Strafrecht als Kommunikationsform in der demokratischen Gesellschaft – ein Blick in das neue Buch von Thomas Fischer
Thomas Fischer – pensionierter Vorsitzender Richter am BGH, Autor des wichtigsten Standardkommentars zum StGB, scharfsichtiger Kolumnist und streitbarer Jurist – hat vorige Woche nicht nur eine Festschrift erhalten, sondern auch ein neues Buch vorgelegt: „Über das Strafen. Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft“ (Droemer, München, 2018, 375 Seiten). Er ist passionierter Aufklärer, messerscharfer Kritiker, wortgewaltig und schwingt hierbei manchmal auch eine sehr grobe Keule. Er ärgert sich öffentlich über grobe Dummheit, mit der die Wege zu Klicks und Auflagenstärke leider reichlich gepflastert sind. Auf die bisweilen verletzenden Töne, eine scharfe Konfrontation und vulgäre Hyperbeln verzichtet Fischer im vorliegenden Buch indes gänzlich. Dem Text tut dies extrem gut, auch weil durch die sanfte Sachlichkeit Kritik an Missständen viel klarer wird und semantisch unverstellter trifft. Es ist eine nachdenkliche, sensible Schrift, die mit ruhigem Atem abgefasst wurde.
Ein nichtakademisches Fachbuch ohne Fußnoten
Das Buch fügt sich in kein gängiges Format: Es ist kein Sachbuch für Laien, dafür ist es zu anspruchsvoll, und auch keine Sammlung an bissigen Kolumnen (wie „Im Recht“, 2016). Es ist durchaus ein wissenschaftliches Buch, insofern tatsächlich ein kohärentes System zur Deutung eines institutionenabhängigen Strafrechts geformt und argumentativ unterfüttert wird. Von akademischen Abhandlungen unterscheidet es sich aber schon äußerlich dadurch, dass ein Nachweisapparat fehlt. Fischer verzichtet darauf, Streitigkeiten und Diskurse auszubreiten. Der Text ist in extremer Verdichtung geschrieben. Er wurde auf der Grundlage eines in Tiefen Schichten sedimentierten Wissens und mit der routinierten Pragmatik eines Berufsrichters abgefasst, der stets mit Fällen konfrontiert war. Hintergründige theoretische wie rechtsdogmatische Debatten werden nicht aufgefächert; Fischer präsentiert vielmehr die Ergebnisse langer Reflexion. Das Buch ist also voraussetzungsvoll. Es bleibt gleichwohl gut verständlich, wofür schon die anschauliche Beispielstechnik sorgt. Auch Nichtjuristen dürften den konzentriert und in sprachlicher Klarheit vorgetragenen Argumenten gut folgen können.
Strafrechtspflege als institutionengebundene Kommunikation
Strafen – hier bewegt sich Fischer ganz in den Bahnen moderner („gesellschaftsfunktionaler“) Straftheorien – ist ein gesellschaftliches Kommunikationsformat. Strafe als kommunikative Handlung zu verstehen (und nicht etwa als Versuch, eine Kausalkette – z. B. Abschreckung – in Gang zu setzen), befreit die Theoretisierung von der Last kriminologischer Empirie, in deren Licht schon viele spekulative Strafrechtsdeutungen sowohl im akademischen Elfenbeinturm als auch im alltagstheoretischen Universum der Bierzeltpolitik zerbröselt sind. Das Artifizielle von Strafe durchzieht das Buch als roter Faden. Die Sprödheit, die Strafrechtstheoriediskussionen anderenorts bisweilen anhaftet, ist vor allem Folge einer Fixierung auf das materielle Recht, das wiederum schon aufgrund fragmentarischer Zurechnungsregeln oftmals nur Vehikel ist, um das eigene Weltbild nach der „Lieblingsphilosoph-Methode“ (Tatjana Hörnle) in das Recht zu projizieren. Fischer hebt sich hiervon erfrischend ab; er denkt institutionell. Die dem Strafrecht zugedachten Kommunikationsleistungen entspringen keiner Lektüre des StGB als Volkslesebuch. Anspruchsvolle Erklärungen, wie Strafe als gesellschaftliche Sinnzuschreibung funktioniert, setzen bei den Institutionen an, die Strafrechtspflege über bürokratische Herrschaft in die gesellschaftliche Wirklichkeit transportieren. Fischers Ideengeber ist daher Max Weber (und ein bisschen Luhmann), nicht Kant, Hegel oder Feuerbach. Für einen waschechten Strafrechtler ist dies bemerkenswert.
