16 January 2021

Stirb an einem anderen Tag

Suizidhilfe in Deutschland und Österreich

Am 11. Dezember 2020 verkündete der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) sein Erkenntnis in der Causa “Sterbehilfe”. Nach langen Beratungen und einer mündlichen Verhandlung hob der Gerichtshof den zweiten Tatbestand des § 78 öStGB – das Verbot der Hilfeleistung zum Suizid – als verfassungswidrig auf. Erst wenige Monate zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 dStGB) für nichtig erklärt.

Die Entscheidungen bedeuten für beide Staaten signifikante Liberalisierungsschritte, wenn auch auf unterschiedlichen Niveaus. Nun sind die Gesetzgeber gefordert. In Deutschland will eine fraktionsübergreifende Gruppe Abgeordneter noch Mitte Januar einen Gesetzesentwurf zur Neuregelung der Suizidhilfe einbringen. Es ist zu hoffen, dass der Vorschlag nicht hinter das Urteil des BVerfG zurückfallen und sich für eine, zumindest teilweise, Legalisierung der Hilfe zur Selbsttötung aussprechen wird. Für Österreich könnte hingegen der nun für nichtig erklärte § 217 dStGB ein geeignetes Vorbild sein.

Rechtslage im Vergleich

Die Selbsttötung in Deutschland ist nicht strafbar. Deshalb ist auch die Suizidhilfe – sei es als Beihilfe oder als Anstiftung – an sich straffrei. § 217 dStGB durchbrach diesen Grundsatz: Danach war derjenige mit Strafe bedroht, der in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig – also auf Wiederholung angelegt – die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt. Das BVerfG erklärte diese Strafnorm mit Urteil vom 26. Februar 2020 für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Zur Begründung stützte es sich im Wesentlichen darauf, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang verenge, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum mehr zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit, sich das Leben zu nehmen, verbleibe.

Das österreichische Strafrecht agiert restriktiver als das deutsche. Zwar ist auch in Österreich der Suizid als solcher nicht mit Strafe bedroht, er wird aber noch immer überwiegend für „nicht rechtmäßig” gehalten. Vor diesem Hintergrund kriminalisiert § 78 öStGB jede, also nicht nur die geschäftsmäßige Mitwirkung daran. Die Norm erfasst damit zum einen die Anstiftung (“Verleiten”, 1. Alt.) zum Suizid und zum anderen die Beihilfe (“Hilfeleistung”, 2. Alt.) (zur Abgrenzung: hier). In seinem Urteil hielt der VfGH allerdings den letzteren Tatbestand, die Beihilfe zum Suizid, für verfassungswidrig. Er verstoße, so der VfGH, gegen das Recht auf Selbstbestimmung, weil er jede Art der Hilfeleistung unter allen Umständen verbiete.

BVerfG vs. VfGH

Bei dem Vergleich der Entscheidungsgründe der Gerichte fällt die unterschiedliche Ableitung des “Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ (BVerfG) bzw. des „Rechts auf ein menschenwürdiges Sterben“ (VfGH) auf. Das BVerfG stützt sich auf das – der deutschen Rechtsordnung eigene – allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Es betont dabei zurecht, ohne dass sich dies begrifflich niederschlägt, dass die Menschenwürde nicht Grenze der Selbstbestimmung der Person, sondern vielmehr ihr Grund sei (Rn. 204 ff.). Im Unterschied dazu verweist der VfGH auf das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung, das er aus mehreren grundrechtlichen Gewährleistungen, insbesondere aus dem Recht auf Privatleben, dem Recht auf Leben und dem Gleichheitsgrundsatz der Bundesverfassung ableitet (Rn. 65 ff.).

