Straßburg zu Lampedusa: Menschenwürde muss krisenfest sein
Das Urteil kommt zur rechten Zeit: Flüchtlinge haben ein Recht auf Achtung ihrer Menschenwürde, auch wenn sehr viele in sehr kurzer Zeit ankommen und das Ankunftsland darauf sehr schlecht vorbereitet ist. Das ist die Quintessenz des heutigen Lampedusa-Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die “Krisen-” und “Notstands”-Argumente, mit denen der Aufnahmestaat sich verteidigt, mögen noch so berechtigt sein – gegen die Menschenwürde richten sie nichts aus.
In der Entscheidung geht es um die Zustände auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa im Jahr 2011. Dort waren nach der Revolution in Tunesien mehr als 50.000 Flüchtlinge gelandet. Die örtlichen Behörden waren rettungslos überfordert: Die Erstaufnahmeeinrichtung war völlig überfüllt, die sanitären Verhältnisse entsetzlich, und die Insassen konnten keinen Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen. Am 20. September 2011 brach in dem Lager ein regelrechter Aufstand aus, während dessen das Lager teilweise abbrannte. Die drei Kläger des heutigen Urteils wurden nach diesem Aufstand mit vielen anderen zusammen verhaftet und nach Palermo geflogen, wo sie auf Schiffen im Hafen untergebracht und nach einigen Tagen zurück nach Tunesien abgeschoben wurden.
Zunächst: die Flüchtlinge einzusperren, von der Außenwelt abzuschneiden und ihnen weder zu erklären, was mit ihnen passiert, noch die Chance auf Rechtsschutz zu geben – das geht für den EGMR mit dem Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK) nicht zusammen. Aber damit nicht genug: Eine Mehrheit der Kammermitglieder sieht durch die Zustände in dem Lager auf Lampedusa auch das Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) verletzt.
Das ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zum einen kann man mit den beiden Dissentern Sajó und Vučinić fragen, ob überfüllte Zellen und stinkende Toiletten auch dann die Schwelle zur Unmenschlichkeit überschreiten, wenn man sich nur wenige Tage in ihnen aufhalten muss. Es wird aus den Urteilsgründen nicht so richtig klar, aber mir scheint, für die Kammermehrheit hat hier am Ende die besondere Situation der Betroffene den Ausschlag gegeben: Es handelt sich immerhin um Bootsflüchtlinge, die gerade der Gefahr entronnen sind, ihr Leben im Mittelmeer zu verlieren. Die kann man nicht behandeln wie jeden anderen robusten Menschen auch.
Zum anderen scheint mir die Kammermehrheit von dem Drang getrieben, Art. 3 auch und gerade in Krisensituationen zur Achtung zu verhelfen. Die Richter_innen würdigen zwar die Not, in der sich die italienischen Behörden 2011 angesichts des Flüchtlingsandrangs aus Nordafrika befanden, sehr ausführlich. Aber nichts davon, weder die zugespitzte Situation noch die Bürde der Seerettung noch die Verpflichtung, auf der kleinen Insel für Ruhe und Ordnung zu sorgen, seien Grund genug, sich von der Pflicht befreit zu fühlen, die Menschenwürde der Flüchtlinge zu wahren. Das Verbot unmenschlicher Behandlung gilt absolut und nach Art. 15 EMRK weder durch Krieg noch durch sonst irgendeinen Notstand begrenzt.
Auch die Art, wie Italien die tunesischen Flüchtlinge wieder losgeworden ist, trägt ihr jetzt eine Verurteilung durch den Straßburger Gerichtshof ein. Die Flüchtlinge waren zwar individuell registriert worden, aber die Abschiebeverfügung erschien dem Gerichtshof zu pauschal. Gruppendeportationen sind nach Art. 4 Prot. 4 EMRK verboten, und eine solche sieht die Kammermehrheit (wiederum gegen den Dissent von Sajó und Vučinić) hier gegeben.
Wie steht es mit der Menschenwürde der Obdachlosen, der Alten, der Dementen und Pflegebedürftigen, der Behinderten, sozial Schwachen, Alleinerziehenden, Kranken, den Opfern von Gewalttaten und den vielen anderen Hilfsbedurftigen? Gibt es nur noch Migranten und die anderen liegen alle am Pool bei Schampus und Kaviar?
Wann ziehen wir endlich den Balken aus unserem Auge! Das was diese Gesellschaft gerade wirklich ausmacht ist ihre Selbstherrlichkeit.
@EdgarK: Two wrongs don’t make a right.