23 March 2012

US Supreme Court hört Klagen gegen Obamas Gesundheitsreform

Nur mit großer Mühe konnte US-Präsident Obama 2010 eines seiner größten Wahlversprechen durch den Congress bringen: Gesundheitsversorgung für alle. Nun liegt nun der Ball im Feld der Gerichte. Am 26.-28. März 2012 wird der US-amerikanische Supreme Court die Klagen gegen die Gesundheitsreform in mündlicher Verhandlung hören.

Freerider im Gesundheitssystem?

In den USA sind derzeit etwa 64 % der Bevölkerung privat versichert, 31 % haben eine staatlich geförderte (Zusatz-)Versicherung wie Medicare oder Medicaid. Die staatlichen Programme dienen aber nur der Absicherung besonders schutzbedürftiger Gruppen – 16 % der Bevölkerung sind überhaupt nicht krankenversichert, v.a. People of Color, Geringverdienende, junge Erwachsene und Ausländer_innen. In medizinischen Notfällen erhalten sie dennoch medizinische Versorgung; 2008 erhielten Nichtversicherte Leistungen im Wert von 116 Mio. USD. Über ein Dritten dieser Kosten bleibt ungedeckt, wie Families USA 2009 feststellte:

  • The uninsured paid for, on average, more than one-third (37 percent) of the total costs of the care they received out of their own pockets.
  • Third-party sources, such as government programs and charities, paid for another 26 percent of that care.
  • The remaining amount, approximately $42.7 billion in 2008, was unpaid and constituted uncompensated care.

Diese ungedeckten Kosten geben die Gesundheitsdienstleister an die privaten Versicherungen weiter, wo sie in Form von erhöhten Prämien auf die Versicherten umgelegt werden. Families USA ließ ausrechnen, was dies bedeutet:

On average, this translated into a surcharge of $368 for individual premiums and a surcharge of $1,017 for family premiums in 2008 due to uncompensated care.

Ein Freerider-Problem? Nur zum Teil: Viele fallen aus Medicare und Medicaid heraus, können sich aber eine private Versicherung schlicht nicht leisten, z.B. weil die Prämien bei bestehenden Krankheiten stark erhöht sind. Andere werden wegen Vorerkrankungen von den Versicherungen abgelehnt. Sogar häusliche Gewalt gilt als problematische Vorbelastung.

Eine solidarische Gesundheitsreform

Der Patient Protection and Affordable Care Act führt nun ein Solidarsystem ein: Eine Minimal-Versicherungspflicht (minimum coverage), wie sie in einigen Bundesstaaten bereits besteht, wird durch Steuerstrafen und –anreize sanktioniert (dies betrifft nur Einkommenssteuerpflichtige). Prämien dürfen nicht mehr individuell, sondern nur gemeinschaftsübergreifend berechnet werden (community rating), und ablehnen dürfen die Versicherungen niemanden mehr (guaranteed issue). Zudem wird Medicaid ausgeweitet.

Gegen die Versicherungspflicht, die individual mandate provision, klagen inzwischen 26 Bundesstaaten. Drei Circuit Courts of Appeal (4th, 6th, 11th) haben bereits – unterschiedlich – entschieden, nun sind 6 Revisionen beim Supreme Court anhängig.

Freiheit und Föderalismus vor dem Supreme Court

Ganze 5 ½ Stunden Verhandlungszeit sind angesetzt – Bush v. Gore dauerte nur 90 Minuten.

Am ersten Tag ist zu klären, ob die Klagen gegen Versicherungspflicht, die erst am 1.1.2014 in Kraft tritt, verfrüht sind – der Tax Anti-Injunction Act verbietet es, vor Zahlung einer Steuer gegen Steuergesetze zu klagen. In diesem Fall wäre die Klage bis 2015 unzulässig. Hierzu spricht zunächst ein amicus curiae (40min); danach tragen der U.S. Solicitor General (30min) und der Vertreter der klagenden Bundesstaaten (20min) vor.

Am zweiten Verhandlungstag geht es dann um die eigentliche Frage des Verfahrens: Die Regelungskompetenz des Bundes. Der Congress hat nach Art. 1 Abs. 8 der US-Verfassung nur enumerierte Kompetenzen, u.a.

