26 June 2020

Testen zugunsten aller – und zulasten von 90 %?

„Testen, testen, testen“ – dieses Mantra effektiver Pandemiebekämpfung ist eingängig, schlüssig und seit Mitte März durch stetige Wiederholung jedem nachrichtenkonsumierenden Bundesbürger geläufig. Inzwischen wurden die Testkapazitäten ausgebaut und die Voraussetzungen um einen Test anzuordnen deutlich reduziert. Doch die Kostentragung ist kompetenzrechtlich und sozialrechtlich diskussionswürdig geregelt und wird voraussichtlich weitreichende Konsequenzen für manche Beitragszahler nach sich ziehen: Es besteht die ernste Gefahr, dass die privaten Krankenversicherungen sich nicht angemessen an den entstehenden Kosten beteiligen müssen.

Was die „Corona-Test-Verordnung“ festlegt

Immer wieder werden inzwischen nicht nur einzelne Personen und ihre Kontaktpersonen getestet, sondern man liest vermehrt von groß angelegten sogenannten Reihentestungen in Pflegeheimen, bei medizinischem Personal oder in Betrieben. Am 9.6.2020 hat das Gesundheitsministerium die „Verordnung zum Anspruch auf bestimmte Testungen für den Nachweis des Vorliegens einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2“, kurz Corona-Test-Verordnung, erlassen und auch einzelne Bundesländer haben in den vergangenen zehn Tagen Test-Konzepte veröffentlicht.

Das klingt nach dem oben besagten Mantra erst einmal sehr sinnvoll, doch dabei darf nicht außer Blick geraten, wer am Ende die Kosten tragen muss. Die Mehrausgaben, die allein durch Laborausgaben für die durchzuführenden PCR-Tests entstehen (nicht eingerechnet ist damit zB die Vergütung der Ärzte) wurden bei Erlass der Verordnung mit 50,5 Mio € je eine Millionen Tests beziffert. „Es ist viel teurer, zu wenig zu testen als zu viel zu testen“ – hier mag Jens Spahn Recht haben. Aber für wen wird es teuer? Und auf welcher Rechtsgrundlage?

Hier muss man differenzieren. Zunächst gibt es die einfachen Fälle, die Verdachtsfälle mit entsprechenden Symptomen, ggf. mit erkrankter Kontaktperson. Der Arzt entscheidet hier, ob ein Test indiziert ist, und ordnet ihn an. Der Test stellt eine Diagnosemaßnahme im Rahmen einer gewöhnlichen Krankenbehandlung dar, auf die ein Versicherter Anspruch hat und die von der Krankenversicherung entsprechend der gesetzlichen Regelung (§ 27 I 1, §§ 69 ff SGB V) oder entsprechend des privat abgeschlossenen Versicherungsvertrages vergütet wird. 

Anders ist es aber bei Reihentestungen: Gab es einen bestätigten COVID-19-Erkrankten im Pflegeheim, bevor die Reihentestung angeordnet wurde? Dann stellten die Tests Diagnosemaßnahmen dar und die Krankenkassen mussten sie finanzieren. Oder war die Maßnahme rein präventiv, um das Personal und Bewohner vor asymptomatischen Fällen zu schützen? Dann wurde diskutiert und verhandelt, wer die Kosten tragen muss. Bei Müller Fleisch in Birkenfeld beispielsweise zahlten die Krankenkassen die erste, das Gesundheitsamt die zweite und das Unternehmen die dritte Testrunde. Die neue Verordnung des Gesundheitsministeriums bringt jetzt Klarheit: Nun haben alle Personen Anspruch auf Labordiagnostik, wenn das Gesundheitsamt eine solche angeordnet hat, man eine erkrankte Kontaktperson angeben kann oder man in einer besonders gefährdeten Einrichtung oder einem Unternehmen anwesend ist oder war. Auch die Testung aller Bewohner eines gesamten Gebiets, in dem die 7-Tage-Inzidenz von 50 Personen pro 100.000 Einwohner überschritten wurde, ist vorgesehen.

Ganz einfach per Verordnung hat Jens Spahn BMG – stets eloquent und tatkräftig – alle Unklarheiten beseitigt. Jetzt können wir effektiv der Pandemie begegnen und uns trotzdem auch in Pflegeheimen wieder umarmen. In der nicht-fachlichen Öffentlichkeit wurde die Verordnung kaum wahrgenommen und wenig diskutiert. Wir haben alles im Griff, wenn wir nur genug „testen, testen, testen“, denn „es ist viel teurer, zu wenig zu testen als zu viel zu testen“. Repetitives Rezitieren der Mantras beruhigt. Aber ist es wirklich so einfach?

