip oder Solidarität haben in einer Triage absolut keine Rechtfertigung.“
Der institutionalisierte Sinn dafür, dass der Vorschlag nicht akzeptabel ist, bröckelt also auch unter steigendem Knappheitsdruck nicht. Damit beziehe ich mich auf den Sinn derjenigen, die mit dem für Behandlungsentscheidungen in Kliniken maßgeblichen rechtlichen Rahmen einschließlich der in den Medizin- und Pflegeberufen statuierten berufsethischen Regeln ausreichend vertraut sind, um zu wissen oder zu spüren, dass eine Berücksichtigung des Impfstatus einem Systembruch gleichkäme, der mehr als nur die Regeln der COVID-19-Triage verändern würde – und das nicht in eine wünschenswerte Richtung. Ich selbst teile diesen Sinn, interessiere mich aber dafür, welche akademischen Hintergründe dazu disponieren, ihn aufzukündigen oder ihn, wie vielleicht im Falle des Ökonomen, gar nicht erst zu entwickeln. Darüber, was eine wünschenswerte Richtung der Entwicklung unseres Gesundheitssystems ist, können die akademischen Meinungen jedenfalls auseinander gehen. Die Pandemie wäre nicht der erste Anlass, der das sichtbar macht.
Nach meinem Eindruck gibt es tatsächlich grundsätzliche, tieferliegende Differenzen, die hinter der akademischen Neigung oder Abneigung sitzen, Vorstöße zur Berücksichtigung des Impfstatus zu machen oder ihnen ein offenes Ohr zu leihen. Eine Auseinandersetzung mit diesen Differenzen ist schwieriger als die schnelle Positionierung, die sich auf der Basis des erwähnten, seiner selbst gewissen institutionalisierten Sinns ergibt. Im medialen Diskurs hat sie kaum Platz. Praxisfern und damit, von den Amtsträgern aus gesehen, überflüssig ist sie trotzdem nicht. Das ist im vorliegenden Fall auch deshalb so, weil die Amtsträger zwar beim Kriterium des Impfstatus an einem Strang ziehen, aber nicht bei anderen Triage-Kriterien. Dort sind sie auch weniger selbstgewiss.
Erst jüngst hat ein Mitglied des Deutschen Ethikrats die Verfasser der erwähnten Leitlinie dafür kritisiert, dass sie die medizinische Erfolgsaussicht als Behandlungskriterium „eingeführt“ hätten. Ich selbst habe in diesem Blog darauf hingewiesen, dass die deutsche Leitlinie Inkonsistenzen aufweist; sie sind auch in der neuen Vorabfassung nicht behoben. In der aktuellen Diskurslage interessiert mich daher vor allem, ob auf Basis desselben Gleichbehandlungsverständnisses, das die eindeutige Ablehnung des Impfstatus als Triage-Kriterium generiert, zugleich konsistent die Triage-Praxis begründet werden kann, auf die sich die deutschen medizinischen Fachgesellschaften verständigt haben – und die vermutlich auch zur Anwendung kommen wird.
Um das herauszufinden, genügt es nicht, Behauptungen über zulässige und unzulässige Kriterien zu zitieren. Man muss sich den im öffentlichen Diskurs, wie auch in Leitlinien-Texten, zumeist nur angedeuteten Begründungen zuwenden. Die bereits in Teil I dieses Beitrags vorgestellte Bevorzugungsthese – die These, gemäß derzeit zu erwartender Triage-Praxis würden Ungeimpfte in fragwürdiger Weise bevorzugt – ist ein Faden, an dem ich zu diesem Zweck ziehen möchte. Erst in Teil III wird die angekündigte Auseinandersetzung mit dem rechtswissenschaftlichen Beitrag folgen, der die Zurückstellung der Ungeimpften wegen des Zusammenhangs von Freiheit und Folgenverantwortung für geboten hält. In beiden Punkten, nochmals, scheint mir eine Klärung der Diskurslage nicht trivial, was heißt: Es sind nicht nur Missverständnisse am Werk.
