Tackling Big Tech
Neue Regeln für den Wettbewerb in der Digitalökonomie
Auf der Zielgeraden ging es nun ganz rasch. Am Donnerstag, den 14. Januar hat der Bundestag weitreichende Änderungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) beschlossen, am Montag, den 18. Januar stimmte der Bundesrat in einer Sondersitzung den neuen Regelungen zu und die Verkündung wird unmittelbar folgen. Zentrale Aspekte der 10. GWB-Novelle betreffen die Missbrauchsaufsicht über digitale Plattformen, also vor allem Google, Amazon, Facebook, und Apple. Das „Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft“ nach Ludwig Erhard ist damit endgültig im 21. Jahrhundert angekommen, auch wenn in der Formulierung von Hansjörg Durz (CSU), der im Bundestag von der „Geburtsstunde der sozialen digitalen Marktwirtschaft“ sprach, vielleicht etwas zu viel Pathos mitschwingt. Denn ob die Anpassungen tatsächlich geeignet sind, die Marktmacht der großen Plattformunternehmen und deren Verhalten im Wettbewerb wirksam zu adressieren, bleibt abzuwarten. Bis zum Inkrafttreten entsprechender Regeln auf EU-Ebene – voraussichtlich im Digital Markets Act – können mit dem deutschen Recht aber in jedem Fall wichtige Erfahrungen für die Anwendungspraxis gewonnen werden. Sowohl bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben als auch bei ihrer Anwendung ist zudem die Gewährleistung eines hinreichenden Wettbewerbsbezugs von besonderer Bedeutung.
Grenzen der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht in der Digitalökonomie
Die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht wird von zahlreichen Akteuren – von der Europäischen Kommission, dem Bundeskartellamt, der Bundesregierung und auch der Monopolkommission – als oftmals nicht ausreichend empfunden, um die Wettbewerbsprobleme in der Digitalökonomie in den Griff zu bekommen. Dort verfügen einige wenige Plattformunternehmen in immer mehr Bereichen über beträchtliche Marktmacht. Insbesondere für die Verbraucherinnen und Verbraucher sind die Geschäftsmodelle dieser Unternehmen mit zahlreichen Vorteilen verbunden: Die Nutzung der Plattformen verringert Suchkosten, ist häufig kostenlos – bezahlt wird allenfalls mit persönlichen Daten sowie dem Konsum von Werbung – und das umfangreiche Diensteangebot ermöglicht den Bezug verschiedener attraktiver Leistungen aus einer Hand. Auch die (vor allem kleineren) Anbieter können bei dem Absatz ihrer Produkte von der Reichweite großer Plattformen und etwaigen zusätzlichen Vertriebsleistungen profitieren. Wenn die Unternehmen allerdings nach und nach neue Märkte besetzen und andere Unternehmen verdrängen, kann der Mangel an Wettbewerb letztlich für alle nachteilhaft sein. Die Kartellbehörden haben deshalb in der Vergangenheit zahlreiche Missbrauchsverfahren gegen die großen Digitalunternehmen geführt: die Europäische Kommission wiederholt gegen Google und zurzeit auch gegen Amazon und Apple, das Bundeskartellamt insbesondere gegen Facebook und Amazon. Während sich das geltende Kartellrecht dabei als flexibel genug erwiesen hat, um die in Rede stehenden Verhaltensweisen grundsätzlich zu erfassen, sind die Sachverhalte meist derart komplex, dass der Nachweis eines Verstoßes durchaus anspruchsvoll ist. Die kartellbehördlichen Verfahren dauern deshalb häufig mehrere Jahre und gehen dann noch ins Rechtsmittel. Angesichts der Schnelllebigkeit der Digitalökonomie und ihrer sich ständig verändernden Geschäftsmodelle stößt das Kartellrecht insofern häufig an seine Grenzen.
Neue Verhaltenspflichten für Unternehmen mit „überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“
Einen Ansatz zur Behebung der Defizite in diesem Bereich unternimmt das GWB nun mit § 19a GWB. Die Vorschrift ergänzt die deutsche Missbrauchsaufsicht und soll dem Bundeskartellamt ein früheres Eingreifen auf digitalen Märkten ermöglichen. Sie richtet sich an Plattformunternehmen mit „überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“. Auch wenn die Kriterien für die Feststellung einer solchen Adressateneigenschaft denen der Marktbeherrschung ähneln, ist eine marktbeherrschende Stellung gerade nicht Voraussetzung für ein Eingreifen des Bundeskartellamtes. Damit enthält das deutsche Missbrauchsaufsicht neben der Marktbeherrschung (§ 19 GWB), der relativen sowie überlegenen Marktmacht (§ 20 GWB) in § 19a GWB nun eine dritte Marktmachtkategorie. Das EU-Wettbewerbsrecht kennt bislang nur marktbeherrschende Unternehmen (Art. 102 AEUV).
