Soziale Gerechtigkeit im Versailler Vertrag
Soziale Gerechtigkeit im Versailler Vertrag
Was liegt dahinter dem Glauben, der Weltfrieden könne „nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut werden”, wie der Versailler Vertrag es ausdrückt? Der Vertrag sollte den Frieden nach dem Ersten Weltkrieg wiederherstellen und rief, wohlgemerkt, zugleich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ins Leben.
Die Gründe dafür müssen nicht im Ersten Weltkrieg, sondern in der Russischen Revolution verortet werden. Es war das Gespenst des Kommunismus, das Otto von Bismarck dazu führte, in 1880er Jahren die weltweit ersten Sozialgesetze einzuführen, und das die Staatenvertreter in Versailles 1919 überzeugte, die ILO zu gründen.
Viele der transnationalen Arbeiterbewegungen forderten seit der Industriellen Revolution starke Formen des Sozialismus, schürten damit die Angst vor kommunistischem Aufruhr und ebneten den Weg für die ILO. Sie zielten auf das Machtverhältnis zwischen Arbeit und Kapital und die gerechte Gewinnverteilung dazwischen. Die neue Internationale Arbeitsorganisation trüg für sie die Hoffnung, dass soziale Gerechtigkeit in die Praxis umgesetzt würde.
In einer innovativen wie einzigartigen Weise, nahm die ILO Arbeitnehmervertreter in ihrer dreigliedrigen Struktur auf, neben den Vertretern der Regierungen und der Arbeitgeber. Inhaltlich klammerte die neue internationale Institution jedoch viele der radikaleren Fragen der Wirtschaftsorganisation aus. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit schrumpft zum grundlegenden Arbeitnehmerschutz. Die Ungerechtigkeit von Unterdrückung und Ausbeutung, gar ihrer Transformation, geriet aus dem Blick.
Der heutige Slogan der ILO entspricht jenem reduzierten Verständnis: Er übersetzt „soziale Gerechtigkeit“ schlicht in „anständige Arbeit“. Man könnte meinen, dies seien zwei parallele Ziele, doch in der ILO schrumpfen sie zum Arbeitnehmerschutz zusammen.
Dieser enge Fokus weitet sich nun langsam wieder mit der steigenden Aufmerksamkeit, die das hohe Ausmaß an Einkommensungleichheit auf sich zieht. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit gewinnt so einen wesentlichen Bestandteil seiner eigentlichen Schlagkraft zurück: Es geht wieder um Fragen der Verteilung, nicht allein um ein menschenwürdiges Minimum; um Privilegien und Fragen der Macht, nicht allein um den Schutz der Schwachen.
Doch ein Verständnis dafür, warum der Versailler Vertrag einen dauerhaften Weltfrieden an soziale Gerechtigkeit knüpft, ist nicht leicht zu finden. Dem nachzuspüren, könnte helfen zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.
Erfahrungen des Kommunismus und Faschismus
Im Europa nach dem Ersten Weltkrieg ging nach wie vor das Gespenst des Kommunismus um. Die Präambel der ILO spricht von „Arbeitsbedingungen, die für eine große Anzahl von Menschen mit so viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, daß eine Unzufriedenheit entsteht, die den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdet.“ Wie andere Friedensverträge, steht der Versailler Vertrag für die Sehnsucht nach der Ruhe vor dem Krieg. Doch das sowjetische Russland führte allen vor Augen, dass jene Ruhe nicht mehr zu haben war.
Die Verbindung zwischen Frieden und sozialer Gerechtigkeit weitete sich dann über eine Fixierung auf den Kommunismus hinaus, hin zu zwischenstaatlichen Beziehungen und zum aufkeimenden Faschismus. John Meynard Keynes hatte bereits 1919 in seinem Buch „Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“ davor gewarnt, dass die wirtschaftliche Unterdrückung Deutschlands den Untergang des zivilisierten Lebens in Europa mit sich bringen würde. Immer ersichtlicher wurde es, dass soziale Ungerechtigkeit innerhalb der Staaten, als auch zwischen ihnen, dem Faschismus einen fruchtbaren Nährboden boten.
In den 1940er Jahren zielte die Politik der Alliierten noch einmal darauf, Westeuropa durch wirtschaftlichen Wiederaufbau und militärisches Bündnis vor sowjetischem Einfluss abzuschirmen. Doch ist das nur ein Teil der Geschichte. Die lebhafte Erinnerung an die Wirtschaftskrisen der 1920er und 30er Jahre und die politischen Möglichkeiten, die sie dem Faschismus in Europa und Asien boten, drängten Fragen der sozialen Gerechtigkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit, für einen Moment gar über die militärische Sicherheit hinaus.
Es war ursprünglicher Teil des Mandats der Bretton Woods Institutionen (der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds), dass sie sich der wirtschaftlichen Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen widmeten. Vor allem die sogenannte „Welthandels-Charta“ band den Frieden erneut eng an die soziale Gerechtigkeit, immer noch in Angesicht des Kommunismus und nun auch mit der Erfahrung des Faschismus.
