29 March 2021

Staatlicher Zahnersatz für den Presserat

Der Medienstaatsvertrag macht die Selbstregulierung der Presse zum Auslaufmodell

„Eine freie Presse beaufsichtigt sich selbst“ – so lässt sich die seit mehr als 60 Jahren gelebte Praxis der Presseregulierung zusammenfassen. Seit November 2020 ermöglicht der Medienstaatsvertrag mit der Online-Aufsicht durch Medienanstalten ein alternatives Modell. Das ist schlecht für den zahnlosen Presserat, aber verfassungsrechtlich überfällig. Denn die Pressefreiheit des Grundgesetzes kann ohne gewisse Sorgfaltspflichten nicht funktionieren.

Nachsicht statt Aufsicht: 60 Jahre Selbstregulierung der Presse

Dank Hollywood wissen wir: Wer seine Getreuen mit Pathos auf das gemeinsame Ziel einschwört, der steht in der Regel am Abgrund. Entsprechend in die Ecke gedrängt wirkte am 16. Februar das Zitat des Geschäftsführers des Deutschen Presserates, Roman Portack: „Die freie Presse wird die freiwillige Selbstregulierung einer staatlichen Kontrolle oder der staatsfernen Aufsicht durch die Medienanstalten immer vorziehen!” Niemals, so liest sich der Umkehrschluss, würde sich die freie Presse unter die Knute einer externen Aufsicht begeben. Dass eine solche jedoch nun im Raum steht, hat mit dem Presserat selbst zu tun – und mit seiner neuen Konkurrenz.

Seit mehr als 60 Jahren hat der Deutsche Presserat ein Auge darauf, dass die Deutschen Printmedien ihre Freiheit nutzen, ohne über ethische Stränge zu schlagen. Von sorgfältiger Recherche über Zurückhaltung gegenüber schutzbedürftigen Personen bis zur Unschuldsvermutung bei Prozessberichterstattung: Inzwischen hat sich die gesamte deutsche Presse den 16 Ziffern des Pressekodex unterworfen, der Magna Charta des Presserats. Über mögliche Verstöße kann sich jede:r per Online-Formular beschweren, woraufhin der Rat die Beschwerde prüft und bei einem Verstoß im schlimmsten Fall dem jeweiligen Medium eine öffentliche Rüge erteilt, die es abdrucken muss.

Jedoch sind die Abdruck-Pflicht für öffentliche Rügen und deren disziplinarische Wirkung seit langem eher ein frommer Wunsch denn mediale Wirklichkeit: Der Presserat kann Zeitungen zum Abdruck von Rügen verpflichten, so viel er will – zum Abdruck zwingen kann er sie nicht. Weigert sich ein Blatt, die erhaltenen Rügen abzudrucken, hat das keine Konsequenzen. Denn um seine Sanktionen durchzusetzen, ist das Gremium auf die freiwillige Mitwirkung der gerügten Mitglieder angewiesen. So verzeichnete der Presserat 2020 nicht nur Rekordwerte bei verteilten Rügen – sondern auch bei deren Nicht-Abdruck. Mit anderen Worten: Statt als Selbstkontrolle wirkt der Presserat eher als Selbsthilfegruppe der Printmedien.

Diese Kritik an der wirkungslosen Selbstregulierung der Presse ist nicht neu und wird seit Jahrzehnten vorgebracht, in jüngeren Beiträgen etwa juristisch von Carolin Louisa Schmidt sowie aus journalistischem Blickwinkel immer und immer wieder von Stefan Niggemeier. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, wie folgenlos die zahlreichen Systemfehler der Presse-Selbstregulierung bleiben. Noch verwunderlicher ist, dass sich über Jahrzehnte der Eindruck eingeprägt hat, der Status Quo sei gewissermaßen Gewohnheitsrecht – sehr zur Freude des Presserats und seiner Mitglieder, die es sich in ihrer eigenen Folgenlosigkeit gemütlich gemacht haben.

Aufsichts-Konkurrenz durch den neuen Medienstaatsvertrag

Mit dem Inkrafttreten des Medienstaatsvertrags (MStV) haben die Landesmedienanstalten plötzlich die Chance bekommen, dem Presserat auf seinem ureigenen Gebiet zu zeigen, wo der regulatorische Hammer hängt: Seit November 2020 müssen sich nicht nur die Mitglieder des Presserats an journalistische Sorgfaltspflichten halten, sondern laut § 19 MStV auch alle anderen “geschäftsmäßig angebotene[n], journalistisch-redaktionell gestaltete[n] Telemedien, in denen regelmäßig Nachrichten oder politische Informationen enthalten sind” – also etwa jedes werbefinanzierte Blog, das in redaktionell gestalteten Inhalten über Tagespolitik berichtet. Und bei deren Regulierung haben laut Staatsvertrag die Medienanstalten den Hut auf.