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Die in Teil I zitierte „humanistische“ Autorin schreibt von einer „Bevorzugung von (mehrheitlich ungeimpften) Covid-19-Intensivpatienten“ gegenüber „Herzinfarktpatienten oder Unfallopfern“. So formuliert, betrifft die Bevorzugungsthese alle, auch die geimpften, in der Minderheit befindlichen COVID-Intensivpatienten – und man fragt sich, wie daraus ein Argument für die Zurücksetzung speziell der Ungeimpften werden soll. Um die aus diesem Grund zunächst nicht überzeugende Argumentation allenfalls zu verstehen, muss man die Formulierung heranziehen, mit der die Bevorzugungsthese im Text gestützt wird. Sie lautet, die genannten anderen Patientengruppen benötigten die Intensivpflege „ebenso dringend, jedoch wesentlich kürzer“ als die oft mehrere Wochen auf den Stationen liegenden COVID-Patienten. Statistisch, d.h. als Aussage zu den durchschnittlichen Liegezeiten der jeweiligen Gruppen, scheint das nach allem, was man hört und liest, richtig zu sein. Vielleicht lässt sich, wenn man genug Daten beisammen hat, Analoges auch zum Verhältnis von geimpften und ungeimpften COVID-Patienten sagen: Die ersteren könnten, statistisch betrachtet, kürzere Belegungszeiten aufweisen. Nehmen wir, um dem Argument eine Chance zu geben, an, es sei so. Die Begründung wird aber erst vollständig, wenn man das involvierte Gleichbehandlungsverständnis expliziert.
Wie also sieht die Vorstellung von Gleichbehandlung aus, der gemäß ein Patient bei gleicher Dringlichkeit der Behandlung unbillig bevorzugt wird, falls die voraussichtlich längere Dauer seiner Behandlung nicht zum Anlass genommen wird, ihn zurückzusetzen? Worüber, mit welchen Worten, könnte ein geimpfter COVID-Patient, für den kein Bett frei ist, sich beklagen, wenn das Bett eines ungeimpften COVID-Patienten, der schon seit zwei Wochen auf Station liegt, nicht für ihn frei gemacht wird? „Der Patient hatte schon zwei Wochen, nun gebt erst einmal mir zwei“? Solche Aussagen mögen passen, wenn mit zunehmender Dauer der Ressourcenbeanspruchung die Dringlichkeit nachlässt („Der Kollege hatte schon zwei Wochen Urlaub, nun gebt erst einmal mir zwei“). Bleibt die Dringlichkeit gleich, geht es zum Entscheidungszeitpunkt bei beiden Patienten um dasselbe, nämlich um Leben und Tod. In solchen Fällen passt es nicht, zu sagen, der andere habe schon etwas bekommen und das sei auszugleichen, indem man nun selbst etwas bekomme.
In der Annahme, dass die Autorin sich über diesen Punkt im Klaren war, bleibt folgende Deutung übrig: Der Bevorzugungsthese liegt implizit das utilitaristische Gleichbehandlungsverständnis zugrunde. Nach diesem Verständnis werden Patienten gleichbehandelt, wenn die Befriedigung ihrer Interessen in einem gesamtwertmaximierenden Kalkül in gleicher Weise gezählt wird. Dann ist die Höhe des Ressourcenbedarfs im Knappheitsfall tatsächlich ein relevanter Parameter: Mithilfe des Intensivpflegebetts, das der geimpfte Patient (gemäß Annahme) nach sagen wir vierzehn Tagen stabilisiert verlässt, könnte ein weiterer Patient mit derselben Behandlungsdauer stabilisiert werden. Die Worte, mit denen ein geimpfter COVID-Patient sich über eine Bevorzugung von ungeimpften COVID-Patienten beklagen könnte, müssten dann etwa so lauten: „Eine Triage-Praxis, die der voraussichtlich vierwöchigen Behandlung eines ungeimpften COVID-Patienten gleiche Priorität einräumt wie zwei voraussichtlich je zweiwöchigen Behandlungen von geimpften COVID-Patienten, bewertet das Leben von ungeimpften Patienten doppelt so hoch wie das Leben von geimpften Patienten. Diese Höherbewertung ist eine fragwürdige Bevorzugung, der man Einhalt gebieten sollte.“
