Die Stichwahl in Österreich wird wiederholt, und das ist gut so
Wieder ist Freitag, und wieder stelle ich fest, dass etwas passiert ist, an dessen Eintreten ich nicht geglaubt hatte, weil ich es nicht glauben wollte: Letzte Woche war es die Tatsache, dass das britische Volk etwas so für alle Seiten unabsehbar Destruktives tun würde wie den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zu beschließen. Diese Woche ist es der Beschluss des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, die Stichwahl für das Amt des Bundespräsidenten wegen Irregularitäten bei der Auszählung komplett aufzuheben und wiederholen zu lassen.
Wir erinnern uns: Am 22. Mai hatte Alexander van der Bellen mit hauchdünnem Vorsprung das Amt des Staatsoberhaupts gegen Norbert Hofer erobert, in einer Stichwahl, die wie keine vor ihr die neue politische Konstellation sichtbar macht, die die westliche Welt mittlerweile fast überall kennzeichnet: hier das Lager der Pluralisten und Kosmopoliten, die für Emanzipation kämpfen und gegen Diskriminierung – mit einem Wort, die Grünen. Dort das Lager der Identitären und Nationalisten, die das Normal-Sein-Wollen der “einfachen Leute” gegen den Emanzipationsanspruch der Minderheiten durchzusetzen trachten – mit einem Wort, die FPÖ. Das war die Polarisierung, die diese Wahl dominierte, weshalb Sozial- und Christdemokraten, deren Kandidaten in dieser Konstellation nicht klar zuordbar waren, dieselben nicht mal in die Nähe der Stichwahl zu bringen vermochten.
30.386 Stimmen hatte der frühere Grünen-Chef van der Bellen mehr erringen können als der FPÖ-Kandidat Hofer – ein Nichts von einer Mehrheit, ein Stäubchen, das auch der geringste Zweifel daran, dass beim Zustandekommen der Mehrheit alles mit rechten Dingen zugegangen war, wegzublasen in der Lage war. Zweifel, die die FPÖ umgehend beim Verfassungsgerichtshof anmeldete, der daraufhin nachsah – und sie in der Tat berechtigt fand.
Dass die Wahl durch Fehler bei der Auszählung derart kompromittiert war, dass sie annulliert und wiederholt werden muss, ist ein Schock für Österreich und für ganz Europa. Bevor wir uns aber dem Impuls hingeben, uns vor lauter Kopfschütteln über die Verkommenheit des österreichischen Staatswesens einen Nackenkrampf einzufangen, sollten wir doch etwas genauer hinschauen, was es genau für Versäumnisse sind, die der VerfGH zu Tage förderte.
Bei der Auszählung der Briefwahlstimmen, so der Gerichtshof, hatten die Wahlbehörden in vierzehn Wahlbezirken offenbar die Regeln für die Auszählung der Briefwahlstimmen sehr bequem ausgelegt und sich das Recht genehmigt, mit derselben schon mal ohne den vorgeschriebenen, von den Parteien delegierten Beisitzer anzufangen – wogegen die Beisitzer offenbar nichts einzuwenden hatten, da sie den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl mit ihrer Unterschrift bezeugten.
Was der VerfGH dagegen nicht festgestellt hat, waren Anzeichen, dass tatsächlich irgendeine Art von Manipulation des Wahlergebnisses stattgefunden habe. Das sei aber gar nicht ausschlaggebend. Es komme darauf an, dass durch die schiere Möglichkeit einer Manipulation nunmehr insgesamt 77.926 Briefwahlstimmen mit einem Schatten der Zweifelhaftigkeit belegt seien, und sei er auch noch schwach und hypothetisch, und dieser Zweifel schlage auf das Wahlergebnis insgesamt durch:
Da die von der Rechtswidrigkeit betroffenen Stimmen die Hälfte des Vorsprunges (15.432 Stimmen) bei weitem übersteigen, konnte das von Einfluss auf das Wahlergebnis sein.
Die gesamte Stichwahl muss wiederholt werden, und zwar im ganzen Land. Es soll, so die Begründung, keine Situation entstehen, wo jemand bei der ersten Wahl schon gültig gewählt haben und bei der Wiederholung in einem der betroffenen Wahlbezirke seine Stimme noch mal abgeben kann.
Außerdem befahl der Gerichtshof, dass mit der lange geübten Praxis Schluss sein müsse, Auszählungsergebnisse unter Sperrfrist Medien und Wahlforschern mitzuteilen, solange die Wahllokale noch geöffnet haben. In Zeiten von Twitter und Facebook könne so ein Trend, wenn er durchsickert, rasend schnell Verbreitung finden und dann tatsächlich Wähler mobilisieren oder von der Stimmabgabe abhalten, die ohne diese Information sich anders verhalten hätten.