To lay and collect Taxes, Duties, Imposts and Excises …; …

To regulate Commerce with foreign Nations, and among the several States, and with the Indian Tribes; …

To make all Laws which shall be necessary and proper for carrying into Execution the foregoing Powers.

Hinter der Föderalismusfrage steckt jedoch ein freiheitsrechtliches Argument: Zum einen soll der Föderalismus die Freiheit sichern, indem er eine starke Zentralmacht verhindert. Zum anderen wehren sich die Kläger auch gegen die Kollektivierung als Freiheitsbeschränkung.

Am dritten Verhandlungstag soll es dann um die Frage gehen, ob die Versicherungspflicht im Fall der Verfassungswidrigkeit vom Rest des Gesetzes trennbar ist; nachmittags soll es um die Ausweitung von Medicaid gehen, deren Kosten teilweise die Bundesstaaten tragen sollen.

Auf die Plätze…

Die 400 Plätze im Verhandlungssaal sind derweil heiß umkämpft; 27 Tickets verteilen die Richter_innen, je sechs gehen an die 11 Anwälte und Anwältinnen, 90 an die Bar Association, 37 an die Presse (zusätzlich zu den Plätzen im Presseraum), weitere 100 werden anderweitig vergeben – so bleiben nur 50 Tickets für die Schlange vor der Tür.

Alle anderen können ab 14h (20h MEZ) die Audioaufnahmen anhören und die Transkriptionen lesen; die Materialien aus der Nachmittagssitzung am 28. März gibt es dann ab 16h.

Nora Markard ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich “Staatlichkeit im Wandel” an der Universität Bremen.

Von NORA MARKARD

Nur mit großer Mühe konnte US-Präsident Obama 2010 eines seiner größten Wahlversprechen durch den Congress bringen: Gesundheitsversorgung für alle. Nun liegt nun der Ball im Feld der Gerichte. Am 26.-28. März 2012 wird der US-amerikanische Supreme Court die Klagen gegen die Gesundheitsreform in mündlicher Verhandlung hören.

Freerider im Gesundheitssystem?

In den USA sind derzeit etwa 64 % der Bevölkerung privat versichert, 31 % haben eine staatlich geförderte (Zusatz-)Versicherung wie Medicare oder Medicaid. Die staatlichen Programme dienen aber nur der Absicherung besonders schutzbedürftiger Gruppen – 16 % der Bevölkerung sind überhaupt nicht krankenversichert, v.a. People of Color, Geringverdienende, junge Erwachsene und Ausländer_innen. In medizinischen Notfällen erhalten sie dennoch medizinische Versorgung; 2008 erhielten Nichtversicherte Leistungen im Wert von 116 Mio. USD. Über ein Dritten dieser Kosten bleibt ungedeckt, wie Families USA 2009 feststellte:

  • The uninsured paid for, on average, more than one-third (37 percent) of the total costs of the care they received out of their own pockets.
  • Third-party sources, such as government programs and charities, paid for another 26 percent of that care.
  • The remaining amount, approximately $42.7 billion in 2008, was unpaid and constituted uncompensated care.

Diese ungedeckten Kosten geben die Gesundheitsdienstleister an die privaten Versicherungen weiter, wo sie in Form von erhöhten Prämien auf die Versicherten umgelegt werden. Families USA ließ ausrechnen, was dies bedeutet:

On average, this translated into a surcharge of $368 for individual premiums and a surcharge of $1,017 for family premiums in 2008 due to uncompensated care.

Ein Freerider-Problem? Nur zum Teil: Viele fallen aus Medicare und Medicaid heraus, können sich aber eine private Versicherung schlicht nicht leisten, z.B. weil die Prämien bei bestehenden Krankheiten stark erhöht sind. Andere werden wegen Vorerkrankungen von den Versicherungen abgelehnt. Sogar häusliche Gewalt gilt als problematische Vorbelastung.