Offensichtlich setzt eine solche Argumentation voraus, dass, wen oder was man bei der Triage vorzieht, zeige, wen oder was man höher bewertet. Der Schluss ist aber nicht zwingend. Einer Triage-Praxis, die Behandlungsplätze per Los vergibt, würde man auch nicht unterstellen, sie bewerte das Leben der Gewinner höher als das der Verlierer. Man kann also ohne weiteres triagieren, ohne die Rede vom „Wert“ des Lebens dieser oder jener Patienten im Munde zu führen oder auch nur im Kopf zu haben. Im Falle einer klinischen Praxis, der es fern liegt, Patienten wegen höheren Ressourcenbedarfs zurückzustellen, ist das nicht anders. Diese Praxis belegt nicht, dass das Leben der ressourcenintensiven Patienten höher bewertet wird. Vielmehr zeigt sie vielleicht einfach, dass die Kliniker das utilitaristische Gleichbehandlungsverständnis nicht teilen. Sie begreifen ihre Tätigkeit nicht als gesamtwertmaximierende Tätigkeit. Â
Mit dem soweit Gesagten harmoniert in der deutschen Leitlinie zur COVID-19-Triage die Formulierung, die Priorisierung der Patienten erfolge „ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten“ (S. 4 f). Das gilt aber nicht für die direkt anschließende Behauptung, die Priorisierung erfolge mit der „Zielsetzung, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen“ (vgl. auch, S. 5: Gemäß den „nach Einschätzung der Verfasser am ehesten begründbaren ethischen Grundsätzen“ solle man “die Anzahl vermeidbarer Todesfälle […] minimieren“.) Wenn das die Zielsetzung ist, auf die sich das Ethos der Kliniker richtet, dürfte auch das Kriterium des voraussichtlichen Ressourcenbedarfs ihnen nicht fernliegen – und unter sonst gleichen Umständen müsste es entscheidend sein. Das empfiehlt die deutsche Leitlinie aber nicht. Sie empfiehlt, sich bei gleicher Dringlichkeit allein am Kriterium der Erfolgsaussicht (definiert als Wahrscheinlichkeit des Überlebens der Intensivbehandlung) zu orientieren.
Konsistent ist das nicht. Für Akademiker, die der utilitaristischen Tradition zuneigen, ist eine solche Inkonsistenz ein Einfallstor. Sie können völlig zu Recht darauf hinweisen, dass unter der formulierten Zielsetzung eine „Gleichbehandlung“ in der Triage anders aussehen müsste, als es derzeit in Deutschland empfohlen wird. In der Schweiz wird es übrigens anders empfohlen. Die Richtlinie der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften benennt ebenfalls als Ziel einer Triage in Intensivstationen die Minimierung der Todesfälle und fährt dann konsequent fort: „Die Dauer (Length of stay) und der mit der Behandlung verbundene Aufwand zum Erreichen einer günstigen Prognose haben einen Einfluss auf das Kriterium, möglichst viele Menschenleben zu retten. Daher haben bei gleicher Überlebensprognose Interventionen, die schon nach kurzer Zeit den gewünschten Erfolg erwarten lassen, Vorrang vor Interventionen, deren Effekt sich erst nach langer Therapiedauer einstellt“ (S. 5). Da sieht es also besser aus für intensivpflichtige Herzinfarktpatienten und Unfallopfer – und vielleicht besonders schlecht für die Ungeimpften.
