01 September 2020

Systematische Diskriminierung oder nur rechtswidrige Praxis?

Kindesentzug bei (drohender) Obdachlosigkeit der Eltern

Im Juni 2020 trennte das Jugendamt Frankfurt a.M. eine Romni von ihrem neugeborenen Kind, nachdem sie aufgrund der Corona-Maßnahmen nicht mehr ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin nachgehen konnte. Ausschlaggebend für die Trennung von Mutter und Kind waren laut Angaben der zuständigen Dezernentin der Stadt die ungeklärte Wohnsituation, finanzielle Lage und Krankenversicherung der Mutter – also ihre sozioökonomischen Verhältnisse. Abgesehen davon, dass in diesem konkreten Fall auch Vorwürfe von institutionellem Rassismus und Nötigung im Raum standen, können sozioökonomische Verhältnisse und die dadurch bedingte tatsächliche oder drohende Obdachlosigkeit für sich genommen eine Inobhutnahme von Kindern durch das Jugendamt grundsätzlich nicht rechtfertigen.

Inobhutnahme von Kindern nach einfachem Recht

Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen ist in § 42 SGB VIII geregelt. Danach sind die Jugendämter insbesondere dann berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in ihre Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für dessen Wohl besteht. Eine abstrakte Gefahr genügt hierfür nicht, sondern es muss stets eine konkrete sein. Diese Feststellung muss das Jugendamt auf hinreichende, objektive Anhaltspunkte stützen und gegebenenfalls in einem gerichtlichen Verfahren darlegen. Behauptungen oder Spekulationen können die Annahme einer konkreten Gefahr nicht rechtfertigen. Für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls bedarf es also einer hinreichenden Tatsachengrundlage, aus der ersichtlich ist, dass entweder bereits ein Schaden beim Kind eingetreten oder bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist (vgl. VGH München). Das Jugendamt muss hierbei die Gefährdungslage des Kindeswohls eigenständig erforschen und klären.

Grundlegend ist auch, dass die Inobhutnahme nicht in jedem Fall als eine das Kindeswohl fördernde und die akute Gefährdungssituation beseitigende Maßnahme betrachtet wird. Das ist sie nur dann, wenn die Inobhutnahme gerade deswegen unerlässlich ist, weil nur dadurch das Kindeswohl gesichert werden kann. Daher muss die Behörde auch immer prüfen und abwägen, ob und inwieweit die Inobhutnahme durch das Jugendamt selbst das Kindeswohl beeinträchtigen könnte. Erforderlich ist also eine Gesamtbetrachtung der Situation des Kindes.

Widersprechen die Personenberechtigten der Inobhutnahme durch das Jugendamt, muss das Familiengericht entscheiden. Ein Abweichen von dem Erfordernis der familiengerichtlichen Entscheidung ist nur unter hohen Anforderungen möglich. Erforderlich ist zunächst einmal, dass tatsächlich der Versuch unternommen wird, vor der Inobhutnahme eine gerichtliche Entscheidung einzuholen. Familiengerichte haben einen gerichtlichen Bereitschaftsdienst, sodass eine Entscheidung im Eilverfahren grundsätzlich möglich ist. Eine Inobhutnahme durch das Jugendamt ohne familiengerichtliche Entscheidung kommt deshalb nach der Rechtsprechung nur in besonders gelagerten akuten Gefährdungssituationen in Betracht.

Verfassungs- und völkerrechtliche Vorgaben

Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen greift in das verfassungsrechtlich garantierte Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG ein. Deswegen ist notwendig, die Tatbestandvoraussetzungen des § 42 SGB VIII im Lichte des Elternrechts auszulegen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Das BVerfG scheint dabei hohe Anforderungen aus dem Elternrecht abzuleiten. Zwar dürfen nach Art. 6 Abs. 3 GG Kinder gegen den Willen der Erziehungsberechtigten nur von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Doch das BVerfG unterstreicht, dass „nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts [berechtigt,] die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen“. 

„Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Das elterliche Fehlverhalten muss vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist.“ 

Eine solche Gefährdung des Kindes ist anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, so das BVerfG. Aus der Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich damit ein differenzierter Prüfungsmaßstab für die Fachgerichte. Ähnlich wie Jugendämter müssen sie die Schäden, die dem Kind drohen, ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret benennen. Außerdem müssen sie den Grundrechtsschutz des Kindes vor der Trennung von seinen Eltern berücksichtigen (BVerfG, ebenda).

