21 July 2020

Staatswohl vor Menschenwohl

Das Bundesamt für Verfassungsschutz, die „superlegale Verfassung“ und die Menschenwürde

Die Neue Rechte sei ein „Superspreader von Hass, Radikalisierung und Gewalt“, sagte vor ein paar Tagen nicht etwa ein Vertreter der Antifa, sondern der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Thomas Haldenwang. Dabei ist spätestens mit dem NSU-Komplex klar geworden, dass wir auch beim BfV ein Problem mit rechtsextremen Strukturen haben. Ebenso wurde deutlich, dass die „superlegale Verfassung“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dazu führt, dass das Wohl des Staates über das des Menschen gestellt wird.

Von der Legalität über die Legitimität zur Superlegalität

Aktuell arbeitet das BfV an einem Lagebericht zum Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden – und dieser ist dringend nötig. Wir haben rechtsextreme Netzwerke bei der Bundeswehr und bei der Polizei. (Zur Problematik des Extremismusbegriffs siehe hier.) Erst vor ein paar Tagen hat die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Auflösung einer Kompanie der Bundeswehr-Eliteeinheit KSK bekanntgegeben – und aktuell macht die Polizei in Hessen von sich reden, weil sie eine Gruppierung namens NSU 2.0 mit Daten aus dem Polizeicomputer versorgt. Dass die NSU-Netzwerke allesamt verschwunden sein sollen, glaubt niemand, der sich mit dem NSU-Komplex beschäftigt. Erst kürzlich hat Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau darauf aufmerksam gemacht.

Ein Verweis auf das Staatswohl vonseiten des BfV reicht aus, um allen drei Gewalten Informationen vorzuenthalten – das haben wir im Laufe der teilweise erheblich blockierten Aufklärung des NSU-Komplexes gesehen. Doch was genau ist das: dieses Staatswohl? Das Besondere an diesem Begriff ist, dass er in doppelter Weise magisch wirkt – er beendet schlagartig jegliche Diskussion und ist trotz seiner permanent zur Schau gestellten Kraft unsichtbar. So gibt es kaum Fachliteratur zum Staatswohl selbst und das, obwohl dieser Begriff die Aufmerksamkeit eines jeden politisch interessierten Menschen auf sich ziehen müsste. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der oberste Verfassungswert laut Grundgesetz die Menschenwürde ist – an Artikel 1 haben sich alle staatlichen Organe zu orientieren.

Weder in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts noch in den einzelnen Artikeln des Grundgesetzes und gesetzlichen Bestimmungen, in denen das Staats-, aber auch das öffentliche Wohl des Bundes oder einzelner Bundesländer angeführt werden, sind Definitionen zu finden. In den Urteilen, in denen der Begriff auftaucht, heißt es aber, dass das Staatswohl allen Gewalten zur gemeinsamen Hand anvertraut ist. Wie könnte es auch anders sein? Doch wie wir gesehen haben, konnte sich das BfV absurderweise als alleiniger Wahrer dieses Werts positionieren.

Zum Staatswohl habe ich an anderer Stelle einiges mehr geschrieben, hier beschränke ich mich nur auf sein Negativ: die Staatsgefährdung – ein Tatbestand, der bereits im nationalsozialistischen Strafrecht existierte und der dann über den Umweg über das politische Strafrecht der BRD seinen Weg in die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) gefunden hat:

„Dieser Tatbestand sollte auch solche Angriffe gegen den Staat strafrechtlich verfolgbar machen, die nicht, wie im Fall des Hochverrats, Gewalt anwenden. Das Schutzobjekt sollte eben die freiheitliche demokratische Grundordnung sein, die in den Art. 18 und 21 Abs. 2 GG benannt ist, jedoch dort als Rechtsgut nicht inhaltlich gefüllt war. Ausschlaggebend für die Strafverfolgung war dabei vor allem die Absicht der Täter.“ (Sarah Schulz)

Die Legitimation für sein Vorgehen zieht der Verfassungsschutz aus der vom Bundesverfassungsgericht in seinen Parteiverbotsurteilen 1952 (SRP) und 1956 (KPD) „gekerbten“ und zum „Fetisch“ erhobenen freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Diese ist der „Kernbegriff der wehrhaften Demokratie“ und der „Prüfungsmaßstab der Grundrechtsverwirkung aus Art. 18 GG und dem Parteiverbot aus Art. 21 Abs. 2 GG“. Aus der Tatsache, dass es bereits wehrhafte Artikel im Grundgesetz gab, zog das Gericht die Schlussfolgerung, dass es eine dem Grundgesetz vorgelagerte, existenzielle Entscheidung für eine wehrhafte Werthaftigkeit gegeben haben muss, so dass das Grundgesetz „nur noch“ Ausdruck dieser Werteordnung ist.

