24 November 2010

Gentechnik-Urteil: Bahn frei dem Vorsorgestaat

Das ist das grünste Urteil aus Karlsruhe, das mir je begegnet ist.

Seit 16 Jahren steht der Umweltschutz als Staatszielbestimmung völlig unbemerkt und unbedeutend im Grundgesetz (Art. 20a). Es gibt bislang kaum Rechtsprechung dazu. Es gibt ein paar Urteile, wo das BVerfG beiläufig den weiten Einschätzungsspielraum betont, den Art. 20a dem Staat einräumt, und die Verpflichtung des Staates zu irgendwelchen konkreten Maßnahmen verneint. Sonst hat dieser Artikel bisher überhaupt keine Rolle gespielt. Wäre er nicht da gewesen, hätte sich nicht groß etwas geändert.

Seit heute ist das anders.

Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen

Gegenstand des heutigen Urteils steht das Gentechnikgesetz. Das reguliert das Inverkehrbringen von genmanipulierten Organismen, den Umgang mit ihnen und was passiert, wenn sie sich mit nicht manipulierten Organismen kreuzen. Das Gesetz erlegt den Firmen und Wissenschaftlern, die Genmanipulation betreiben, manche Last auf. Dagegen hatte das Land Sachsen-Anhalt, Schutz und Schirm der Gentech-Industrie, ein Normenkontrollverfahren angestrengt.

Das blieb erfolglos: Der Senat hat die Klage einstimmig und umfassend abgelehnt. Und eine Schlüsselrolle dabei spielt das Staatsziel Umweltschutz. Nicht nur, weil der Erste Senat dieses Staatsziel überhaupt als maßgebliche Rechtfertigung für die mit dem GenTG verbundenen Eingriffe in Berufs- und Wissenschaftsfreiheit heranzieht.

Sondern auch und vor allem, weil er auf seiner Grundlage – so scheint es mir zumindest – die Risikovorsorgepflicht des Staates neu interpretiert.

In Zeiten der Ungewissheit

Wie gefährlich die grüne Gentechnik langfristig wirklich ist, weiß kein Mensch genau. Das ist hoch kontrovers, und die Wissenschaft kann dazu genauso wenig gesicherte Auskunft geben wie irgendjemand sonst. Deshalb, so der Erste Senat, treffe den Gesetzgeber hier eine “besondere Sorgfaltspflicht”: Es reiche hier nicht, nur die aktuellen Grundrechte der gegenwärtig Betroffenen miteinander in Ausgleich zu bringen.

Art. 20a GG verpflichte vielmehr den Staat, die natürlichen Lebensgrundlagen “auch in Verantwortung für künftige Generationen” zu schützen und nicht nur Gefahrenabwehr, sondern auch Risikovorsorge zu betreiben.

Der Gesetzgeber durfte auch die Nachkommen von gentechnisch veränderten Organismen im Allgemeinen und die durch zufällige Auskreuzung entstandenen gentechnisch veränderten Organismen im Besonderen als mit einem allgemeinen Risiko behaftet ansehen (…). Die Annahme eines solchen „Basisrisikos“ (…) liegt im Bereich der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und setzt keinen wissenschaftlich-empirischen Nachweis des realen Gefährdungspotentials der gentechnisch veränderten Organismen und ihrer Nachkommen voraus. Denn in einer wissenschaftlich ungeklärten Situation wie der vorliegenden ist der Gesetzgeber befugt, die Gefahrenlagen und Risiken zu bewerten, zumal die geschützten Rechtsgüter verfassungsrechtlich verankert sind und ein hohes Gewicht haben.

Der Staat ist also berechtigt und womöglich sogar verpflichtet, auch dann in Grundrechte einzugreifen, wenn es überhaupt keine hieb- und stichfest beweisbare Gefahr bzw. Gefahrwahrscheinlichkeit gibt.

Im Kalkar-Urteil von 1978 hatte das BVerfG das Restrisiko einer wissenschaftlich nicht greif- und messbaren Grundrechtsgefährdung noch als “sozialadäquate Last” bezeichnet, die von allen Bürgern getragen werden muss. Ob das jetzt noch Bestand hat?

Gelockerte Fesseln

Meine grüne Seele freut sich über den Ausgang dieses Verfahrens. Meine Sympathie gehört dem Biobauern und nicht Monsanto. Insofern finde ich das alles ganz prima.

Aber eine kleine ketzerische Beunruhigung beschleicht mich trotzdem, muss ich gestehen.

Risikovorsorge ist ja schön und nett, wenn es gegen die Gentech-Industrie geht. Oder gegen die Atomkraftwerksbetreiber, for that matter.

Aber den Begriff kennen wir auch aus anderen Zusammenhängen.

