Toter Winkel
Radfahrer, Rechtsabbieger und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
Allein in Berlin sind in diesem Jahr bereits fünfzehn Fahrradfahrer im Verkehr ums Leben gekommen, viele von ihnen bei Rechtsabbiegeunfällen mit Beteiligung von Lkw oder Bussen. Eine Pflicht zur Nutzung sogenannter Abbiegeassistenzsysteme könnte da Abhilfe schaffen – eine rechtliche Änderung war im staatlichen Alleingang bislang jedoch wegen EU-weit harmonisierter Fahrzeuggenehmigungsvorschriften nicht möglich. Ab heute können die lokalen Behörden aber immerhin zu Rechtsabbiegeverboten für Lkw ohne Abbiegeassistenzsysteme ermächtigen und damit für mehr Verkehrssicherheit sorgen. Bis Abbiegeassistenten Pflicht sind, sollten sie auch davon Gebrauch machen.
Unter dem Oberbegriff Verkehrswende werden schon lange Konzepte der urbanen Mobilität der (nahen) Zukunft diskutiert. Ein Verkehr ohne Verkehrstote – Stichwort „Vision Zero“ – ist dabei eines der verfolgten Ziele. Gerade zu Zeiten von Corona, in denen man prall gefüllte Verkehrsmittel zu vermeiden versucht, erfährt das Fahrrad seine neue Blütezeit. Mehr Fahrradfahrer auf den Straßen heißt derzeit aber auch mehr tödliche Unfälle – von denen sich ein großer Teil mit Abbiegeassistenzsystemen vermeiden ließe. Diese bemerken Personen im toten Winkel und zeigen das dem Fahrer durch akustische bzw. Lichtsignale an. Jedoch sind laut ADFC bislang aber schätzungsweise weniger als 5 % der Lkw in Deutschland mit einem solchen Abbiegeassistenten ausgestattet (Stand März 2019).
Wieso also nicht einfach alle Lkw verpflichtend mit Abbiegeassistenten ausstatten lassen? Die technischen Anforderungen an Lkw sind zu Binnenmarktzwecken EU-weit harmonisiert. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ist deshalb der Meinung, seine rechtlichen Handlungsmöglichkeiten seien eingeschränkt und schreibt hierzu: „Minister Scheuer würde Abbiegeassistenten lieber heute als morgen für alle Lkw vorschreiben. Dies ist aber im Alleingang ohne die EU nicht möglich. Das Fahrzeugzulassungsrecht ist Europarecht.“
Technische Regeln auf Unionsebene
Die technischen Anforderungen für Lkw werden weitestgehend im Unionsrecht in den aus Binnenmarktzwecken harmonisierten Typgenehmigungsregeln festgelegt. Die Typgenehmigung richtet sich ab dem 01.09.2020 nach dem in der VO (EU) 2018/858 (nachfolgend: TypgenehmigungsVO) niedergelegten Verfahren, bis dahin galt die RL 2007/46/EG (nachfolgend: TypgenehmigungsRL). Beide verweisen für die einzelnen technischen Anforderungen, z.B. betreffend Luft- und Lärmemissionen oder Konstruktionsanforderungen, auf eine Vielzahl weiterer Unionsrechtsakte.
Ein solcher Rechtsakt integrierte erstmals 2019 auch die Pflicht zur Ausrüstung u.a. von Lastkraftwagen mit einer zulässigen Gesamtmasse über 3,5 Tonnen mit einem „hochentwickelten Notbremsassistenzsystem“ in die Typgenehmigung (Art. 9 Abs. 2 VO (EU) 2019/2144). Diese Pflicht gilt allerdings erst ab Juli 2022 für neu zugelassene Fahrzeuge und erst ab 2024 für Bestandsfahrzeuge. Außerdem besteht nicht etwa nur auf der Autobahn oder der außerstädtischen Bundesstraße Handlungsbedarf, sondern gerade in städtischen Räumen mit vielen Kreuzungen und geschlossener Bauweise. Hier zeigt sich: Auch vor 2022/2024 könnte der Gesetzgeber womöglich etwas tun und damit das Leben einer großen Zahl von Verkehrsteilnehmern retten. Ein Blick nach Österreich zeigt, wie das gehen kann und verdient daher nähere Betrachtung.
