13 September 2016

Straßburg lockert Fair-Trial-Gebot bei Terrorverdächtigen

Die gute Nachricht: auch in Zeiten des globalen Terrors darf das Recht auf einen fairen Prozess (Art. 6 EMRK) nicht aufgeweicht werden, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich in seiner heutigen Entscheidung Ibrahim et.al. v. Vereinigtes Königreich:

There can be no question of watering down fair trial rights for the sole reason that the individuals in question are suspected of involvement in terrorism. In these challenging times, the Court considers that it is of the utmost importance that the Contracting Parties demonstrate their commitment to human rights and the rule of law by ensuring respect for, inter alia, the minimum guarantees of Article 6 of the Convention.

Die schlechte Nachricht: mir scheint der EGMR aber eigentlich genau das zu tun.

Die Terrorwochen von London

Der Fall, der dem Urteil der Großen Kammer zugrunde liegt, spielt in den schrecklichen Wochen im Juli 2005 in London. Am 7. Juli dieses Jahres hatten Al-Kaida-Selbstmordattentäter in drei U-Bahnen und einem Bus 52 Menschen ermordet und Hunderte verletzt. Zwei Wochen später wurden in U-Bahnen und Bussen vier weitere Rucksackbomben gefunden, die wegen eines Fehlers bei der Sprengstoffkonzentration nicht explodiert waren. Drei der vier Attentäter waren verhaftet, aber niemand wusste, ob es da draußen noch weitere Bomben gab. Einer der Attentäter war auf der Flucht (was wegen einer Verwechslung den brasilianischen Studenten Jean Charles de Menezes das Leben kosten und zu einer anderen Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs führen sollte, andere Geschichte…). Die Polizei stand unter enormem Druck, weitere Massaker zu verhindern, weshalb sie die drei verhafteten Terroristen sowie einen weiteren, der dem flüchtigen Vierten geholfen hatte, erst einmal auf ihre Kenntnisse über weitere Bomben befragten. Bei diesen so genannten “Safety Interviews” wurde ihnen das Recht, einen Anwalt an ihrer Seite zu haben, verweigert.

Das ist der Grund, weshalb der Fall nach Straßburg kam: Wenn mich der Staat einer Straftat verdächtigt und mir mit Strafe droht, muss er mir von Anfang an Zugang zu anwaltlichem Rat und Beistand gewähren, auf dass ich mich nicht in den juristischen Fallstricken des Strafprozessrechts verheddere und womöglich unschuldig verurteilt werde. Das ist für einen fairen Prozess erforderlich, und ein fairer Prozess ist nach Art. 6 EMRK mein Menschenrecht.

Der Salduz-Test

Dass ein Verdächtiger schon beim ersten Verhör einen Anwalt hinzuziehen können muss, hat der EGMR in einem Grundsatzurteil 2008 im Fall Salduz v. Türkei entschieden und dabei einen Test formuliert (RNr. 55): Nur aus zwingenden Gründen (compelling reasons) dürfe im Einzelfall dieses Recht eingeschränkt werden. Und auch dann dürfe eine solche Beschränkung nicht dazu führen, dass die Rechte aus Art. 6 ungehörig beeinträchtigt (unduly prejudiced) werden. Das sei prinzipiell (in principle) dann der Fall – und zwar unreparierbar (irretrievable) – wenn ihre Äußerungen aus diesem Verhör später verwendet werden, um sie verurteilen zu können.

Nimmt man diese Regel zum Maßstab, dann scheint die Schlussfolgerung, dass die vier Terroristen vom 21. Juli 2005 keinen fairen Prozess nach Art. 6 EMRK bekommen hatten, prima facie ziemlich unausweichlich. Zwingende Gründe lagen vielleicht vor, aber dann hätten die Äußerungen der Vier halt nicht als Beweise gegen sie verwertet werden dürfen.