Zwar dürfen die Medienanstalten nun mitnichten “die Presse” regulieren, sondern nur eine handvoll kleiner Online-Portale, die nicht zu etablierten Verlagen gehören. So können sich etwa Bild.de und Zeit Online weiter im Schatten des Presserats gegenseitig ermahnen, weil sie und ihre Verlage sich dem Pressekodex unterworfen haben. Doch anhand bisher unregulierter Online-Angebote wie beispielsweise der Kölner Internetzeitung report-K oder dem AfD-nahen Deutschlandkurier können die Anstalten nun zeigen, wie konsequente Medienaufsicht aussehen kann – und damit den Presserat und seine Zahnlosigkeit öffentlich vorführen.

Diese Gelegenheit nutzten sie prompt: Bereits im Februar verschickten mehrere Medienanstalten unter Hinweis auf besagten § 19 MStV eine Reihe von Hinweisschreiben an verschiedene Online-Medien, in denen sie auf fehlende Quellenangaben, mangelnde Zitate-Kennzeichnungen und verletzte Recherchepflichten hinwiesen. Zwar betonen die Anstalten, mit diesen Hinweisschreiben sei noch kein förmliches Verfahren eröffnet und man sehe sich keinesfalls im Konkurrenzverhältnis zum Presserat. Doch ihre Aktivität in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des MStV sind bereits ein deutlicher Fingerzeig in Richtung der Selbstregulierer:innen.

Natürlich weiß auch der Presserat, dass die Medienanstalten nun bei der Regulierung von Online-Zeitungen einen Fuß in der Tür haben. So heißt es auf der Presserat-Website zu den neuen Sorgfaltspflichten des § 19: “Wer gegen diese Standards verstößt, muss mit Sanktionen der Landesmedienanstalten rechnen.” Doch einen Ausweg liefert man dort gleich mit: “Eine Alternative ist die freiwillige Selbstregulierung durch den Deutschen Presserat und die Anerkennung des Pressekodex.” Schon ab 100 Euro Jahresentgelt können sich Online-Medien mit Hilfe des Presserats aus der Aufsicht der Medienanstalten freikaufen. Dass die Selbstregulierung der Presse derart offensiv mit ihrer eigenen Nutzlosigkeit wirbt, ist geradezu absurd, wie sich ein weiteres Mal auch bei Stefan Niggemeier nachlesen lässt.

Selbstregulierung: Wunschvorstellung trifft auf Verfassungsrecht

Es ist noch dazu nicht das erste Mal, dass man die Selbstregulierung der Presse in Deutschland zum Jagen tragen muss. Bereits die Gründung des Presserats 1956 ging auf einen Wink mit dem Zaunpfahl des damaligen Bundesinnenministers Robert Lehr zurück. Lehr hatte Anfang der Fünfziger Jahre ein Bundespressegesetz entwerfen lassen, das die Presse einer staatlichen Aufsicht unterworfen hätte. Allerdings war bereits Lehrs Entwurf mit dem Wunsch verbunden, statt des Staates möge sich doch lieber die Presse in Selbstregulierung “aus echtem Berufsethos und politischem Verantwortungsgefühl heraus” um ihre “innere Sauberkeit” kümmern. Einer staatlichen Aufsicht wollte sich die Deutsche Nachkriegspresse verständlicherweise nicht unterwerfen. Sie nahm daher Lehrs Wink dankend auf und gründete rasch mit dem Presserat ihre eigene Selbstregulierung.

Dass der MStV heute eine ähnlich disziplinarische Wirkung gegenüber der Presse entfaltet wie einst der Entwurf des Bundespressegesetzes, wäre zwar wünschenswert. Jedoch scheint die “Regulierungsfrei ab 100 Euro”-Kampagne des Presserats eher in eine andere Richtung zu weisen.

Durch die neue Regulierungspraxis des Medienstaatsvertrags deutet sich somit die Frage an, ob nicht eine staatsferne Aufsicht der Medienanstalten mit echten Sanktionen grundsätzlich die bessere Alternative zur wirkungslosen Presse-Selbstregulierung darstellt. Das Verfassungsrecht steht einer solchen Deutung jedenfalls nicht grundsätzlich entgegen. Zwar ist die Bedeutung der freien Presse als Wesenselement des freiheitlichen Staates und ihre Unentbehrlichkeit für die Demokratie nicht erst seit dem Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts rechtswissenschaftlicher Konsens. Und auch, dass die Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG “vor Einflussnahmen des Staates [schützt], die an Inhalt und Gestaltung des Presseerzeugnisses anknüpfen” (BVerfGE 113, 63, 76), hat das Gericht längst klargestellt. Schwerpunkt der Pressefreiheit ist zweifellos das subjektive Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe.Jedoch hat das Verfassungsgericht ebenso herausgearbeitet, dass mit der Pressefreiheit “Pflichten einher[gehen], die um so [sic] ernster genommen werden müssen, je höher man das Grundrecht der Pressefreiheit einschätzt. Wenn die Presse von ihrem Recht, die Öffentlichkeit zu unterrichten, Gebrauch macht, ist sie zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung verpflichtet” (BVerfGE 12, 113, 130). Klar erscheint auch, dass die Pflicht zur Wahrheit dabei nur der Kern der Sorgfaltspflichten einer freien Presse sein kann. Auch korrektes Zitieren fällt etwa darunter, wie das BVerfG ausführt: „Die im Interesse öffentlicher Meinungsbildung gestellte Aufgabe der Information wird gerade verfehlt, wenn dies nicht geschieht, und mit öffentlicher Kontrolle hat der Tatbestand nichts zu tun.“ (BVerfGE 54, 208, 220)