Der Ansatz des VfGH verblüfft deshalb, weil der Gerichtshof am Beginn seiner Ausführungen das „Recht auf ein menschenwürdiges Sterben” auch aus dem Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) abzuleiten scheint, bloß um wenig später Art. 2 EMRK richtigerweise als Sitz der den Gesetzgeber treffenden Schutzpflichten, insbesondere auch gegenüber Suizidgefährdeten, zu identifizieren (Rn. 70). Dass das Recht auf Leben gleichzeitig das Recht zu sterben garantieren oder zumindest unterfüttern soll, ist denkbar, aber begründungsbedürftig, wenn man es auch als Garantie nicht bloß der physisch-körperlichen Existenz des Menschen, sondern auch seiner Identität und Würde sieht.

Abgesehen davon erscheint es aus dogmatischer Sicht unkonventionell, dass der VfGH offenbar den Gleichheitssatz (Art. 7 B-VG) als Sitz des “Rechts auf freie Selbstbestimmung” lokalisiert (Rn. 65, 72 ff.). Die einzige Literaturstelle, die für diese Auffassung herangezogen wird (der renommierte Kommentar von Verfassungsrichter Holoubek zu Art. 7 B-VG, s. Rn. 72), vertritt prononciert die Position, dass sich der Gleichheitssatz als Recht auf Selbstbestimmung und gleichwertige Rechtssubjektivität begreifen lässt. Danach ist tatsächlich der Gleichheitssatz das österreichische Pendant zur deutschen Menschenwürdegarantie und zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes, welche die österreichische Verfassung beide so nicht kennt (vgl. mit Blick auf die USA Quill v. Vacco, allerdings einstimmig vom Supreme Court kassiert)

Überraschend ist, dass sich der Gerichtshof nicht einfach auf jenes Grundrecht gestützt hat, das bisher nahezu unisono als Sitz des individuellen Selbstbestimmungsrechts erachtet wurde: das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) (vgl. Grabenwarter/Pabel6 [2016] S. 282, 285 f.; Berka/Binder/Kneihs [2019], S. 171, 279). Der VfGH hat dem ohnehin schon bedeutungsstarken Gleichheitssatz mit einer breiten Garantie der individuellen Selbstbestimmung eine weitere Dimension hinzufügt. Damit hat er den Gleichheitssatz zu einer scharfen Waffe zur Durchsetzung des individuellen Selbstbestimmungsrechts gemacht, was zur nachhaltigen Liberalisierung des einfachen Gesetzesrechts führen und das “Sterbehilfe-Erkenntnis” in der Rückschau als dogmatische Zäsur erscheinen lassen könnte.

Weniger gravierend fallen die Unterschiede der beiden Urteile seitens des Schutzumfangs aus. So hebt das BVerfG erstmals in dieser Klarheit hervor, dass das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ nicht auf bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt ist, sondern „in jeder Phase menschlicher Existenz“ besteht (Rn. 210). Das scheint im Ansatz auch der VfGH so zu sehen, da er weder eine Beschränkung auf bestimmte Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen vorsieht, noch eine dahingehende Bewertung vornimmt (Rn. 73). Außerdem umfasst nach Auffassung beider Gerichte die so verstandene Freiheit, sich das Leben zu nehmen, jeweils „auch das Recht des Suizidwilligen auf Inanspruchnahme der Hilfe eines (dazu bereiten) Dritten.“ (VfGH Rn. 74). Die Bereitschaft des Dritten wird also vorausgesetzt; dazu, Suizidhilfe zu leisten, könne nämlich, so das BVerfG, niemand verpflichtet werden (Rn. 289). Da das BVerfG von einem „besonders schwer“ wiegenden Eingriff durch § 217 dStGB in die Freiheit zum Suizid ausgegangen ist, erscheint die Qualifizierung als „besonders intensiven Eingriff“ durch den inhaltlich weitergehenden § 78 Alt. 2 öStGB als geradezu zwingend (VfGH Rn. 80).  Beide Gerichte erkennen daher außerdem an, dass der (an sich beträchtliche) Spielraum des Gesetzgebers in dieser Frage deutlich verengt sein muss (VfGH Rn. 82; BVerfG Rn. 266).