Die Rechtsgrundlage für die Verordnung ist § 20i Abs. 3 S.2 SGB V, der erst mit Gesetz vom 19. Mai dieses Jahres eingeführt wurde und genau auf die Verordnung zugeschnitten ist. Die Norm setzt die vorherige Feststellung einer epidemischen Lage nationaler Tragweite durch den Bundestag voraus, ihre Wirksamkeit ist aber im Gegensatz zu den meisten anderen „Corona-Verordnungen“, die sich auf den neu gefassten §§ 5, 5a IfSG stützen, zeitlich nicht darauf beschränkt. 

Wie sich die private Krankenversicherung einen schlanken Fuß macht

50,5 Mio € Mehraufwand pro Million Tests, inzwischen gesenkt auf 39,4 Mio €. Wie viele Millionen Tests gemacht werden, ist vollkommen offen. Als Kostenträger wird „die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds“ angegeben. Klingt passend. Aber was ist der Gesundheitsfonds und wieso hat er so viel Geld übrig?

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wird durch Beiträge der Mitglieder der einzelnen Krankenkassen finanziert. Das sind – anders als Steuern oder Gebühren – Abgaben zur Deckung der Kosten einer öffentlichen Einrichtung, die der Beitragszahler potentiell in Anspruch nehmen kann. Alle Beiträge aller Kassen werden beim Gesundheitsfonds gesammelt, § 271 SGB V. Dazu kommt ein jährlicher Bundeszuschuss zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen (§ 221 SGB V). Dieser ist aus Steuern finanziert. Dann wird entsprechend ihrer Kosten den Krankenkassen ihr Anteil zugewiesen. Um Schwankungen oder Einnahmeausfälle, die bei der einmal jährlich stattfindenden Berechnung nicht vorhergesehen wurden, auszugleichen, wird die Liquiditätsreserve gebildet. Zum Beispiel für Zeiten wie jetzt, in denen reduzierte Beitragseinnahmen wegen vermehrter Kurzarbeit aufgefangen werden müssen.

Gestemmt wird die Last also aus den Rücklagen der GKV. Bei den Reihentestungen wird aber nicht danach differenziert, ob die Testperson gesetzlich, privat oder überhaupt nicht versichert ist. Die privaten Krankenversicherungen (PKV) argumentieren, dass die Mehrbelastungen im Ergebnis alle treffe, da sie durch erhöhte Steuerzuschüsse ausgeglichen werden sollen. Diese werden jedoch bisher nur in Aussicht gestellt und sollen im zweiten Halbjahr besprochen werden. Es ist zu befürchten, dass die Steigerung des Bundeszuschusses nach den bereits enormen Haushaltsausgaben die Kosten der Labordiagnostik nicht decken wird, geschweige denn die Kosten der Ärzte und sonstigen Leistungserbringer, von welchen bisher nicht die Rede ist. Verfassungsrechtlich ist ein exakter Ausgleich nicht erforderlich. Es gibt keinen Anspruch der GKV auf Zuschüsse. 

Die Konsequenz einer schiefen Haushaltslage kann dann entweder die Reduktion der Ausgaben (durch Leistungsreduktion) oder die Erhöhung der Einnahmen (durch Beitragserhöhung) sein. Beides träfe nur die gesetzlich Versicherten. Die Reihentestungen nutzen aber nicht nur jeder individuell getesteten Person, ob privat oder gesetzlich krankenversichert, sondern helfen der gesamten Gesellschaft, die Pandemie zu kontrollieren und damit schrittweise eine Rückkehr zur mehr Offenheit zu ermöglichen. Durch die aktuelle Kostenregelung werden Last und Nutzen der Reihentestungen in der dualen Versicherung ungleich verteilt. Die GKV stellt zwar über Kassengrenzen hinweg eine Solidargemeinschaft dar, aber nicht über Versicherungsgrenzen hinweg. Die Sozialversicherungsbeiträge unterliegen einer strengen Zweckbindung. Und der Zweck ist eben nicht, privat Versicherte mitzuversorgen. Ein Aufweichen der Grenzen zulasten der GKV kann die Akzeptanz der dualen Versicherung weiter schmälern. Das muss insbesondere von einem Gesundheitsminister bedacht werden, der seinen Aussagen nach Ungleichbehandlungen im dualen System aufheben möchte. 