Ulrich K. Preuß bezeichnet die fdGO – die nicht identisch ist mit der Summe der Normen des Grundgesetzes – dementsprechend als „superlegale Verfassung“. Dies wird dadurch ermöglicht, dass man gemäß der Unterscheidung des NS-Kronjuristen Carl Schmitt die gesetzte (positivierte) Norm – die Legalität – von ihrem Kern (dem Wert dahinter) – der Legitimität – trennt und somit nicht mehr an den genauen Text der Norm gebunden ist, sondern nach dem Wert, der der Norm zugrunde liegt, fragen und sich an diesem orientieren kann. Die fdGO-Formel wurde also substantiiert und so der Tatbestand der Staatsgefährdung mittels der schwammigen Formulierung „Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft“ in die Rechtsordnung eingeführt. Das höchste Gut ist somit der Staat, der geschützt werden muss, um dessen Wohl es geht. Die fdGO ist „vom Staate her“ (Frieder Günther) gedacht.

Auf dieser Grundlage entscheidet der Verfassungsschutz, worüber im politischen Betrieb der BRD legitimerweise gesprochen werden darf und worüber nicht (siehe hier S. 83-101). Faktisch kann es Menschen, Vereine und Parteien zu Feinden erklären und überwachen lassen, ohne dass diese sich illegal verhalten hätten. Deren „verfassungsfeindliche“ Gesinnung, Meinung oder auch Absicht ist Grund genug.

Die BRD restauriert

Doch das Konzept der wehrhaften Demokratie war nicht immer unumstritten. Vielmehr dauerte es über zehn Jahre bis zu seiner Implementierung in der noch jungen BRD, die sie vor allem einem früheren Pg.-Beamten verdankte (Pg. = NSDAP-Parteigenosse). Der Widerstand der Alliierten dagegen war groß. Alte NS-Funktionseliten, welche 1945 noch im Zuge der Entnazifizierung reihenweise aus ihren Ämtern scheiden mussten und durch ehemals von ihnen Verfolgte ersetzt wurden, setzten das Konzept nach und nach um. Gemeinhin spricht man vom antifaschistischen Konsens der Gründungsjahre der BRD, sein rechtlicher Ausdruck ist das Grundgesetz. Keine fünf Jahre später wurden die Verfolgten im Zuge einer vom damaligen Innenminister und späteren Bundespräsidenten Heinemann sowie vom ersten Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Otto John, als solche bezeichneten Renazifizierung (zit. nach Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland, S. 12 und 22f. und passim) durch ihre ehemaligen Verfolger wieder aus dem Amt gedrängt. Eugen Kogon sprach Anfang 1954 davon, dass die Verfolger nun endgültig über die Verfolgten gesiegt hätten, und in der Tat hatten sie die Zeit und ihre politische Organisiertheit in der Bürokratie für entscheidende Weichenstellungen genutzt. Walter Dirks sprach schon 1950 vom restaurativen Charakter seiner Epoche und meinte damit: „Nicht weil die Nazi (sic) am Ruder sind, werden reaktionäre Dummheiten gemacht, sondern weil man die Bürokratie restauriert, braucht man die alten Pg.-Beamten.“ Und Ulrich K. Preuß verweist 65 Jahre später im Schatten des NSU-Komplexes einerseits und neuer Studien über Nazibelastungen in den Innenministerien in West und Ost andererseits zu Recht auf die Pfadabhängigkeit solcher personellen Weichenstellungen (auf dem Podium der NSU-Tagung „Blinde Flecken“ vom 11. Dezember 2015).

Der antifaschistische Konsens der Anfangsphase der BRD wurde schnell durch einen antitotalitären, sprich antikommunistischen Konsens ersetzt. 60 Jahre im Dienst der Verhinderung einer Staatsgefährdung auf Grundlage einer Verfassung der Legitimität, die dem Grundgesetz vorgelagert ist, haben den Verfassungsschutz sich mehr und mehr verselbständigen lassen. Preuß spricht zu Recht vom BfV als einer „extralegalen Institution“ (zit. n. Hajo Funke, Staatsaffäre NSU. Eine offene Untersuchung, S. 299). So ist es nur logisch, dass der Verfassungsschutz eine Institution ist, die laut § 1 Bundesverfassungsschutzgesetz in erster Linie die fdGO schützt und darüber hinaus auf Grundlage des Opportunitätsprinzips operiert und nicht des Legalitätsprinzips, welches für Polizeibehörden gilt. Es liegt also im Ermessen des Verfassungsschutzes selbst, ob und wann er die Sicherheitsbehörden über Straftaten informiert.

