Steriles Politikverständnis: Zum Wanka-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Das BVerfG hat in einem Grundsatzurteil entschieden, dass die damalige (und nunmehr geschäftsführende) Bundesministerin Johanna Wanka durch eine Pressemitteilung die Chancengleichheit der Parteien (konkret der AfD) verletzt hat. Den Anlass für den von der AfD angestrengten Organstreit bildete eine amtlich durch das Ministerium veröffentlichte Pressemitteilung, in der sich die Ministerin zugespitzt kritisch zu einer Versammlung der AfD geäußert hatte. Die Entscheidung des BVerfG schreibt die zuletzt im Schwesig-Urteil vom Dezember 2014 konturierten Grundsätze zur amtlichen Neutralitätspflicht fort. Das Urteil vermittelt zugleich einen Vorgeschmack auf die zu erwartenden staatsrechtlichen Konfliktszenarien der kommenden Jahre in den aufziehenden Kulissen eines verschärften politischen Meinungskampfes.
Das BVerfG verteidigt in seinem Urteil konsequent Oppositions- bzw. Minderheitenrechte und lässt sich erwartungsgemäß weder vom politischen Betrieb noch vom politischen Lagerdenken vereinnahmen. Dass dem Gericht hierdurch unvermeidbar die Rolle zuwächst, Schutzschild der AfD zu sein, liegt an den volatilen Zufälligkeiten der gegenwärtigen politischen Konfrontationslinien, nicht am Gericht. Das BVerfG hat seit geraumer Zeit (meist in Bezug auf eine traditionell lange „linke“ Opposition) sukzessive Minderheitenrechte im politischen Meinungskampf gestärkt: parlamentarische Oppositionsrechte, Interpellationsrecht einzelner Abgeordneter, effektives Untersuchungsrecht, Neutralitätspflichten im Amt. Die prinzipiell ausgewogene Architektur des inner- wie außerparlamentarischen Schutzes von Opposition muss sich auch in Zeiten härter werdender Auseinandersetzungen bewähren. Für die parlamentarischen Mehrheiten, die mit Blick auf die AfD breiter sind als mögliche Regierungsbündnisse, bedeutet dies einmal mehr: Es gilt auf Diskriminierungen zu verzichten, die harte, aber sachliche Auseinandersetzung zu suchen und – dies ist vielleicht die stille Pointe des Urteils – die notwendige politische Konfrontation von Regierungsämtern in das Parlament zu verlagern. In der parteipolitischen Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag gibt es kein Neutralitätsgebot. Insoweit reiht sich das Urteil auch in eine – vor allem im Europaverfassungsrecht zur Blüte gebrachte – Entscheidungskette ein, Politik zu reparlamentarisieren.
Gleichwohl überzeugt das rigide Neutralitätskonzept des BVerfG nicht durchweg. In der Sache liegt dem Urteil ein steriles Politikverständnis zugrunde, dass sich einseitig am Leitbild des hoheitlichen Gesetzesvollzugs ausrichtet. Den Besonderheiten politischer Kommunikation in politischen Ämtern wird die Begründung des Gerichts nicht gerecht. Das im Rechtsvergleich – aus gutem Grund – prononciert apolitische deutsche Verwaltungsverständnis, wonach Amtswalter vornehmlich das geltende Recht neutral, distanziert und ohne Ansehung der Person vollziehen, wird kurzerhand auf politische Regierungsämter übertragen. Das Regieren wird entpolitisiert und mutiert zu einem Wurmfortsatz des nachgeordneten Berufsbeamtenapparats. Das BVerfG hat in einer klug durchkonzipierten Rechtsprechung die verfassungsmäßige Aufgabe des Berufsbeamtentums gerade darin erblickt, „im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern“, also ein rechtsstaatliches Gegengewicht zu den gewählten Amtsträgerinnen und Trägern zu bilden. Dies setzt zutreffend voraus, dass es einen Bereich des administrativen Gesetzesvollzugs, aber daneben eben auch ein legitimes politisches Kräftespiel gibt. Zum politischen Arm der öffentlichen Gewalt gehört der Verantwortungsbereich der Gubernative, die im deutschen Staatsrecht bezeichnenderweise bislang weitgehend anämisch-blass sowie im Schatten des bürokratischen Verwaltens geblieben ist.
Die Regierung erfüllt eigenständige Funktionen demokratischer Legitimationssicherung zwischen Politik und Verwaltung; sie muss sich dazu angemessener Kommunikationsformen bedienen können, die der Politizität des Regierungsamtes, seiner Zeitlichkeit und seiner Scharnierfunktion gerecht werden. Die Mitglieder der Bundesregierung erhalten ihre Ämter (mittelbar) durch politische Wahlen und können diese auch hierdurch wieder verlieren. Sie werden gewählt und ernannt, um einen politischen Wählerauftrag zu erfüllen, der mehr ist, als das Einbringen bürokratisch ausgearbeiteter Gesetzesinitiativen und der Erlass von Rechtsverordnungen. Mit einem Regierungsamt ist funktionsimmanent die Befugnis verbunden, politische Auseinandersetzungen zu führen, was es einschließt, politische Gegner kommunikativ zu stellen und oppositionelle politische Positionen öffentlich zu bewerten. Politische Standpunkte gehören untrennbar zum Amt, sind aber nie neutral, zumal Regierungsämter legitimer- wie notwendigerweise durch Parteiloyalitäten erworben wurden. Politische Standpunkte sind gegenüber den Wählerinnen und Wählern politisch zu verantworten, nicht durch dienstliche Anlassbeurteilung im nächsten Beförderungsverfahren.