Institutionelles Vertrauen
Das Vertrauen in die Institutionen der Rechtspflege hat sich Fischer bewahrt, gehörte er diesen doch lange Jahre selbst an. Sein Blick ist aufgeklärt realistisch, er sieht Stärken und Schwächen:
„Die Justizverwaltung in Deutschland ist […] weder frei von individuellen Mauscheleien noch von Ämterpatronage und Beeinflussung mittels Macht; aber sie ist von einer beeindruckenden bürokratischen Zuverlässigkeit und Rechtsförmigkeit sowie, soweit ersichtlich, weitgehend korruptionsfrei“ (S. 324 f.).
Diese Zuverlässigkeit und Rechtsförmigkeit sind rechtsstaatlich wie demokratisch ein hohes Gut, im europäischen Vergleich keine Selbstverständlichkeit. Es ist leider ein integrationspolitisch verpöntes Tabuthema, dass wir in der Europäischen Union z. B. verpflichtet sind, auf die Rechtlichkeit Europäischer Haftbefehle zu vertrauen, die Haftrichter aus EU-Mitgliedstaaten erlassen, die der Korruptionsindex von Transparency International ganz nahe an Burkina Faso und China, aber sehr weit entfernt von Dänemark oder der Schweiz positioniert.
Prozessrecht als Mutter des Strafrechts
Ohne Prozessrecht, ohne ein Modell richterlicher Entscheidungsfindung, ohne epistemische Konzepte von „Wahrheit“ und ohne arbeitende Institutionen mit ihren bürokratischen Praktiken bleibt Straftheorie blutleeres Glasperlenspiel. Der durch eine lange Tätigkeit als Instanz- und Revisionsrichter sowie als Ministerialbeamter geschärfte Blick Fischers wandert durch die Institutionen und Akteure, die sich um die Strafrechtspflege gruppieren (Gerichte, Staatsanwaltschaften, Strafverteidiger, Medien). Irdische Gerechtigkeit ist institutionelle Gerechtigkeit: „Gerichtsbarkeit, staatliche Justiz, Justizförmigkeit, Unabhängigkeit der Richter, Subjekt-Stellung der Verfahrensbeteiligten“ (S. 144). Auch staatsorganisationsrechtliche Fragen (bis in Arabesken wie die Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG) werden gestreift. Überall dort, wo es um Begriffe des Strafrechts und seine Zurechnungssysteme geht, werden diese in einen praktischen Bezug zur Anwendung des Rechts gesetzt.
Rationalität und Wahrheit
Formalisierte Strafrechtspflege ist Ausdruck der Rationalitätsansprüche moderner Staaten, deren Recht sich nicht nur von Höherem emanzipiert hat, sondern auch in der Anwendung ein Kind rationaler Welterkenntnis ist. Wahrheit im Prozess ist eine Konstruktionsleistung, die von Filtermechanismen abhängt, die das Recht, seine Institutionen und die relevanten Akteure mit ihren besonderen Perspektiven erzeugen. Dies wird anschaulich aufgefaltet. Zugleich wird in Verfahren Sinn zugeschrieben: „Das Verfahren selbst gibt der Kommunikation und der Relevanz von Wirklichkeit eine sinnhafte Struktur vor, in welcher ‚Wahrheit‘ erzeugt werden soll und kann“ (S. 78). Hierbei geht es eben nicht um beliebige Konstruktion. Ein Gericht entscheidet in Strafsachen zwar bekanntlich „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ (§ 261 StPO). Das meint aber nicht Willkür. Zuschreibung von Schuld zum Zwecke von Strafe ist überhaupt nur sinnvoll, wenn mit hoher Plausibilität ein realistisches Urteil über Verantwortlichkeit gefällt werden kann. In der verspielten Welt radikaler Sozialkonstruktivisten wäre Strafrecht entweder unsinnig oder brutale Tyrannei. Fischers Argumente gründen daher auf einem epistemischen Realismus, der erst Perspektiven auf die Fehlbarkeit menschlicher Wahrnehmung eröffnen kann, die gerade im Strafprozess unverzichtbar sind. Auch im Prozess werden Wirklichkeitsausschnitte als Wahrheit nach normativen Mustern zugeschrieben. Es geht um eine „Vergewisserung, wie viel ‚Wahrheit‘ und Unmittelbarkeit des Erlebens der Gesellschaft ausreichen, um Verantwortung zuzuschreiben und den Einsatz von vernichtender Gewalt gegen Einzelne zu rechtfertigen“ (S. 328 f.).