Hat das Bundeskartellamt in Bezug auf ein Unternehmen eine „überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb“ im Sinne des § 19a Abs. 1 GWB festgestellt, kann es gegenüber dem Unternehmen einzelne Verhaltenspflichten aus dem Katalog des § 19a Abs. 2 GWB „aktivieren“. Dies geschieht in einer gesonderten Verfügung, die aber mit der Feststellung der Adressateneigenschaft nach Absatz 1 verbunden werden kann (§ 19a Abs. 2 Satz 3 GWB). Der Pflichtenkatalog umfasst nunmehr sieben Fallgruppen, deren Generalklauseln in einigen Fällen zuletzt noch um Regelbeispiele ergänzt wurden. Hintergrund hierfür ist die beabsichtigte Angleichung des § 19a GWB an den zwischenzeitlichen Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Digital Markets Act. Überwiegend ergeben sich die dortigen Gebote und Verbote bereits aus dem allgemeinen Missbrauchsrecht (§ 19 GWB, Art. 102 AEUV), beziehungsweise der Entscheidungspraxis hierzu. Das Verbot der Selbstbegünstigung (Nr. 1) ist etwa angelehnt an den Fall Google Shopping der Europäischen Kommission und das Verbot der Verarbeitung wettbewerbsrelevanter Daten (Nr. 4) an den Fall Facebook des Bundeskartellamtes. Voraussetzung für eine Untersagung der in § 19a Abs. 2 GWB genannten Verhaltensweisen ist grundsätzlich eine Erstbegehungs- oder Wiederholungsgefahr. Ausnahmsweise soll hierauf nach der Gesetzesbegründung sogar verzichtet werden können. Erwähnenswert ist ferner der Umstand, dass eine sachliche Rechtfertigung dieser Verhaltensweisen zwar möglich ist, die Darlegungs- und Beweislast aber den Unternehmen obliegt (§ 19a Abs. 2 Sätze 1 und 2 GWB).
Die neue deutsche Missbrauchsaufsicht im europäischen Kontext
Auf Unionsebene hat die Europäische Kommission am 15. Dezember 2020 mit dem Digital Markets Act einen Vorschlag für eine Ex-ante-Regulierung von großen digitalen Plattformen vorgelegt, die das bestehende Wettbewerbsrecht ergänzen soll. Der Digital Markets Act richtet sich an Plattformen, deren Gatekeeper-Funktion in erster Linie anhand quantitativer Kriterien bestimmt wird (Art. 3). Der Katalog der für solche Unternehmen geltenden besonderen Verhaltensvorgaben (Art. 5, 6) ist insgesamt umfangreicher als jener des § 19a Abs. 2 GWB. Und im Gegensatz zu dieser Vorschrift sind die Verbote und Gebote – vorbehaltlich ihrer teilweisen Spezifizierung – als Per-se-Regeln unmittelbar anwendbar. Der Nachweis einer Behinderungswirkung ist nicht erforderlich. Zudem besteht keine Möglichkeit zur Rechtfertigung des Verhaltens, nur eine sehr enge Option des Aussetzens aufgrund betriebswirtschaftlicher Erwägungen (Art. 8: „endanger […] the economic viability“) sowie eine sehr enge Ausnahme aufgrund öffentlicher Interessen (Art. 9).
Ein Nebeneinander von deutschem Recht (§ 19a GWB) und EU-Recht (Digital Markets Act) zur Lösung desselben Problems – der zunehmenden „Vermachtung“ der Digitalökonomie – kann zu Konflikten führen, wenn die jeweiligen Vorgaben voneinander abweichen, aber ähnliche Sachverhalte betreffen. So lässt sich nicht nur grundsätzlich hinterfragen, warum es auf nationaler Ebene neben der absehbaren Europäischen Regulierung überhaupt zusätzlichen Regelungsbedarf für grenzüberschreitende Fälle geben sollte. Auch bei den mutmaßlich betroffenen Unternehmen, zu deren Kreis bei beiden Regelungen nur einige wenige Plattformbetreiber zählen sollen, kann angesichts ähnlicher, aber nicht deckungsgleicher Regelungen, die von unterschiedlichen Behörden durchgesetzt werden, Rechtsunsicherheit entstehen.