Beide Verfassungsgerichte tragen schließlich dem Umstand Rechnung, dass das umfassende Selbstbestimmungsrecht über das eigene Lebensende in Kollision zu der Pflicht des Staates treten kann, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das Rechtsgut Leben zu schützen (BVerfG Rn. 227 ff.); etwas anderes gilt – wie der VfGH begrüßenswert deutlich herausarbeitet – für diejenigen, deren Entschluss zur Selbsttötung unzweifelhaft auf einer freien Selbstbestimmung gründet (Rn. 84). Dies mündet in die beinahe gleichlautende Erkenntnis, dass „die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren [ist.]“ (BVerfG Rn. 210). Der VfGH weist in diesem Zusammenhang zusätzlich darauf hin, dass sich aus dem in Art. 2 EMRK verankerten Recht auf Leben gerade keine „Pflicht zum Leben“ ableiten lasse (Rn. 84). Bemerkenswert daran ist, dass es einer solchen Klarstellung überhaupt bedurfte. Sie erklärt sich aber vor dem Hintergrund, dass der Erhalt des eigenen Lebens nach traditioneller österreichischer Rechtsauffassung eine überindividuelle, gesellschaftliche Dimension hat (ausführlich: Moos, WK-StGB, § 78 Rn. 3).

Unabhängig davon, ob daran festzuhalten ist, sind dem Gesetzgeber die Hände aber keinesfalls gebunden. Er habe, so der VfGH, vielmehr „(auch) Maßnahmen […] zur Verhinderung von Missbrauch vorzusehen, damit die betroffene Person ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fasst.“ (Rn. 99). Das BVerfG nimmt sich dahingehend etwas zurück und hält „Elemente der medizinischen und pharmakologischen Qualitätssicherung und des Missbrauchsschutzes“ zwar für grundsätzlich zulässig, wohl aber nicht für zwingend (Rn. 338 ff.). Derartige Sicherungsmaßnahmen dürften freilich nach der übereinstimmenden Auffassung beider Gerichte nicht zur Folge haben, dass das Recht, sein Leben auch mit Hilfe Dritter zu beenden, schlechthin verneint wird (Rn. 102). Im Urteil des BVerfG klingt das so: „Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt.“

Perspektiven in beiden Rechtsordnungen

Die Bundesregierung reagierte zunächst zurückhaltend auf das Urteil des BVerfG; erst im April 2020 bat Gesundheitsminister Jens Spahn Ärztevertreter, Verbände und Kirchen um Vorschläge zu Eckpunkten einer möglichen Neuregelung der Suizidhilfe. Deren Vorschläge unterscheiden sich dabei in erheblichem Maße: Sie reichen von der neuerlichen Schaffung eines Straftatbestandes – diesmal u.a. der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung – bis hin zur gesetzlichen Legalisierung der Hilfe zur Selbsttötung – verknüpft mit der Verankerung der bereits höchstgerichtlich anerkannten Möglichkeit, ein Medikament zu Selbsttötungszwecken zu erwerben. In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag der  FDP-Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, ein Beratungsmodell entsprechend dem Verfahren bei Schwangerschaftsabbrüchen zu implementieren; ein entsprechender Gesetzentwurf soll Berichten zufolge noch im Januar 2021 in den Bundestag eingebracht werden.