Politisch bedeutet das, dass das Rennen wieder offen ist. Die FPÖ in Gestalt ihres Kandidaten Norbert Hofer bekommt erneut die Chance, das Amt des Staatsoberhaupts zu erobern, was der erste Schritt eines umfassenden Ermächtigungs-Szenarios sein könnte, in der die Nationalidentitären die Voraussetzungen ihres Erfolges beim Gewinnen und Behaupten der Macht selber schaffen können, so wie es in Ungarn und womöglich auch in Polen bereits der Fall ist.
Und doch: ich halte es nicht nur rechtlich, sondern auch politisch für gut, dass der Verfassungsgerichtshof so entschieden hat.
In einer verfassungsstaatlichen Demokratie wird die Frage, wer Macht bekommt, nicht mit Gewalt, Verdienst oder Gottes Wille beantwortet, sondern durch ein formalisiertes Verfahren, das nach vorab festgelegten Regeln abläuft und aus diesen ihre legitimationsstiftende Wirkung bezieht. Alles hängt von dieser Regelgebundenheit ab, bis ins kleinste Detail. Jede Unklarheit, jedes Kann-man-so-oder-so-Sehen kann bei entsprechend knappem Wahlausgang die legitimierende Wirkung des Wahlergebnisses beschädigen. So wie die Tatsache, dass sich in Florida niemand vorab Gedanken gemacht hatte, ob nicht komplett durchgestanzte Wahlscheine gültig sind oder nicht, am Ende darüber entscheiden konnte, ob der US-Präsident George Bush oder Al Gore heißt.
Die Wahl von Alexander van der Bellen auf diese Weise anzweifeln und unter Betrugsverdacht stellen zu können – das hätte der FPÖ wunderbar ins Konzept gepasst, das ohnehin darauf beruht, sich und ihre Anhängerschaft permanent zu Opfern dunkler Mächte stilisieren zu können. Daraus wird jetzt nichts, dem Verfassungsgerichtshof sei Dank.
Und wenn es jetzt doch Hofer wird? Das kann niemand ausschließen. Eine Sache ist in der Zwischenzeit allerdings passiert, von der ich mir vorstellen könnte, dass sie in der Meinungslandschaft in Österreich Spuren hinterlassen hat, und das ist die Brexit-Entscheidung letzte Woche. Ich halte es für denkbar, dass da doch auch manche Österreicher_in ins Grübeln gekommen ist, als sie sah, dass es eine Sache ist, für den Ausstieg aus der EU zu sein, und eine vollkommen andere, für diesen Ausstieg nicht den allergeringsten Plan zu haben.
Norbert Hofer will auch in Österreich ein EU-Referendum https://t.co/v4gI44tg1a
— HC Strache (@HCStracheFP) 26. Juni 2016
Bis September werden die Österreicher_innen noch viel Studienmaterial aus UK geliefert bekommen, was ein solches Referendum so alles für Folgen nach sich zieht. Ich würde nicht darauf wetten, dass die FPÖ auch dann noch so laut für ein Austrexit-Referendum trommelt wie jetzt.
Kann ja mal vorkommen …
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bremen-ergebnis-der-buergerschaftswahlen-muss-korrigiert-werden-a-1069034.html
http://www.welt.de/politik/deutschland/article153662923/Linke-muss-AfD-in-Sachsen-Anhalt-einen-Sitz-abtreten.html
Ich finde, in einem verfassungsrechtlichen Blog haben politische Kommentare nichts verloren! Die Recjtswissenschaft soll mE “rein” sein und persönliche Meinung strikt von wissenschaftlichen Aussagen und Kommentaren getrennt sein. Sonst kann ich dem Autor durchaus recht geben. Überraschend war es freilich nicht. Jeder der Verfassunssammlung 888/1927 gelesen hat – hier war Hans Kelsen, der (Mit-) Autor des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes, selbst Referent -, wusste, dass es nicht Anders kommen konnte!
“Die Stichwahl in Österreich wird wiederholt, und das ist gut so” – Vorsicht, Urheberrecht ! (nicht das von Wowereit)
> für diesen Ausstieg nicht den allergeringsten Plan zu haben.
Oft gehörtes Argument, aber ich halte es für sehr schwach. Für Projekte dieser Größenordnung hat doch niemand je Pläne. Gab es für die deutsche Wiedervereinigung einen Masterplan? Oder für die ständige EU-Erweiterung und Vertiefung? Im Gegenteil, das Provisorische und Improvisatorische an solchen langfristigen Vorgängen wurde entweder als unvermeidlich oder gar als Vorteil dargestellt.
> Austrexit
Heißt das nicht Oustria? :-)
Es heißt eindeutig Öxit!
Es heißt “Österraus” ;-)