53 der 56 Staaten unterschrieben 1948 die Charta in Havanna, Kuba, zum Abschluss der „United Nations Conference on Trade and Empolyment“. Die Charta hätte die Internationale Handelsorganisation ins Leben gerufen, deren erster Artikel erkennt, dass „Bedingungen der Stabilität und des Wohlseins … notwendig sind für die friedliche und freundschaftliche Beziehung zwischen den Staaten.“ Die Handelsorganisation sollte sich mit fairen Arbeitsstandards befassen und mit gerechteren Wirtschaftsbeziehungen im Allgemeinen, etwa mit Industrieentwicklung und der Regulierung von Rohstoffen. Entgegen den Erwartungen trat die Welthandels-Charta nie in Kraft, um diese Ideen weiterzutragen.
Von Gerechtigkeit zu Grundbedürfnissen
Die Internationale Arbeitnehmerorganisation war in diesem Kontext marginalisiert. Einen Teil ihres Programmes hätte die totgeborene Handelsorganisation übernehmen sollen. Die ILO trug dennoch dazu bei, dass die Vereinten Nationen „den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit” als eines ihrer Leitziele anstrebte. Mit ihrer Deklaration von Philadelphia (1944) versuchte die ILO, ihre Rolle erneut zu bekräftigen.
Wenngleich die Deklaration als Gegenstrom zum „totalen Markt“ (Alain Supiot) bejubelt wurde, ist sie zutiefst ambivalent: Sie bekennt sich zum ersten Prinzip: Arbeit ist keine Ware. Zugleich hofft sie auf höhere Produktion- und Konsumniveaus durch steigende Handelsvolumen. Während sie schwache Hoffnungen auf eine faire Wirtschaftsorganisation aufnahm, lässt die Deklaration von Philadelphia erahnen, wie sich die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit weiter verengen würde.
Entwicklungen in den 1970er Jahre haben die Überzeugungen geprägt, die heute überwiegen: Der Beitrag des Handels zum Frieden wird auf Wachstum durch Effizienzgewinne und die enge Wirtschaftsverflechtungen zurückge. Die Sorge um Wachstumserwartungen haben das Interesse für das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital, und die Verteilung von Macht und Gewinnen zwischen ihnen, abgelöst.
In diesem Kontext hat sich die ILO weiterhin auf den Arbeitnehmerschutz und die technische Unterstützung in der entkolonialisierten Welt gewidmet. Mit ihrem Fokus auf Grundbedürfnisse schritt sie gar voran und inspirierte die Weltbank und die Menschenrechtsdiskurse, ganz im Einklang mit einem neoliberalen Ansatz: Menschen- und Arbeitnehmerrechte wurden auf Grundbedürfnisse und essenziellen Schutz zurückgefahren. Die Ungerechtigkeit von Arbeitsbeziehungen konnten so völlig außer Acht gelassen werden.
An Symbolik kaum zu übertreffen, überließ die ILO zu jener Zeit ihr Gebäude am Genfer See dem Sekretariat des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, welches sich 1995 zur Welthandelsorganisation entwickelte. Der Ort, der einst verkündete, Arbeit sei keine Ware, wurde zum Sitz gerade jenes Regimes, das Globalisierungsprozesse um Arbeit als Produktionsfaktor ermöglichte. Der Geist der sozialen Gerechtigkeit irrt seitdem mit einiger Verzweiflung umher.
Aus der Geschichte lernen?
Der Jahrestag des Vertrags von Versailles sollte nicht nur Bilder des Ersten Weltkriegs hervorrufen. Er sollte auch dazu anstoßen, den ehrwürdigen Glauben wiederzugewinnen, dass ein dauerhafter Frieden nur auf sozialer Gerechtigkeit fußen kann. Die ILO enttäuschte die Hoffnungen der meisten Arbeiterbewegungen, dass ihre Position im Verhältnis zum Kapital gestärkt würde. Die dreigliedrige Struktur der Organisation und ihre schiere Existenz erinnern zugleich daran, wie weit verbreitet jener Glaube an die enge Verknüpfung zwischen Frieden und Gerechtigkeit war.
Dieser Glaube brach nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt hervor als Entwürfe für die Nachkriegsordnung waren mit der Erfahrung des Faschismus gesättigt waren. Doch militärische, womöglich gar atomare Konfrontation, und die neoliberale Fixierung auf Effizienzgewinne, drängten Anliegen der sozialen Gerechtigkeit erneut zur Seite.
Heute rückt das explosive Potenzial hoher Ungleichheit alte Fragen erneute ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dem Glauben des Versailler Vertrags nachzuspüren holt Wissen hervor, damit es nicht aufs Neue erlernt werden muss: Frieden fußt auf sozialer Gerechtigkeit.
Der Beitrag ist auf Englisch auf socialeurope.eu erschienen.