Dieser Schritt ist mehr als überfällig. Einzig eine positive gesetzliche Normierung der Straffreiheit schafft Rechtssicherheit und ist daher der “bloßen” Strafbewehrung der Grenzen der Suizidhilfe vorzuziehen. Prozedurale Sicherungsmechanismen, die auch strafrechtlich flankiert werden können, sind zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben zweifellos angezeigt. Diese dürfen aber – wie derzeit intensiv am Beispiel des § 216 dStGB (Tötung auf Verlangen) diskutiert wird – nicht über ihr eigentliches Ziel hinausschießen und so die Entscheidung für ein selbstbestimmtes Sterben unmöglich machen. Daher ist auch das Berufsrecht in den Blick zu nehmen. So haben die verfassungsrechtlichen Vorbehalte, die seit geraumer Zeit gegen die in ihrer derzeitigen Form als bloßes Satzungsrecht geltenden berufsrechtlichen Verbote der ärztlichen Suizidhilfe bestehen, durch das Urteil des BVerfG eher an Schlagkraft gewonnen als eingebüßt (Rn. 290 ff. m.w.N.). Was das Betäubungsmittelrecht anbelangt, ist zwar offen, ob wegen der Nichtigerklärung von § 217 dStGB noch Raum für eine verfassungskonforme Auslegung von § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG besteht (dafür zunächst Brade/Tänzer), ausgeschlossen wird sie durch das Urteil des BVerfG aber keineswegs: Der Umstand, dass keine Verpflichtung zur Suizidhilfe anzuerkennen sei, ist offenkundig an Privatpersonen adressiert und nicht an das für die Genehmigung zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

Politik und Zivilgesellschaft reagierten auf das VfGH-Erkenntnis größtenteils verhalten. Vonseiten der Koalition erklärte Verfassungsministerin Karoline Edstadtler, man wolle prüfen, welche gesetzlichen Schutzmaßnahmen notwendig seien und griff damit die gesetzgeberischen Schutzpflichten auf, die das Urteil unterstreicht (vgl. Rn. 85, 99).Denkbar ist, dass die Ausgestaltung der Hilfeleistung zum Suizid unter breiter Einbindung politischer und gesellschaftlicher Kräfte auch im Rahmen einer parlamentarischen Enquete (§ 98 NRGO) erfolgt. Eine solche fand erst im Jahr 2015 unter dem Titel “Würde am Ende des Lebens” statt und empfahl den Ausbau der Palliativ- und Hospiz-Versorgung. Sie erwog außerdem eine noch stärkere Absicherung des Lebensschutzes (etwa mittels Verfassungsbestimmung), nicht aber die Liberalisierung der Suizidhilfe.

Angesichts des völlig konträren Auftrags, das Selbstbestimmungsrecht stärker als bislang zu gewichten, den der VfGH dem Gesetzgeber nun erteilt hat, ist schwer zu prognostizieren, wie die maßgeblichen Akteure mit diesen Spielräumen und Grenzen umgehen werden. Die parlamentarische Enquete scheint jedoch angesichts der von der ersten Enquete 2015 geleisteten Vorarbeit, für eine politisch derart sensible und weltanschaulich aufgeladene Thematik ein geeignetes Instrumentarium zu sein. Auch in Österreich ist jedoch eine gewisse Dringlichkeit geboten, zumal die Aufhebung des § 78 2. Alt. öStGB mit Ablauf des 31.12.2021 in Kraft tritt und spätestens dann die ebenso grundrechtlich gebotenen flankierenden Schutzbestimmungen in Kraft treten müssen.

Mehr Fürsorge für sterbewillige Menschen

Die Urteile bedeuten für beide Staaten bedeutende Liberalisierungsschritte, wenn auch von stark divergierenden Niveaus aus. Während in Österreich nun das kategorische Verbot der Suizidhilfe fiel, werden in Deutschland bereits Überlegungen angestellt, die Tötung auf Verlangen zum Teil zu legalisieren: für den Fall nämlich, dass die sterbewillige Person aus tatsächlichen Gründen zu einer suizidalen Handlung auch unter Inanspruchnahme der Hilfe Dritter und technischer Unterstützung nicht mehr in der Lage ist. Womöglich entpuppt sich ausgerechnet die für nichtig erklärte deutsche Regelung des § 217 dStGB letztlich als taugliches Vorbild für die Republik Österreich. Der deutsche Gesetzgeber wäre dagegen gut beraten, auf eine neuerliche Strafandrohung der Suizidhilfe im Strafgesetzbuch zu verzichten. Mehr Fürsorge ist vielmehr das Gebot, um den Nöten sterbewilliger Menschen zu begegnen.


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