Fehlbarkeit ist menschlich, Kulturalisierung von Konflikten nicht
Strafrechtspflege als Kommunikationsformat ist auf Vermittlung in die Gesellschaft angewiesen. Sie ist kein staatliches Serviceportal für Rachebedürfnisse von Opfern und (jenseits des Jugendstrafrechts) auch kein Erziehungsinstrument für die Täter. Strafe geht alle Menschen gleichermaßen an, weil hier final auf die normative Kommunikationsmatrix der Gesellschaft eingewirkt wird. Die Öffentlichkeit versteht von Strafrecht freilich meist wenig (immerhin: wahrscheinlich immer noch mehr als von Verwaltungsprozessen oder Flüchtlingsrecht). Guter Fachjournalismus, der hier Vermittlungsleistungen erbringen müsste, ist viel zu selten. Dass alles irgendwie auch Kultur ist, heißt eben nicht, dass ein Master in Kulturwissenschaften zu allem befähigt; vermittelnde Gerichtsberichterstattung gehört nach praktischer Lesererfahrung eher nicht dazu (Berichte über Zellbiologie oder Teilchenbeschleuniger auch nicht, aber da erfühlen Betroffene die eigenen Kompetenzgrenzen meist rechtzeitig). Und ein wenig Google-Wissen (wenn überhaupt) reicht nicht, um hinreichend zu verstehen, wie Strafprozesse funktionieren und wie Schuld zugeschrieben wird. So widmet sich Fischer – kaum überraschend – immer wieder den Mechaniken der Skandalisierung, den Grenzüberschreitungen und der journalistischen Selbstüberschätzung. Die ihren Aufmerksamkeitsökonomien folgende Medienlandschaft fokussiert das, was sich gut vermarkten lässt. Sexualdelikte beispielsweise haben in den Medien Konjunktur und sind besonders gut zu verkaufen, wenn sie mutmaßlich von Migranten begangen wurden. In einer Gesellschaft, in der es populär ist, individuelle Verantwortung durch „Kultur“ zu ersetzen und (von links wie von rechts) gruppenbezogene Identitäten zu essentialisieren, werden auch Alltagskonflikte gerne stereotyp kulturalisiert. Die vielen cultural turns hinterlassen auch im öffentlichen Raum ihre hässlichen Spuren. Die Leistungen der allgemeinen Gesetzgebung, die auf nicht-identitärer Repräsentation gründet, bestehen gerade darin, Konflikte zu entkulturalisieren und auf ein fallbezogenes Rechtsanwendungsproblem zu reduzieren. Sie werden viel zu häufig sträflich verkannt. Gefühlsjournalismus und zur Schau getragene Pseudo-Empathie, die sich in Social Media gut „sharen“ lässt, enden in einer „wohlfeilen Beliebigkeit: ‚Postmoderne‘ Kriminalberichterstattung ist hier […] in einer Schleife zynischen Selbstzitats angelangt“ (S. 90).
Shit happens!
Menschliche Fehlbarkeit und die Grenzen der eigenen Fähigkeiten sind einzukalkulieren, gerade im Strafrecht, das ein Reaktionssystem auf menschliche Fehler ist. Die eigene Fehlbarkeit als Grundlage des Miteinanders zu akzeptieren, wirkt auch einem Hang entgegen, bei jeder Gelegenheit selbstgerechte Empörung wutschnaubend ins Internet zu posaunen. Gerade das Strafrecht braucht wegen seiner einschneidenden Konsequenzen ein Bewusstsein für die Relativität von Erkenntnis und Werturteil. Auch Fischers hintergründiges Paradigma ist daher nicht „Fiat iustitia et pereat mundus“, sondern „Shit happens!“ In Zeiten von Hashtags und Hass-Trollen wird die Welt auf absehbare Zeit gewiss nicht rücksichtsvoller und mitfühlender. Notwendig sind daher mehr Gelassenheit verantwortlicher Akteure, Augenmaß, eine gesunde Fehlerkultur und stabile Institutionen als Anker sozialen Vertrauens. Thomas Fischer wendet sich ganz in diesem Sinne gegen die Unbarmherzigkeit, Selbstgefälligkeit und Selbstüberschätzung einer aufgekratzten Gesellschaft, die im medialen Kampfmodus zu oft einem Bestrafungsrausch verfällt. Bei allem Hadern mit der Dummheit vieler hat Fischer das Zutrauen in die Urteilsfähigkeit der Menschen nicht verloren. Denn „jeden Bild- oder Zeit-Leser kann man im Gespräch davon überzeugen, dass es nicht auf die mehr oder minder verqueren Ansichten irgendwelcher Hobby-Richter ankommen kann, ob Menschen ‚schuldig‘ oder ‚unschuldig‘ oder verantwortlich‘ sind“ (S. 329). Das stimmt wohl. Diese Gespräche führt nur leider niemand.