Natürlich dürfen – so das BVerfG zu Recht – öffentliche Ressourcen und Machtmittel nicht missbraucht werden, um politische Opposition zu diskriminieren. In der schlichten öffentlichen Kundgabe einer unverbindlichen politischen Position, die aus einem Regierungsamt in Verantwortung für das allgemeine Wohl gebildet wurde, liegt aber keine nennenswerte Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zum asymmetrischen Meinungskampf. Eine auf der Homepage des Ressorts veröffentlichte Pressemitteilung ist kein „Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten, die den politischen Wettbewerbern verschlossen sind“ (Randnummer 62), und durch die unter Inanspruchnahme von „Amtsautorität“ (Randnummer 66) politische Meinungshoheit durchgesetzt wird. Es geht um nicht mehr als eine – gemessen an der dezentralen Meinungsmacht von Internet und Twitter-Botschaft eher hilflose – politische Verlautbarung in einem dem politischen Staatsamt der Ministerin angemessenen Kommunikationsformat.
Eine staatstragende Kultur des Administrativen, die das BVerfG hier ungewollt pflegt, mag diffuse Sehnsüchte nach der Regierung als pouvoir neutre befriedigen, die politischen Regierungsfunktionen bildet dies aber nur verzerrend ab. Bessere Argumente, die das Gericht durchaus sorgfältig referiert, hätten daher dafür gesprochen, zwischen rein politisch-wertender Kommunikation (hier gelockertes Sachlichkeitsgebot) einerseits und grundrechtsrelevantem Gesetzesvollzugs sowie der Beeinflussung der Chancengleichheit der Parteien im Wahlkampf (dort strikte Neutralität) andererseits zu differenzieren. Die angegriffene Pressemitteilung, die in keinem Zusammenhang mit dem Wahlkampf stand, wäre dann nicht zu beanstanden gewesen.
Bei einer strikten Auslegung des Neutralitätsprinzips von einem “sterilen Politikverständnis” zu schreiben, mutet skurril an. Der Rückgriff auf staatliche Ressourcen – nichts anderes ist die IT-Infrastruktur eines Ministeriums – für den politischen Kampf widerspricht dem Neutralitätsprinzip. Frau Wanka hätte es freigestanden, für ihre Meinungsäusserung jede andere Webseite wie z.B. von der CDU, ihre persönliche Webseite … zu nutzen.
Regierungsvertreter sollen sich grundsätzlich außerprolitisch außerparlamentarisch staatsleitend parteiiisch äußern dürfen. Politisch sollen sie sich nur parlamentarisch parteiisch äußern dürfen. Eine Herleitung davon aus parteipolitischer Chancengleichheit und Neutralitätspflicht o.ä. kann etwas dunkel scheinen. (Die öffentlichkeit scheinen im Grunde stets voll von Parteinahme ebenso mittelbar oder unmittelbar von Regierungsvertretern, eventuell nur nicht direkt gegen andere. Wie soll sich ein bekannt parteiischer Politiker öffentlich strikt neutral und damit nicht indirekt gegen andere gebärden usw.?)
Vielleicht haben die Verfassungsrichter daran gedacht, dass in absehbarer Zeit ein Politiker der AfD (oder einer anderen populistischen Partei, von der wir jetzt noch nichts ahnen) im Ministersessel sitzen und Pressemitteilungen verfassen könnte…
Aus meiner Sicht verdient eine kritische Auseinandersetzung mit der Zulässigkeit besondere Aufmerksamkeit. Das Bundesverfassungsgericht bejaht das Rechtsschutzbedürfnis zwar problemsensibel, aber im Ergebnis doch recht eindeutig auch im Fall einer aufgrund einer einstweiligen Anordnung unverzüglich gelöschten (!) Pressemitteilung eines Ministeriums (Rn. 33-36). Ich halte dies für überspannt. Die Angreifbarkeit jeder Pressemitteilung eines Ministeriums (und damit jeder Äußerung auch etwa des Ministeriumssprechers etc.) im Organstreitverfahren, das ein streitiges Rechtsverhältnis voraussetzt, betrifft die vom Autor zu Recht angemahnte Übertreibung des Neutralitätsprinzips schon in der Zulässigkeit. Eine Wiederholungsgefahr war im konkreten Fall doch durch die einstweilige Anordnung und die darauffolgende Löschung der Mitteilung bereits ausgeschlossen.
Es ist zu erwarten, dass die vom BVerfG aufgestellten Maßstäbe künftig bei jeder auch nur ansatzweise kritischen Äußerung eines Mitglieds der neuen Bundesregierung gegenüber der antragstellenden Partei aufgerufen werden. Als drittstärkste Fraktion im Deutschen Bundestag verfügt sie inzwischen auch über Ressourcen, diese Verpflichtung auf das Neutralitätspflicht ggf. verfassungsgerichtlich vermehrt zu aktivieren. Ob dies dem demokratischen Diskurs zwischen Regierung und Opposition zuträglich sein wird, bleibt abzuwarten. Umso wichtiger ist der lebendige Widerspruch aus den Reihen der Regierungs- und sonstigen Oppositionsfraktionen im Parlament.
Interessante Analyse. In Ihre Richtung einer gebotenen Differenzierung zwischen “rein politisch-wertender Kommunikation (hier gelockertes Sachlichkeitsgebot) einerseits und grundrechtsrelevantem Gesetzesvollzug sowie der Beeinflussung der Chancengleichheit der Parteien im Wahlkampf (dort strikte Neutralität) andererseits” geht wohl auch das Fazit von Roßner auf lto.de. Trotzdem: Im Zweifel ist auch ein Minister bei seiner amtlichen Kommunikation zur Zurückhaltung verpflichtet.