Der Schritt von der Gefahrenabwehr zur Risikovorsorge war schon eine Lockerung der Fesseln des Staates. Jetzt muss das Risiko noch nicht mal mehr wissenschaftlich nachweisbar sein.

Man kann sich auch einen Staat vorstellen, der auf Basis dauernder vager Gefahrenlagen eine Art permanenten Ausnahmezustand installiert. Was halten wir dem entgegen? Solange er sich nicht auf wissenschaftlich unhaltbares Terrain begibt, haben wir da wenig in der Hand. Den “wissenschaftlich-empirischen Nachweis des realen Gefährdungspotenzials” können wir jedenfalls seit heute nicht mehr von ihm verlangen…

Transparenz

Noch ein anderer Aspekt, den ich jetzt wieder ganz einschränkungslos begrüße:

Die Klage Sachsen-Anhalts richtete sich auch gegen das so genannte Standortregister: Dort sind alle, die Felder mit genmanipulierten Pflanzen betreiben, verzeichnet und können – zum Beispiel von Greenpeace-Aktivisten – ausfindig und identifiziert werden. Was aus Magdeburger Sicht mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht in Einklang steht.

Das BVerfG ergreift die Gelegenheit beim Schopf, eine Lanze für die Transparenz zu brechen:

Die Schaffung von Transparenz stellt in diesem Zusammenhang einen eigenständigen und legitimen Zweck der Gesetzgebung dar. (…) Die im Standortregister erfassten und veröffentlichten Angaben über Freisetzungen und Anbau von gentechnisch veränderten Organismen leisten innerhalb der demokratischen, pluralistischen Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zum öffentlichen Meinungsbildungsprozess. Der öffentliche Meinungsaustausch und die Einbeziehung der Gesellschaft in diese umweltrelevanten Entscheidungen und ihre Umsetzung schützen nicht nur den Einzelnen, sondern stärken die effektive Kontrolle staatlichen Handelns. Um solche Transparenz herzustellen, ist es legitim, bestimmte Daten der Öffentlichkeit allgemein und insoweit ohne weitere Bindung an bestimmte Zwecke zugänglich zu machen.

Gerade vor dem Hintergrund des jüngsten Urteils des EuGH, wonach das Recht auf Privatsphäre die Veröffentlichung von Agrarsubventionsempfängern verbiete, ist diese Klarstellung mehr als willkommen.

Foto: Olaf Nitz, Flickr Creative Commons


2 Comments

  1. Verrecht? Sat 4 Dec 2010 at 21:46 - Reply

    Ich teile Ihre Befürchtungen, sehe aber nicht die Vorteile in dem Urteil, die Sie dort offenbar sehen.

    Auch vorher wäre es im Rahmen der einfachen Gesetztgebung ohne weiteres möglich gewesen, eine schärfere Gengesetztgebung oder meinetwegen sogar ein totales Verbot genveränderter Lebensmittel auf den Weg zu bringen. Die Grünen und inzwischen viele andere Parteien haben sich diese Vorhaben ja auf die Fahnen geschrieben.
    Aber eine verfassungsmäßige (nicht nur moralische, diese bestand IMO bereits vorher) Pflicht des Staates zum Handeln in dieser Frage hat eine äusserst unangenehme Nebenwirkung: Dass nämlich die Regierung in einen falschen Aktionismus verfällt und von nun an immer mehr Gesetzte auf den Weg bringt, die die Nachhaltigkeit gegenüber späteren Generationen sicherstellen sollen, in Wahrheit aber lediglich verschiedenen Lobbyinteressen oder, was für mich genauso schlimm ist, den Füllen der staatlichen Haushaltskassen durch Strafzahlungen dienen. Das deutsche Agrarrecht ist so bereits kompliziert genug.

    Das eigentliche große Problem der Gentechnik, nämlich die Patentierung von beispielsweise Genmais, das sich dann sehr schnell auch auf die Felder anderer Bauern ausbreiten kann und dort nicht mehr zu bekämpfen ist (wegen der Resistenz gegen die meisten Pflanzengifte, was ja eigentlich ein Vorteil war, da so durch pauschlanen Gifteinsatz Unkraut zu vernichten ist), und die Abhängigkeit in die das die Bauern führt, sind dadurch gar nicht angegangen. Dafür wäre Deutschland aber in der Tat das falsche Land, richtig gefährlich ist diese Entwicklung erst in ärmeren Ländern.

    Wie dem auch sei: Ich frage mich, was das BVerfG im Lichte dieses Urteils wohl über eine erneute “Klage” gegen den LHC entscheiden würde. Das Risiko, das von CERN ausgeht, ist wissenschaftlich zwar nicht begründet, aber dennoch könnte die Experimente in dem Teilchenbeschleuniger negative Folgen für irgendjemanden haben, gegen die der Staat dann auch präventiv tätig werden müsste…

  2. […] dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Gen-Food ist das eine willkommene europäische […]

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