Der Verfassungstext hingegen erwähnt das Kindeswohl nicht explizit, obwohl er als Ausdruck der Rechte des Kindes beim Ausgleich der widerstreitenden Rechtsgüter und Interessen eine wichtige Rolle spielt. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein subjektives Recht des Kindes auf staatlichen Schutz und Vornahme entsprechender Maßnahmen verfassungsrechtlich gänzlich fehlt. Er ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 GG.

Eingang in die nationale Rechtsordnung findet das Kindeswohl auch über das Völkerrecht. Art. 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) nennt das Kindeswohl ausdrücklich und schreibt vor, es bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen. Die UN-KRK hat als völkerrechtlicher Vertrag formal zwar nur den Rang eines einfachen Gesetzes. Doch über den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes dürfte sie faktisch „Übergesetzesrang“ haben. Sie ist zugleich bei der Auslegung der Grundrechte zu berücksichtigen. Art. 3 Abs. 1 verpflichtet nicht nur die Legislative im Gesetzgebungsverfahren, sondern bindet auch die Verwaltung und Gerichte. Die Norm muss außerdem bei der Auslegung des Art. 6 Abs. 3 GG berücksichtigt werden und kann mithin seinen normativen Gehalt stärken. Gleichzeitig stellt Art. 3 Abs. 1 UN-KRK einen Abwägungsgesichtspunkt dar, der dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG entgegengesetzt werden muss, wenn die Eltern selbst das Kindeswohl gefährden.

Art. 3 Abs. 1 UN-KRK verbietet grundsätzlich die Trennung von Eltern und Kindern. Sie kommt nur in Betracht, wenn alle anderen Maßnahmen ungeeignet sind, um die konkrete Kindeswohlgefährdung abzuwenden, die von den Eltern ausgeht. 

Kindesentzug bei Obdachlosigkeit

Vor dem Hintergrund der verfassungs- und völkerrechtlichen Anforderungen ist die Inobhutnahme von Kindern bei Obdachlosigkeit der Eltern nur Ultima Ratio. Erstens muss die Kindeswohlgefährdung von den Eltern ausgehen, was bei Obdachlosigkeit aber nicht per se der Fall ist. Obdachlosigkeit allein rechtfertigt die Inobhutnahme also nicht. Zweitens sieht § 1666a Abs. 1 BGB als Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Abs. 3 GG vor, dass die Kindeswohlgefährdung nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, abwendbar ist. 

Gerade im Falle der Obdachlosigkeit kommen aber öffentliche Hilfen in Betracht: etwa die (vorläufige) Unterbringung in Eltern-Kind-Einrichtungen nach SGB VIII oder eine Zuweisung in eine Wohnung/Unterkunft nach § 67 SGB XII. Eine Zuweisung kann gegebenenfalls auch einstweilig angeordnet werden, um die drohende bzw. bestehende Obdachlosigkeit abzuwenden oder zu beenden. Solche Lösungen können dem Kindeswohl auch deswegen besser gerecht werden, da die Trennung nicht nur massiv in die Rechte der Eltern eingreift, sondern auch die Rechte des Kindes erheblich beeinträchtigt.

Obdachlosigkeit oder drohende Obdachlosigkeit der Eltern, also allein sozioökonomische Verhältnisse, sind demnach nicht Grund genug, für die Annahme einer Kindeswohlgefährdung und einer Inobhutnahme eines Kindes durch das Jugendamt, die im Regelfall unzulässig sein dürfte. Sie ist nicht nur rechtswidrig, weil sie die verfassungs- und völkerrechtlichen Rechte der Eltern nicht beachtet, sondern auch, weil das vorrangig zu berücksichtigende Kindeswohl einer Inobhutnahme entgegensteht.

Anekdotische Evidenz

Kindesentzug, also die Inobhutnahme von Kindern durch die Jugendämter, hat nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Er löste gar Staatsaffären aus. Auch deutsche Jugendämter gerieten in die Kritik, ihnen wurde Diskriminierung vorgeworfen. Im Falle der Romni aus Frankfurt a.M. wurden Mutter und Kind nach wenigen Wochen wieder vereint. Ob das Jugendamt die völker- und verfassungsrechtlichen Vorgaben einfach nicht beachtet hat oder ob die nichtdeutsche Herkunft der Mutter bei der Entscheidung eine Rolle gespielt hat, lässt sich mangels Informationen nicht beurteilen. Generell fehlen statistische Erhebungen und entsprechende Studien zur systematischen Diskriminierung durch Jugendämter. Auffällig ist jedoch, dass die Inobhutnahme durch das Jugendamt bei der Obdachlosigkeit der Eltern – soweit ersichtlich – vor allem bei Menschen nichtdeutscher Herkunft öffentlich werden.


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