Strafrechtspolitik
Viel Strafe hilft viel? Wohl eher nicht. Der Umgang der Politik mit dem Strafrecht ist indes oftmals stimmungsgetrieben, nicht selten aber auch schlicht opportunistisch. Bei der Reform des Sexualstrafrechts entdeckten beispielsweise manche, die ansonsten die eigene Liberalität nicht genug betonen können, den Stiernacken-Charme der Law-and-Order-Rhetorik, während allzeit schneidige Scheriffs, die sicherheitspolitisch keine Gefangenen machen, das empfindliche rechtsstaatliche Gewissen zwickt, wenn es um den Ankauf von Steuer-CDs bei Whistleblowern geht. Früher war es fortschrittlich zu entkriminalisieren; „das Fortschrittsziel wurde also in möglichst wenig Strafrecht gesehen. Dies gilt heute als Formel, die ‚gescheitert‘ sei“ (S. 366). Strafrechtspolitisch sind eben auch viele eigentlich Linksliberale immer dann weit nach rechts gerückt, wenn Opferinteressen zugleich (vermeintliche) Klientelinteressen waren. Diese Widersprüche gehören jedoch zum demokratischen Prozess und seinen politischen Spielen dazu und sind verfassungsrechtlich meist auch nicht angreifbar. Strafrechtspolitik ist keine angewandte Strafrechtsphilosophie. Und Max Webers Theorie der demokratischen Elitenbildung ist eine akademische Schnapsidee ohne Wirklichkeitsbezug geblieben. Denn Demokratie gründet nicht auf der Optimierung öffentlicher Vernunft, sondern auf der gleichen Freiheit aller. Sie muss also (auf der Seite der Wählenden wie der Gewählten) mit den Menschen leben, die sie hat, weil ein höheres Referenzsystem nicht zur Verfügung steht. Und das ist gut so. Wirklich schlecht sind wir damit in unserer Interessendemokratie auch wieder nicht gefahren.
Umso mehr bedarf es einer politischen Gegenöffentlichkeit, die Widersprüche sichtbar macht und Opportunismus anprangert. Fischer wendet sich daher engagiert gegen einen Drang, das Strafrecht zu expandieren, und populäre Tendenzen, die Strafrechtspflege auf optimierte Sicherheitsgewährleistung trimmen wollen. Das ist natürlich nicht neu; entsprechende Diskurse werden verschärft seit den 1970er Jahren geführt. Unsicherheiten beruhen aber auch darauf, dass spätestens seit Franz von Liszts „Marburger Programm“ (Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1882) auch innerhalb des Strafrechts darüber gestritten wird, ob es (auch) ein formalisiertes Polizeirecht sein möchte. Richtig bleibt Fischers Skepsis gleichwohl. Symbolischem Strafrecht steht er – wie die breite Mehrheit in der Strafrechtswissenschaft – skeptisch gegenüber. Vielleicht werden hier die Chancen unterschätzt, Strafrecht als Kommunikationsformat des Gesetzgebers einzusetzen, um Wertungen deutlich zu machen, ohne dass es auf die Anwendung in konkreten Fällen ankommt. Gesichertes sozialwissenschaftliches Wissen über Wirkungen solcher Symbolik haben wir freilich nicht.
Mehr als eine Nabelschau der Strafrechtspflege
Das hier vorgestellte Buch zeigt, welche gesellschaftspolitische Kraft ein sachliches Diskutieren über Strafe und Strafbedürfnisse entfalten kann, die weit über eine Strafrechtswissenschaft hinausgeht, die leider viel zu oft in ihrem Mikrokosmos verharrt, um ungestört in engstirniger Verbissenheit filigrane Irrtumsprobleme sezieren zu können. Das Buch ist mehr als eine Nabelschau der Strafrechtspflege. Es ist eine Analyse systemprägender Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Fischer geht es um Herrschaft und Sinn, um die „Abgrenzung von Freiheitssphären“, um die „substanzielle Verbindung zur Staats- und Herrschaftslegitimation“ (S. 329). Mit Recht blickt auch er sorgenvoll auf den grassierenden Populismus und plädiert dafür, die rechtsstaatliche Resilienz der Institutionen zu stärken, die „für eine legitimierende Definition von Wahrheiten zuständig sind“ (S. 370 f.). Sieht man sich im weiteren Europa um, werden gerade diese Institutionen nach einer autoritären Wende als erstes auf Linie gebracht. Das Strafen mag man in die peripheren Winkel der Gesellschaft verdrängen; seine normative Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt bleibt gleichwohl zentral. Strafrecht „ist für die meisten Menschen weit entfernt und außerordentlich nah zugleich“ (S. 157). Strafen und Strafrecht sind „keine belanglosen oder vernachlässigenswerten Systeme, sondern ein wichtiger Entstehungs- und Symbolort gesellschaftlicher Verständigung“, der „mittelbar weite Teile der sozialen Orientierung“ berührt (S. 370). Gerade am Verfassungsrecht Interessierte sollten also dieses Buch lesen.