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Die in Teil I kommentierten Ausführungen des Ökonomen brachten mit der Charakterisierung der Impfunwilligen als Trittbrettfahrer eine Kategorie ins Spiel, die zu moralischer Empörung über das Verhalten Impfunwilliger zu berechtigen schien. Ein empörter Ton war dem Interview streckenweise auch zu entnehmen. Damit eignet es sich besser als die im vorliegenden Teil kommentierte Argumentation für einen Anschluss seitens all jener Kommentatoren, die eine Zurückstellung Impfunwilliger im Grunde als „verdient“ empfinden würden. Die diskutierte Bevorzugungsthese kommt ohne den Verdienstgedanken aus, zumal sie alle (auch die aus medizinischen Gründen) Ungeimpften und genau genommen ja überhaupt alle erwartbar ressourcenintensiven Intensivpatienten betrifft – ohne dass die zitierte Autorin das freilich herausarbeitet. Lieber flankiert sie die Bevorzugungsthese mit einem Zusatz, der speziell auf das Verhalten der Impfunwilligen gemünzt ist: Die COVID-Patienten würden bevorzugt, obwohl „die gewollt Ungeimpften“ die Dramatik der Situation „überhaupt erst hervorgerufen“ hätten. Da sei es doch „wirklich einmal an der Zeit“, über den Abbau der Bevorzugung zu diskutieren – auch wenn dies bei den Gegnern einer Berücksichtigung des Impfstatus den Puls erhöhen werde.
Auch hier wird also rhetorische Unterstützung für die Berücksichtigung des Impfstatus durch Appell an jenen Zusammenhang mobilisiert, den der eingangs zitierte Pressebericht mit der Formulierung „Begriffe wie Schuld, Kausalität, Verursacherprinzip“ etwas vage umrissen, aber jedenfalls als irrelevant markiert hatte. Dass einzelne Kommentatoren von einem nötigen Abbau der Bevorzugung Ungeimpfter sprechen anstatt von der Einführung einer Benachteiligung, kann auch eine rhetorische Strategie sein. Denn natürlich schluckt sich das öffentlich leichter. Und solange man dabei nicht expliziert, welches Gleichbehandlungsverständnis einen leitet, fällt der Trick auch nicht unbedingt auf. Ein Beispiel dafür bietet der bereits in Teil I kurz erwähnte Pressebericht über die Positionierung einer Nationalrätin in der Schweiz. Unter dem Subtitel „Keine Privilegien für Ungeimpfte“ wird sie mit der Forderung zitiert, jetzt, wo „mit der Impfung eigenverantwortlich das Ansteckungsrisiko minimiert werden“ könne, „dürfe es nicht mehr sein, dass die Behandlung anderer Patienten zurückgestellt wird wegen ungeimpften Covid-Patienten.“ Vielmehr sollten nun Sportverletzte, Krebspatienten, chronisch Leidende und so weiter „unabhängig von der Pandemie in den vollen Genuss der Möglichkeiten des Schweizer Gesundheitssystems kommen“. Natürlich sollten auch Ungeimpfte behandelt werden, „aber nicht prioritär“.
„Bevorzugt“ wird danach auch derjenige, der vorgezogen wird, weil er im Unterschied zu den Abgewiesenen akut vom Tode bedroht ist – weil er diese Bedrohung eigenverantwortlich hätte vermeiden können. Wenn das so einfach ist (und man auch gleich noch unter den Tisch fallen lässt, dass auch Sportverletzungen nicht vom Himmel fallen), muss man für eine „nachrangige“ Behandlung Ungeimpfter bei der Triage ja gar nicht mehr argumentieren. Das Konzept der Eigenverantwortung – eng verknüpft mit dem Begriffsfeld „Schuld, Kausalität, Verursacherprinzip“ – kann also, wie man sieht, auch hinter der Forderung stecken, Ungeimpfte nicht länger zu „bevorzugen“.
Von Rechtswissenschaftlern darf man erwarten, dass sie sich in diesem Begriffsfeld auskennen. Daher mag es sich lohnen, wie angekündigt auch eine rechtswissenschaftliche Unterstützung für die Berücksichtigung des Impfstatus noch zu kommentieren. Der Text kommt ohne moralische Empörung über das Verhalten der Impfunwilligen aus, besteht aber auf dem Zusammenhang von Freiheit und Folgenverantwortung. Dieser Zusammenhang ist nach meinem Eindruck der hauptsächliche treibende Faktor hinter der aktuellen Debatte. Mir jedenfalls bereitet er mehr Kopfzerbrechen, als der Verfasser sich, soweit am Text erkennbar, gemacht hat.
Fortsetzung folgt