Ein etwaiger gesteigerter Steuerzuschuss ist aber auch kein tragfähiges Argument. Jedenfalls, solange er nicht exakt so hoch ist wie die Summe der Kosten der Reihentestungen und noch ein darüber hinausgehender Zuschuss gewährt wird, um die übrigen pandemiebedingten Mehrkosten zu tragen. Ansonsten wird der Beitragszahler durch die Hintertür doppelt belastet: auf der einen Seite durch erhöhte Beiträge und auf der anderen Seite durch eine stärkere Belastung des Bundeshaushalts. Denn das Steueraufkommen des Staates wird – wie die PKV hervorhebt – eben durch alle finanziert. Die Vermischung mehrerer Finanzquellen macht die Lage nur noch intransparenter und eine angemessene Beteiligung aller unwahrscheinlicher.

Eine separate, anlassbezogene Beteiligung der privaten Krankenversicherungen konkret an den nach der Corona-Test-Verordnung gewährten Tests, auf die zuvor kein Anspruch der Versicherten bestand, ist daher geboten. Entweder in Höhe des Anteils der getesteten Versicherten oder – pauschaler und damit in der aktuellen Situation besser handhabbar – entsprechend der versicherten Bevölkerungsteile. Dies würde auch abbilden, dass die Reihentests der Bevölkerung insgesamt dienen. Ca. 10 % der Bevölkerung sind privat krankenversichert. Das ist der Anteil, den die PKV tragen sollte.

Reihentestungen als Gefahrenabwehr

Eigentlich sind die geplanten präventiven Tests bei asymptomatischen Personen präventive Maßnahmen der Seuchenbekämpfung, also Sonderordnungsrecht, fallen damit in die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz der Länder und würden auch von Ländern und Kommunen finanziert. Die Entlastung dieser Stellen hebt die Verordnung auch positiv hervor. Die Diskussion darüber fiel erstaunlich leise aus. Warum sollte die Finanzierung der Gefahrenabwehr in diesem Fall den Ländern und Kommunen abgenommen werden? Wäre die Beibehaltung des Grundsatzes nicht ein Anreiz, durch gesteigerten Personal- und Mitteleinsatz der Sonderordnungsbehörden das Risiko neuer Ausbrüche zu reduzieren und die Krankheit damit noch effektiver zu bekämpfen? Gerade die Einhaltung der Abstandsregelung in Betrieben und an öffentlichen Orten kann schließlich verhindern, dass neue Infektionsherde überhaupt entstehen, an denen es dann zu Reihentests kommen muss. 

Dagegen kann vorgebracht werden, dass die kommunalen Behörden so, durch die Trennung von Finanzlast und Anordnungszuständigkeit, in die Lage versetzt werden, überall in Deutschland unabhängig von kritischen Haushaltslagen entsprechend der virologischen Gefahrenlage Reihentestungen da anordnen können, wo sie zum Schutz der Bevölkerung notwendig sind. Andererseits darf die kommunale Haushaltslage als sachfremde Erwägung in den betreffenden Fällen ohnehin keine Rolle spielen. 

Das Tätigwerden des Bundes im Bereich der Gefahrenabwehr muss immer sehr kritisch hinterfragt werden. Der Grundsatz der Länderzuständigkeit nach Art. 30 GG wurde vom Verfassungsgeber im föderalistischen System bewusst kaum aufgeweicht. Das Gewaltmonopol soll eben nicht bei einer übermächtigen Staatsführung gebündelt werden. Und eine bundesweite Regelung nur einzuführen, weil der Gesundheitsminister mit dem Gesundheitsfonds eben einen Topf gefunden hat, auf den man zugreifen kann, ohne hinderliche Diskussionen mit den Landesregierungen zu führen oder Kompromisse zu finden, ist bestimmt keine ausreichende Rechtfertigung für eine Ausnahme.

Allerdings handelt es sich hier – wie in der Rechtsgrundlage § 20i SGB V auch benannt – um die Situation der epidemischen Lage nationaler Tragweite. Eine Infektionskrankheit macht eben nicht vor Zuständigkeitsgrenzen halt. Dazu kommt die Unabsehbarkeit der Entwicklung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2. Diese beiden Faktoren machen eine einheitliche Regelung ausnahmsweise erforderlich. Das Risiko einer Zersplitterung der Kontrolldichte aufgrund von Rechtsunsicherheit und Diskussionen über die Bezahlung wäre aufgrund der damit einhergehenden gesundheitlichen Gefahren nicht hinnehmbar.

Nachbesserung erforderlich

Insgesamt ist zu erwarten, dass die Verordnung hilft, durch einen weiten Kreis der Anspruchsberechtigten die Gesellschaft weiter zu öffnen und dabei möglichst schnell Verbreitungsherde zu identifizieren und räumlich einzuschränken. Dies nützt allen und muss auch von allen finanziert werden. Erreicht wird dies kompetenz- und sozialrechtlich ordnungsgemäß, indem die privaten Krankenversicherungen 10 % der durch Reihentestungen entstandenen Kosten tragen. 


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