Allerdings eröffnet § 19a GWB die Möglichkeit, erste praktische Erfahrungen mit der Durchsetzung neuer Regelungen für Plattformökosysteme zu sammeln. Das erscheint zumindest für den Zeitraum vertretbar, solange auf Unionsebene entsprechende Regelungen fehlen, der Digital Markets Act also noch nicht verabschiedet worden ist. Und das kann noch dauern. Bis dahin wird sich zeigen, ob § 19a GWB geeignet ist, in seinem Anwendungsbereich vorhandene und möglicherweise unerkannte Regelungslücken effektiv zu schließen. Insofern könnte der deutsche Gesetzgeber das positive Signal senden, die Missbrauchsaufsicht zu stärken und negative Entwicklungen des Wettbewerbs in der Plattformökonomie adressieren zu wollen. Damit könnte der neue § 19a GWB auch der EU-Gesetzgebung zusätzlichen Schub geben.
Angesichts der Vorschläge zum Digital Markets Act auf der Unionsebene und der Unsicherheiten zur Wirkweise des § 19a GWB ist aber auch die in Absatz 4 der Vorschrift vorgesehene Evaluierungspflicht zu begrüßen. Danach berichtet das Bundeswirtschaftsministerium dem deutschen Gesetzgeber nach vier Jahren über die Erfahrungen mit der Anwendung des § 19a Abs. 1, 2 GWB. (Zu dem Vorschlag einer Evaluierungspflicht siehe auch die mit den Mitgliedern der Monopolkommission abgestimmte Stellungnahme von Achim Wambach für die Anhörung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages am 25. November 2020 zur 10. GWB-Novelle sowie Kühling, NZKart 2020, 630 f.).
Gewährleistung eines hinreichenden Wettbewerbsbezugs bei § 19a GWB
Die Monopolkommission hat in der vorgenannten Stellungnahme für den Wirtschaftsausschuss Anpassungen an der Norm empfohlen. Diese sollten (1) den Wettbewerbsbezug einzelner Verhaltenspflichten des § 19a Abs. 2 GWB stärken, (2) eine handhabbare Untersagung ausschließlich von Behinderungspraktiken gewährleisten und (3) gleichzeitig sicherstellen, dass die kartellbehördlichen Eingriffsmöglichkeiten nicht überschießend wirken. Dabei ist die Klarstellung, dass die Untersagung eines Verhaltens nur dann möglich sein sollte, wenn es den Wettbewerb behindern kann, von besonderer Bedeutung. An dieser Stelle soll nur exemplarisch auf das in § 19a Abs. 2 Nr. 4 GWB vorgesehene Verbot der Verarbeitung wettbewerbsrelevanter Daten, die das Unternehmen gesammelt hat, hingewiesen werden. Im Regierungsentwurf war vorgesehen, dass das Bundeskartellamt ein solches Verhalten untersagen kann, wenn es dazu führt, dass Marktzutrittsschranken errichtet oder erhöht werden. Die Monopolkommission hat im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen, eine zusätzliche Erheblichkeitsschwelle einzufügen, um zu verhindern, dass eine bereits geringfügige Erhöhung von Marktzutrittsschranken eine kartellbehördliche Interventionsmöglichkeit zur Folge haben kann. Dies gilt bei der in Bezug genommenen Fallgruppe umso mehr, als es hier an hinreichenden Vorerfahrungen mit der Anwendung einer solchen Vorschrift und ihrer Vor- und Nachteile fehlt (vgl. auch Kühling, NZKart 2020, 630 f.). Der Gesetzgeber ist dieser Argumentation im Ergebnis gefolgt und hat die Untersagung der Datenverarbeitung in § 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB davon abhängig gemacht, dass ein entsprechendes Verhalten die Marktzutrittsschranken „spürbar“ erhöht.
BGH unmittelbar zuständig
Sicherlich für die meisten überraschend, und in der Bundesregierung durchaus umstritten, ist die auf der Zielgeraden des Gesetzgebungsverfahrens zum Jahresende aufgenommene Verkürzung des Instanzenzugs. Diese kann durchaus einen wichtigen Beitrag zur Beschleunigung der Verfahren leisten. Damit entfällt in Rechtsmittelverfahren zu § 19a GWB in Zukunft eine Überprüfung durch das Oberlandesgericht Düsseldorf, § 73 Abs. 5 GWB und damit eine weitere Tatsacheninstanz. Als partielle Kompensation hat der Gesetzgeber dem Bundesgerichtshof die Möglichkeit eingeräumt, eine Stellungnahme der Monopolkommission zu konkreten ökonomischen Fragestellungen einzuholen (§ 75 Abs. 5 GWB).