Das Fallbeispiel: Stadt Wien
Im vergangenen Jahr ist in Österreich die 32. Novelle der Straßenverkehrsordnung (nachfolgend: öStVO) in Kraft getreten, welche insbesondere den folgenden § 43 Abs. 8 öStVO neu einführt:
„Die Behörde kann durch Verordnung für ein gesamtes Ortsgebiet, Teile von Ortsgebieten oder näher bestimmte Gebiete für Lastkraftfahrzeuge ohne Assistenzsysteme mit einem höchsten zulässigen Gesamtgewicht von über 7,5 t zur Vermeidung des toten Winkels Rechtsabbiegeverbote erlassen, sofern dies aufgrund der örtlichen oder verkehrsmäßigen Gegebenheiten nach dem Stand der Wissenschaft zur Erhöhung der Verkehrssicherheit oder aus anderen wichtigen Gründen geeignet erscheint. […]“
Von dieser Ermächtigung möchte die Stadt Wien in Kürze mit einer Rechtsverordnung Gebrauch machen, die sich auf das gesamte Stadtgebiet bezieht. Ein entsprechender Entwurf liegt vor und wird derzeit von der EU-Kommission geprüft. Nach dem Verordnungsentwurf ist für Lastkraftfahrzeuge ohne Abbiegeassistenzsysteme mit einem zulässigen Gesamtgewicht von über 7,5 t ein Rechtsabbiegen verboten.
Interessant ist nun, ob diese Ermächtigungsgrundlage in der öStVO vor dem Hintergrund des Harmonisierungsansatzes des EU-Typgenehmigungsrechts Bestand haben kann. In der verkehrsrechtlichen Literatur (vgl. hierzu Brenner, SVR 2018, 441 ff.) und im BMVI herrscht bislang die Auffassung vor, dass die unionsrechtliche Harmonisierung strengere Anforderungen seitens der Mitgliedstaaten ausschließt.
Zur Reichweite der Harmonisierung
Doch wie weit reicht diese Harmonisierung überhaupt? Hierzu bedarf es eines Blicks in das Typgenehmigungsrecht, denn die eigentliche Harmonisierung muss sich im geschriebenen Recht wiederfinden.
Nach Art. 6 Abs. 5 UAbs. 1 TypgenehmigungsVO dürfen Mitgliedstaaten die Inbetriebnahme von Fahrzeugen, die der Verordnung und damit insbesondere den von ihr in Bezug genommenen Rechtsakten entsprechen, nur in bestimmten – hier schon thematisch nicht einschlägigen – Fällen verbieten, beschränken oder behindern. Die Frage ist daher, inwieweit ein solches lokales Rechtsabbiegeverbot es überhaupt verbietet, beschränkt oder behindert, ein Fahrzeug in Betrieb zu nehmen.
Als Inbetriebnahme definiert dabei Art. 3 Nr. 52 TypgenehmigungsVO den „erstmaligen bestimmungsgemäßen Einsatz eines Fahrzeugs […] in der Union“. Es ließe sich vertreten, dass § 43 Abs. 8 öStVO und auf dieser Grundlage ergehende Verordnungen es behindern, dass ein Lkw erstmals seiner Bestimmung gemäß in Wien eingesetzt werden kann.
Man kann es aber auch anders sehen: Wird der „bestimmungsgemäße“ Einsatz überhaupt behindert? Die Bestimmung eines Lastkraftwagens ist zunächst der Gütertransport. Diesen beeinträchtigt ein Rechtsabbiegeverbot zunächst nicht. Wenn in der Berichterstattung zur Wiener Verordnung von einem de-Facto-Fahrverbot gesprochen wird, so ist dies schlicht falsch: Mag die Vorstellung eines drei Mal um den Häuserblock links abbiegenden Lkw zwar für Belustigung sorgen, so ist es den Spediteuren dennoch zumutbar, Wege zu finden, auf denen sie ohne ein Rechtsabbiegen in der Stadt ans Ziel gelangen, z.B. indem sie einen Stadtzubringer wählen, der aus einer anderen Himmelsrichtung einfährt. Das mag zwar unbequem sein, die hohe Gefährdung des Lebens und der Gesundheit schwächerer Verkehrsteilnehmer stellt jedoch einen gewichtigen Aspekt dar, der durchaus überwiegen kann. Anders sieht es bei einem städtischen Linienbus aus – der muss seiner Bestimmung nach sowohl links als auch rechts abbiegen können.