Dass die Landespressegesetze in Konkretisierung jener Sorgfaltspflicht beispielsweise vorschreiben, „alle Nachrichten vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Wahrheit und Herkunft zu prüfen“ (z.B. § 3 Abs. 2 PresseG BE), vermag zwar den verfassungsrechtlichen Begriff der Pressefreiheit nicht zu definieren. Sie deuten jedoch darauf hin, wo dieser Freiheit in sinnvoller Weise Schranken gesetzt werden müssen, damit die Presse ihrer Funktion in der Demokratie gerecht werden kann. Ungezügelte Freiheit, so hat auch das Verfassungsgericht festgestellt, eignet sich dafür jedenfalls nicht: „Das Korrelat der Pressefreiheit ist eine verantwortungsbewusst arbeitende Presse.“ (BVerfGE 20, 162, 212)

Für Jahrzehnte war der Pressekodex Ausdruck dieses Verantwortungsbewusstseins, sodass öffentliche Aufsicht über die geforderte Sorgfalt der Presse kein Thema war. Da sich inzwischen jedoch die Eigenverantwortung, für die die Selbstregulierung des Presserates steht, als Lippenbekenntnis erweist, ist klar: Auch verfassungsrechtlich ist eine neue Form der Aufsicht geboten. Wo das Gemeinwesen nicht mehr auf eine „verantwortungsbewusst arbeitende Presse“ vertrauen kann, ist auch aus Sicht des Grundgesetzes entsprechende Kontrolle erforderlich.

Regulierte Selbstregulierung als verfassungsgemäße Alternative?

Das heißt selbstredend nicht, dass die Presse einer direkten Staatsaufsicht unterstellt werden könnte. Die Möglichkeit aber, staatsferne Aufsichtsstrukturen einzurichten, die Verstöße gegen journalistische Sorgfaltspflichten effektiv sanktionieren können – diese Möglichkeit schließt das Verfassungsrecht nicht aus. Noch dazu hat Deutschland auch mit staatsferner Aufsicht im Medienbereich seit mehreren Jahrzehnten Erfahrung: Die Landesmedienanstalten haben bei privaten Radio- und Fernsehsendern bereits lange ein Auge darauf, dass dort journalistische Sorgfalt beachtet wird – gar unter direktem Bezug auf die Regeln des Pressekodex.

Für effektive Sanktionen bräuchte es derweil keine direkte Presseaufsicht durch die Medienanstalten. Stattdessen könnten etwa die Länder den Presserat in die Struktur einer regulierten Selbstregulierung überführen. Der Presserat würde wie bisher Beschwerdeverfahren durchführen, wäre aber über deren Erfolg etwa den Medienanstalten gegenüber rechenschaftspflichtig. In einem solchen Rahmen hätte die staatsferne Aufsicht keinen direkten Durchgriff auf einzelne Medien, könnte aber eingreifen, wenn das System der Selbstregulierung nicht die gewünschten Ergebnisse bringt. Indem etwa der Staat die Zulässigkeit der Selbstaufsicht von bestimmten Grundvoraussetzungen abhängig macht und dafür die Entscheidungen des Presserats sanktionsbewehrt, könnte er dem derzeit zahnlosen Gremium juristisch Beine machen – oder vielmehr: ein staatlich verordnetes Gebiss verpassen. Auch gegenüber Sorgfalts-Sündern wie der BILD-Zeitung wäre eine solche indirekte Aufsicht ein dezenter Hinweis, dass Verstöße auf Dauer nicht einfach in der Selbstregulierung versickern.

Bis dahin ist es auch politisch noch ein langer Weg. Dank § 19 MStV haben die Medienanstalten nun zunächst die Chance, in der digitalen Presseregulierung als Aufsicht zu debütieren. Es lohnt sich daher, ihre freundlichen Hinweisschreiben zur Sorgfaltspflicht an diverse Online-Medien im Auge zu behalten. Sollten sich diese in den kommenden Wochen zu förmlichen Verfahren entwickeln, könnte der Presserat nämlich nach all den ungestörten Jahren ein Musterbeispiel für effektive Aufsicht bekommen. Und Presserat-Chef Roman Portack wäre dann gut beraten, seinen ursprünglichen Schwur zu überdenken. Denn dass die Presse aus Angst vor ernsthaften Konsequenzen “die freiwillige Selbstregulierung […] immer vorziehen” wird, könnte sich auf Dauer eher als Argument gegen den Presserat erweisen.


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