Aber für gute Juristen ist gar nichts unausweichlich, und solche sind in der Großen Kammer zahlreich zu finden. Mit einer Mehrheit von 15:2 stellt die Große Kammer fest, dass im Fall der drei verhinderten Selbstmordattentäter, wenngleich ohne Anwalt verhört, der Prozess im Ergebnis trotzdem fair genug war für Art. 6. Nur bei dem vierten, der zunächst als Zeuge vernommen worden war und sich dann selbst belastet hatte und trotzdem ohne Anwalt weiterverhört wurde, sei Art. 6 verletzt worden.

Wie stellt die Große Kammer das an? Indem sie “klarstellt”, wie der Salduz-Test genau gemeint gewesen sein soll (mir scheint, in Wahrheit stellt sie ihn auf den Kopf).

Holistische Gesamtschau

Der Test, so die Kammermehrheit, habe zwei Stufen: “zwingende Gründe” und “fairer Prozess beeinträchtigt”, und diese beiden Stufen versteht sie nicht kumulativ, sondern alternativ. Selbst wenn die erste Stufe scheitert und es keine zwingenden Gründe gab, den Anwalt auszuschließen, macht das in den Augen der Kammermehrheit mitnichten automatisch den Prozess unfair. Denn dann könne der Prozess immer noch den zweiten Test bestehen, nämlich dass der Verstoß seine Fairness nicht beeinträchtigt hat. Mit anderen Worten: auch ohne zwingende Gründe kann man den Anwalt vor der Tür halten, wenn nur am Ende fairnessmäßig unterm Strich alles seine Ordnung hat.

Das gilt auch, wenn die in dem Verhör ohne Anwalt gemachten Aussagen im Urteil gegen den Verhörten verwendet werden. In Salduz hatte dies noch als Faktor gegolten, der den Prozess irretrievably prejudiced macht. Jetzt nicht mehr unbedingt.

Stattdessen verlangt die Kammermehrheit

a holistic assessment of the entirety of the proceedings,

um die Fairness des Prozesses zu bestimmen. Die sei zwar, wenn zwingende Gründe für den Ausschluss des Anwalts fehlen, besonders streng, und der Staat trage die Darlegungslast, dass die Verwertung der Aussagen dann kein irretrievable prejudice begründet. Aber prinzipiell, und so auch im vorliegenden Fall, geht das.

Strafprozess als Gefahrenabwehr

Einem Minderheitsvotum, unterschrieben von sechs Richter_innen, geht die Linie der Mehrheit noch nicht weit genug: Sie fordern, die Verfahrensrechte der Beschuldigten direkt mit dem Schutzanspruch der potenziellen Terroropfer auf Leben und körperliche Unversehrtheit abzuwägen und kommen zu dem Ergebnis, dass dann auch das Verhör des vierten, zunächst als Zeugen vernommenen Verdächtigen ohne Anwalt zu rechtfertigen gewesen sei.

Mir scheint dagegen (ebenso wie den beiden Minderheitsrichtern András Sajó und Julia Laffranque), dass die Große Kammer aus einer klaren roten Linie einen wolkigen Abwägungsvorgang im Einzelfall macht. Das ermöglicht ihr zu vermeiden, als Instanz dazustehen, die von der britischen Polizei verlangt, wegen irgendwelcher prozeduralen Bedenken zugunsten von Al-Kaida-Terroristen einen Bombenanschlag in Kauf zu nehmen (man stelle sich die Sun-Schlagzeile vor!) Wobei schon diese Alternative grundfalsch ist – nicht den Bombenanschlag hätte die Polizei in Kauf nehmen müssen, sondern den Freispruch der Beschuldigten, wenn dessen Vernehmung in Abwesenheit seines Anwalts schon zur Gefahrenabwehr so unbedingt nötig war und ihm die Tat ohne die bei diesem Verhör gemachten Aussagen nicht nachgewiesen werden kann. Auch schlimm, aber nicht so schlimm wie ein Bombenanschlag mit Hunderten von Toten…

Das Recht auf einen fairen Prozess schützt Verbrecher. Es schützt Massenmörder, Kinderschänder, und es schützt Terroristen. Wenn wir sie verurteilen wollen (und das wollen wir), dann dürfen wir uns das nicht dadurch leichter machen, dass wir zu unfairen Mitteln greifen. Sonst können wir sie womöglich nicht verurteilen (und das wollen wir nicht).