Eine solidarische Gesundheitsreform

Der Patient Protection and Affordable Care Act führt nun ein Solidarsystem ein: Eine Minimal-Versicherungspflicht (minimum coverage), wie sie in einigen Bundesstaaten bereits besteht, wird durch Steuerstrafen und –anreize sanktioniert (dies betrifft nur Einkommenssteuerpflichtige). Prämien dürfen nicht mehr individuell, sondern nur gemeinschaftsübergreifend berechnet werden (community rating), und ablehnen dürfen die Versicherungen niemanden mehr (guaranteed issue). Zudem wird Medicaid ausgeweitet.

Gegen die Versicherungspflicht, die individual mandate provision, klagen inzwischen 26 Bundesstaaten. Drei Circuit Courts of Appeal (4th, 6th, 11th) haben bereits – unterschiedlich – entschieden, nun sind 6 Revisionen beim Supreme Court anhängig.

Freiheit und Föderalismus vor dem Supreme Court

Ganze 5 ½ Stunden Verhandlungszeit sind angesetzt – Bush v. Gore dauerte nur 90 Minuten.

Am ersten Tag ist zu klären, ob die Klagen gegen Versicherungspflicht, die erst am 1.1.2014 in Kraft tritt, verfrüht sind – der Tax Anti-Injunction Act verbietet es, vor Zahlung einer Steuer gegen Steuergesetze zu klagen. In diesem Fall wäre die Klage bis 2015 unzulässig. Hierzu spricht zunächst ein amicus curiae (40min); danach tragen der U.S. Solicitor General (30min) und der Vertreter der klagenden Bundesstaaten (20min) vor.

Am zweiten Verhandlungstag geht es dann um die eigentliche Frage des Verfahrens: Die Regelungskompetenz des Bundes. Der Congress hat nach Art. 1 Abs. 8 der US-Verfassung nur enumerierte Kompetenzen, u.a.

To lay and collect Taxes, Duties, Imposts and Excises …; …

To regulate Commerce with foreign Nations, and among the several States, and with the Indian Tribes; …

To make all Laws which shall be necessary and proper for carrying into Execution the foregoing Powers.

Hinter der Föderalismusfrage steckt jedoch ein freiheitsrechtliches Argument: Zum einen soll der Föderalismus die Freiheit sichern, indem er eine starke Zentralmacht verhindert. Zum anderen wehren sich die Kläger auch gegen die Kollektivierung als Freiheitsbeschränkung.

Am dritten Verhandlungstag soll es dann um die Frage gehen, ob die Versicherungspflicht im Fall der Verfassungswidrigkeit vom Rest des Gesetzes trennbar ist; nachmittags soll es um die Ausweitung von Medicaid gehen, deren Kosten teilweise die Bundesstaaten tragen sollen.

Auf die Plätze…

Die 400 Plätze im Verhandlungssaal sind derweil heiß umkämpft; 27 Tickets verteilen die Richter_innen, je sechs gehen an die 11 Anwälte und Anwältinnen, 90 an die Bar Association, 37 an die Presse (zusätzlich zu den Plätzen im Presseraum), weitere 100 werden anderweitig vergeben – so bleiben nur 50 Tickets für die Schlange vor der Tür.

Alle anderen können ab 14h (20h MEZ) die Audioaufnahmen anhören und die Transkriptionen lesen; die Materialien aus der Nachmittagssitzung am 28. März gibt es dann ab 16h.

Nora Markard ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich “Staatlichkeit im Wandel” an der Universität Bremen.


3 Comments

  1. […] 59. urbanophil.net (320/Berlin) 60. Dandydiary (325/Berlin) 61. I.am.no.Superman (326/Berlin) 62. Verfassungsblog (342/Berlin) 63.Das Nuf advanced (345/Berlin) 64. http://www.daburna.de […]

  2. […] konstitutionelle Plattentektonik am Werk in diesen Tagen: Das Urteil des Supreme Court über die Gesundheitsreform steht unmittelbar bevor. Von ihm hängt nicht nur das Schicksal von Obamas größtem […]

  3. […] mündliche Verhandlung und die Bedeutung des Gesetzes habe ich im März hier, hier, hier und hier […]

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