Schwächung des Wettbewerbsbezugs in § 19 Abs. 1 GWB
Eine Vorschrift, bei der aus Sicht der Monopolkommission der Wettbewerbsbezug durch die 10. GWB-Novelle eher geschwächt wurde, ist die Generalklausel des Missbrauchsverbots aus § 19 Abs. 1 GWB. Danach ist nicht die „missbräuchliche Ausnutzung“ einer marktbeherrschenden Stellung, sondern nur der „Missbrauch“ einer solchen verboten. Die auf den ersten Blick geringfügig erscheinende Anpassung des Wortlauts der Norm kann weitreichende Folgen für die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts haben. Nach der Gesetzesbegründung dient die Änderung unter anderem der Klarstellung, dass an einen Marktmachtmissbrauch keine qualifizierten Anforderungen im Sinne einer „strikten Kausalität“ zu stellen sind. Durch die Neufassung soll sich dies nun auf alle Fälle des Ausbeutungsmissbrauchs erstrecken.
Der Verzicht auf einen Ursachenzusammenhang zwischen der beherrschenden Stellung eines Unternehmens und dem missbräuchlichen Verhalten („Ergebniskausalität“) wird bei Behinderungsmissbräuchen im Unionsrecht bereits praktiziert. Dies ist ordnungspolitisch unproblematisch, da die Behinderung von Wettbewerbern durch ein beherrschendes Unternehmen seine Marktstellung im Ergebnis absichert. Auch bei einem kombinierten Ausbeutungs- und Behinderungsmissbrauch, das heißt einem Verhalten, das eine Ausbeutung darstellt und gleichzeitig Behinderungswirkungen entfaltet, ist im deutschen Recht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichthofs im Fall Facebook eine Ergebniskausalität ausreichend. Bei Ausbeutungsmissbräuchen, die ausdrücklich in der Gesetzesbegründung genannt werden, führt der Verzicht auf den Ursachenzusammenhang jedoch zu einer Divergenz gegenüber der Auslegung von Art. 102 AEUV durch den Europäischen Gerichtshof, dessen Rechtsprechung ein solcher Verzicht nicht zu entnehmen ist.
Außerdem entsteht durch die Änderung Rechtsunsicherheit, da die Verknüpfung zwischen einer unbilligen Verhaltensweise und aufgrund der Marktstruktur geschwächtem Wettbewerb wegfällt. Die Kartellbehörden haben so theoretisch die Möglichkeit, beliebige Rechtsverstöße als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nach deutschem Recht zu verfolgen. Mit ihrer im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Kritik an den geplanten Änderungen des Wortlauts des § 19 Abs. 1 GWB ist die Monopolkommission (vgl. neben der oben genannten Stellungnahme für den Wirtschaftsausschuss auch den Policy Brief Nr. 4 von Januar 2020) letztlich nicht durchgedrungen. Damit obliegt es nunmehr den Kartellbehörden, die gesetzlichen Vorgaben maßvoll anzuwenden.
Fazit
Insgesamt ist ein positives Gesamtfazit zu ziehen. Gegenwärtig besteht ein weltweites Ringen um angemessene kartellrechtliche Regeln zur Regulierung der wenigen, marktdominanten Plattformunternehmen. In den USA sind die zuständige Kartellbehörde – die U.S. Federal Trade Commission – und 48 Bundesstaaten deutlich weiter vorangeschritten. Sie haben auf der Basis des insoweit abweichenden US-amerikanischen Kartellrechts den Vorwurf der Monopolisierung durch Facebook nach Übernahme von Instagram und WhatsApp, ebenso wie durch die Benachteiligung von Softwareentwicklern, in gerichtlichen Verfahren eingebracht, an deren Ende sogar die Zerschlagung von Facebook stehen könnte. Damit verglichen tasten sich die Neuerungen des GWB vorsichtiger in ein verbessertes Regelwerk hinein, das dem Bundeskartellamt die nötigen Handlungsmöglichkeiten an die Hand gibt, mit Augenmaß die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es muss sich nun den Weg bahnen zwischen einem innovationsfeindlichen „Overenforcement“ und einem wettbewerbsgefährdenden „Underenforcement“. Der Gesetzgeber hat also einen wohl überlegten ersten Schritt gemacht. Das Kartellamt muss die nächsten Schritte ebenfalls mit Bedacht gehen. Der deutsche Ansatz kann dabei die europäische und womöglich sogar außereuropäische Entwicklung inspirieren.