Wenn die Große Kammer aus dieser roten Linie jetzt ein “holistic assessment” macht, in dem das eine oder andere unfaire Mittel hier und da durch allerhand Gegenargumente präventiver Art aufgewogen werden kann, zu welchen sogar das “starke öffentliche Interesse an der Aufklärung und Bestrafung der fraglichen Straftaten” zählen kann (RNr. 293) – was ist dann das Recht auf einen fairen Prozess noch wert?

 


3 Comments

  1. Lisa Wed 14 Sep 2016 at 09:48 - Reply

    Der EGMR ist schlau genug, um aufzupassen, dass die Briten nicht auch noch die EMRK kündigen. Man darf die Dinge halt nicht überreizen. Gebot der Lebensklugheit.

  2. Grundgesetz Wed 14 Sep 2016 at 12:48 - Reply

    Wie im Artikel schon geschrieben, den Richtern gehts in erster Linie nicht um mögliche Opfer, sondern nur um sich selbst. Passiert was, sind die nicht stark genug um den Rechtsstaat zu verteidigen. Zu sagen, die Opfer sind hinzunehmen für den Rechtsstaat, ist ein No-Go.
    Komisch, beim Straßenverkehr akzeptieren die meisten das.

  3. Gregor Samsa Tue 20 Sep 2016 at 15:04 - Reply

    Bei dem genannten “holistic assessment” handelt es sich in der Tat um eine Abweichung von der “Salduz”-Rechtsprechung. Erstaunlich ist, dass diese Aussage jetzt in einem obiter dictum verpackt wird, denn entscheidungserheblich war sie nicht: Hinsichtlich der ersten drei Beschwerdeführer wurden sowohl die zwingenden Gründe als gegeben angesehen wie auch eine Verletzung von Art. 6 im Ergebnis verneint. Im Fall des vierten Beschwerdeführers dagegen lagen die zwingenden Gründe nicht vor und es wurde auf einen Verstoß erkannt.

    Was also mag die Große Kammer geritten haben, hier eine Kehrtwende einzuleiten, die vor dem Hintergrund der konkreten Fälle gar nicht angezeigt war? Hierzu mag man spekulieren.

    Tatsache ist allerdings, dass wir Rückwirkungen dieser Rechtsprechung sehr schnell auch auf der nationalen Ebene sehen werden. So hat das Bundesverfassungsgericht jüngst eine Auslieferung nach Großbritannien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gebilligt, obwohl der “nemo tenetur”-Grundsatz dort nicht durchgängig verwirklicht ist (http://www.bverfg.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/09/rk20160906_2bvr089016.html). Prüfungsmaßstab waren insoweit allein “die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde”. Diese dürften nach bisheriger Auffassung bei Anwendung der EMRK durchgängig gewahrt sein.

    Das Bundesverfassungsgericht hat ferner in einer Entscheidung vom letzten Jahr (http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/12/rs20151215_2bvr273514.html) darauf hingewiesen, dass Art. 6 EMRK in einem Auslieferungsverfahren aufgrund eines Europäischen Haftbefehls einen maßgeblichen Prüfungsmaßstab bildet, weil er über die – insoweit vorrrangige – Europäische Grundrechtecharta (Art. 52 III, 47 II und 48) einbezogen ist.

    Wenn aber jetzt die Große Kammer den Schutzbereich des Art. 6 EMRK schleichend aufweicht, dann stellen sich insoweit einige Fragen.

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