Verkehrte Werte

Wenn es nun aber so etwas wie das Staatswohl im Sinne eines höheren Gutes gibt, verkehrt sich dann nicht die oberste Wertentscheidung des Grundgesetzes – Art. 1 – in ihr Gegenteil? Die Tatsache, dass die Unantastbarkeit der Würde des Menschen an den Anfang des Grundgesetzes gestellt wurde, nachdem sie in der Verfassung der Weimarer Republik in Art. 151 nur am Rand erwähnt war, macht deutlich, wie es im GG-Kommentar von Jarass und Pieroth heißt, „dass in der Ordnung des Grundgesetzes zuerst der Mensch kommt und erst dann der Staat […], in Umkehrung des nationalsozialistischen Leitsatzes, der Einzelne sei nichts, der Staat (oder die Gemeinschaft) alles“. So heißt es auch im Entwurf von Herrenchiemsee

„zutreffend in Art. 1 Abs. 1: ‚Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.’ […] Der Staat und seine Ziele haben keinen Eigenwert, sondern ziehen ihre Berechtigung allein daraus, dass sie den Menschen konkret dienen. Darin liegt auch eine Abkehr von der Vergötterung des Staats und der Volksgemeinschaft, etwa in der deutschen Romantik“ (ebd.).

Die Würde des Menschen ist demnach „oberste[r] Verfassungswert“ des Grundgesetzes, die „Garantie des Art. 1 fungiert als ,tragendes Konstitutionsprinzip’ […], als ,Grund- und Leitnorm’ […], als wichtigste Wertentscheidung des Grundgesetzes.“ Ferner verpflichtet Art. 1 die gesamte Staatsgewalt. (Sämtliche Quellen hier). Nun ist es also so, dass der Würde des Menschen als oberstem Verfassungswert des Grundgesetzes eine Dignität des Staates, die sich über das Staatswohl ausdrückt, entgegengesetzt werden kann, so dass nicht mehr klar ist, ob der Staat um des Menschen willen oder der Mensch um des Staates willen da ist. Der Schutz der Menschenwürde stand zunächst – folgt man den Ausführungen von Rigoll und Denninger – „nicht ohne Grund […] auch an der Basis der ,amtlichen Definition’“ der fdGO, und zwar bereits in dem ersten, dieses Prinzip mit Inhalt füllenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1952 (BVerfGE 2, 1 (2. Leitsatz) S. 12 f.). Müsste somit nicht die Menschenwürde auch als oberster Wert der fdGO gelten und das Verhalten des BfV leiten? Die fdGO-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hatte sich jedoch im Zuge der erwähnten Renazifizierung und der damit einhergehenden personellen und strukturellen Veränderungen auch des höchsten Gerichts dahingehend verändert, dass die in den ersten Urteilen befindliche explizite Rückbindung der fdGO an Art. 1 GG aus den nachfolgenden verschwunden war, bevor sie dann doch wieder Berücksichtigung fand.

Nach dem Versagen der Paradigmenwechsel?

Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist diejenige Behörde, die ohne Weiteres die Aufklärung der dem NSU zugeschriebenen Taten hätte entscheidend vorantreiben können, da sie wie keine zweite Informationen direkt aus dem Umfeld der Zwickauer Zelle sammeln konnte. Stattdessen hat sie seit dem Tag der Selbstenttarnung alles in ihrer Macht Stehende getan, um Spuren zu verwischen, Akten zu vernichten, Aufklärung zu behindern – immer mit einem Verweis auf das zu schützende Staatswohl. Auch beim Verfassungsschutz haben wir also ein Problem.

Es steht außer Frage, dass die Behörde „[n]icht auf dem rechten Auge blind, sondern zu nah dran“ war, wie die Nebenklagevertreter:innen im sog. NSU-Prozess in einer gemeinsamen Presseerklärung konstatierten. Der NSU war von V-Leuten geradezu umzingelt, sein Umfeld von Spitzeln durchsetzt. Wie wir heute wissen, hätte der Verfassungsschutz den NSU schon vor Beginn der Mordserie stoppen können. Haben wir nun mit Haldenwang an der Spitze eine gänzlich neue Behörde, die über Nacht das Problem Rechtsextremismus erkannt hat? Ist Haldenwang nun ein „Anti-Maaßen“? Wie wird sich die Behörde als Ganzes mit ihrer eigentümlichen Geschichte verhalten? Immerhin haben wir es beim Verfassungsschutz mit einer Art „Superexekutive“ zu tun, die sich über die Jahrzehnte verselbstständigt hat und keiner wirksamen Kontrolle unterworfen ist. Thomas Haldenwang ist seit eineinhalb Jahren im Amt. Seitdem können wir immerhin einen Perspektivwechsel beim Verfassungsschutz beobachten. Ob es sich hier bereits um einen Paradigmenwechsel handelt, wird man sehen. Sein Vorgänger Hans-Georg Maaßen hatte jedenfalls andere Prioritäten gesetzt.


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