Die Auslegung, was bestimmungsgemäß ist und was nicht, muss allein mit Blick auf die Reichweite der TypgenehmigungsVO erfolgen. Diese kann allerdings schon aufgrund ihres Regelungsgegenstandes den Straßenverkehr vor Ort nicht berücksichtigen und deswegen eben auch nicht harmonisieren. Mit anderen Worten: Bestimmungsgemäß ist gerade (und nur) der Gebrauch, der sich in den Grenzen der geltenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften hält. Sehen diese wegen der lokalen Gefährdungslage ein Rechtsabbiegeverbot für bestimmte Fahrzeugarten vor, so definieren sie insoweit den bestimmungsgemäßen Gebrauch.
Die Bedeutung der primärrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen
Für eine so begrenzte Reichweite der Harmonisierung spricht auch das Primärrecht. Wirft man einen Blick auf die Ermächtigungsgrundlage sowohl für den Erlass der TypgenehmigungsVO bzw. TypgenehmigungsRL als auch der Pflicht zur Nachrüstung mit Abbiegeassistenzsystemen, wird klar: Diese nennen gerade nicht auf die Kompetenznorm in Art. 91 Abs. 1 lit. c) AEUV, nach der die Union zur Verbesserung der Verkehrssicherheit tätig werden darf. Stattdessen wird „insbesondere“ allein auf Art. 114 AEUV rekurriert, auf dessen Grundlage eine Harmonisierung von technischen Anforderungen an die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen stattfinden kann. Das Unionsrecht differenziert also selbst zwischen Regelungen der Verkehrssicherheit und der technischen Harmonisierung. Wählt der Verordnungsgeber den Weg des Art. 114 AEUV, ohne zusätzlich auch die für die Verkehrssicherheit maßgebliche Ermächtigungsgrundlage zu nennen, so ist hierin schon angelegt, dass die Verordnung keine Verkehrssicherheitsaspekte regeln will.
Dies bedeutet: Dass der EU-Verordnungsgeber eine Harmonisierung bei der Frage will, ob neue Lkw nach 2022 noch ohne Abbiegeassistenzsystem genehmigt werden dürfen, bedeutet nicht, dass er damit gleichzeitig auch die Zulässigkeit von Abbiegeverboten von Lissabon bis Helsinki verbindlich regelt. In verschiedenen Siedlungs- und Verkehrsstrukturen sind verschiedenartige verkehrliche Probleme zu bewältigen, welche das Typgenehmigungsrecht nicht adressieren kann.
Straßenverkehr und Verkehrssicherheit als Gegenstand des bisherigen Typgenehmigungsrechts
Für diese Auslegung spricht auch der Blick in die noch bis gestern geltenden TypgenehmigungsRL, deren Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 den Mitgliedstaaten nicht nur die Behinderung von Zulassung, Inbetriebnahme und Verkauf bzw. Inverkehrbringen, sondern zusätzlich auch die Behinderung einer Teilnahme am Straßenverkehr untersagte. Damit griff die zuvor bestehende Regelung über den Harmonisierungsumfang der TypgenehmigungsVO hinaus. Dass die „Teilnahme am Straßenverkehr“ nun gestrichen wurde, ist ein weiteres gewichtiges Argument dafür, von nun an auch weitere Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten anzunehmen.
Dass es auch im Wiener Fall um die Verkehrssicherheit geht und sich nicht um eine Umgehung technischer Harmonisierung „durch die Hintertür“ handelt, wird auch daran ersichtlich, dass Rechtsabbiegeverbote nach § 43 Abs. 8 öStVO „aufgrund der örtlichen oder verkehrsmäßigen Gegebenheiten nach dem Stand der Wissenschaft zur Erhöhung der Verkehrssicherheit oder aus anderen wichtigen Gründen geeignet“ sein müssen. Was die „anderen wichtigen Gründe“ sind, ist nicht klar und bedarf ggf. einer unionsrechtskonformen Auslegung. Auch ist zweifelhaft, ob – auf Ebene der Wiener Rechtsverordnung – die gesamte Stadt pauschal mit einem Rechtsabbiegeverbot belegt werden durfte. Diese Prüfung müsste allerdings nicht in Brüssel, sondern wiederum in Wien stattfinden.
Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
In die Auslegung muss zudem einfließen, dass auch auf Ebene des EU-Primärrechts das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – und zwar auch in seiner Schutzpflichtdimension – zu berücksichtigen ist (Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 der EU-Grundrechtecharta). Vor dem Hintergrund steigender Fahrradfahrerzahlen bei zugleich steigender Motorisierung ist es allein das soeben skizzierte Verständnis vom Verhältnis von Harmonisierung und Verkehrssicherheit, das den Mitgliedstaaten gewisse Gestaltungsfreiheit verleiht und ihnen die Erfüllung dieser Schutzpflicht ermöglicht. Die Mitgliedstaaten dazu zu zwingen, evident vermeidbare Verkehrstote in hoher Anzahl bis 2022 bzw. 2024 hinzunehmen, erscheint mit der Schutzpflicht für Leben und Gesundheit kaum vereinbar.
Rechtliches Dürfen und politisches Wollen
Die Mitgliedstaaten können somit – entgegen dem ersten Anschein – also durchaus etwas für die Sicherheit von Radfahrern und Fußgängern tun. Jedenfalls ab heute können sie, ohne gegen das Unionsrecht zu verstoßen, die lokalen Behörden zu Rechtsabbiegeverboten für Lkw ohne Abbiegeassistenzsysteme schon vor der unionsweiten Einbaupflicht ermächtigen. Vor dem Hintergrund der staatlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit scheint dies wegen der steigenden Zahl an Fahrradfahrern und zugleich steigender Motorisierung sogar geboten. Es bedarf vor allem – wie so oft – des politischen Willens.
Das eigentliche Problem mit den Rechtsabbiege-Toten ist m. E. nicht der Mangel an Technik (an der wieder irgendwer sehr viel Geld verdienen wird), sondern eine vollkommen absurde, unlogische und gemeingefährliche Aufteilung des Verkehrsraums, in welchem der geradeausfahrende Radverkehr (oft genug auch noch unter Zwang) rechts von Rechtsabbiegern geführt wird. Man nennt diese Todesfallen gemeinhin auch “Radwege”.
Leider wird dieser wesentliche Punkt vom Autor nicht hinterfragt. Er spricht sich in diesem Beitrag leider auch nicht dafür aus, die (von vielen Behörden oftmals klar rechtswidrig angeordnete) Radwegbenutzungspflicht allgemein abzuschaffen, damit man eben nicht auch noch (rechtlich) gezwungen ist, rechts von Rechtsabbiegern zu radeln.
Mir sind bislang auch keine Studien bekannt, die die Zuverlässigkeit dieser Assistenz-Systeme gerade im großstädtischen Alltag überhaupt belegen. Ich sehe hier vielmehr die Gefahr, dass dies zu einer weiter zunehmenden Nachlässigkeit der Fahrer führen wird. Außerdem halte ich es generell für eine gefährliche Entwicklung, jegliche menschliche Verantwortung auf die Technik abzuschieben. Ich gehe stark davon aus, dass die Hersteller hierfür auch keine Haftung übernehmen werden.
Die Zustände und Arbeitsbedingungen in Transportgewerbe gehörten dbzgl. vielleicht auch einmal hinterfragt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die statistischen Auswertungen von Thomas Schlüter empfehlen.
https://radunfaelle.wordpress.com/
Vielen Dank. Alles richtige Punkte – die Verteilung des Verkehrsraums ist ein Punkt, dem wir uns alle im Zuge der Verkehrswende noch viel mehr widmen müssen und widmen werden. Mein Beitrag soll – nur – aufzeigen, dass mehr Sicherheit für Radfahrer heute schon auf diesem Wege geschaffen werden kann und die Untätigkeit des BMVI kaum noch gerechtfertigt sein kann. Dass auch andere Ausreden, weshalb man Radfahrern nicht mehr Platz geben kann, nicht ziehen, da gehe ich vollkommen mit.
Nur: Im Rahmen eines Blogbeitrags, der vor allem das komplexe Typgenehmigungsrecht beleuchten soll, passen allgemeine Überlegungen zur Aufteilung des Verkehrsraums und zur Anordnung der Radwegbenutzungspflicht nicht mehr rein. Noch weniger Abhandlungen über die Arbeitsbedingungen.
Sie gehen von einem toten Winkel aus, teilen also die z. B. vom ADFC vertretene Auffassung, dass es diesen nicht gibt, falls ein LKW nach StVZO ausgestattet und die Spiegel korrekt justiert sind, nicht?