24 October 2013

Transnationales Staatshaftungsrecht? Kundus vor Gericht

Nächste Woche beginnt vor dem Landgericht Bonn die Beweisaufnahme in der Verhandlung über die Schadensersatzklagen der Opfer des Kundus-Angriffs. Nur wenige Wochen zuvor hat das Bundesverfassungsgericht seine Kammerentscheidung zu den Verfassungsbeschwerden der Opfer der Bombardierung der Brücke von Varvarin im Kosovo-Krieg veröffentlicht. Zwar hat die Erste Kammer des Zweiten Senats die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, aber sie hat doch einige entscheidende Hinweise zur Kontur eines transnationalen Staatshaftungsrechts gegeben. Vor dem Landgericht Bonn wird sich zeigen, wie die Zivilgerichte dies aufnehmen werden.

Beweisaufnahme: Bildaufnahmen und Tonbänder

Mehr als vier Jahre ist es nun her, dass die Bundeswehr in Kundus am Abwurf von zwei 500-Pfund-Bomben auf von Taliban entführte Tanklaster beteiligt war. Durch den Einsatz, den Oberst Klein am 04. September 2009 befohlen hatte, starben mehr als 100 Menschen. Seither beschäftigt das Kundus-Bombardement die deutsche Justiz. Während die staatsanwaltlichen Ermittlungen schon 2010 durch den Generalbundesanwalt eingestellt worden sind und über die hiergegen anhängige Verfassungsbeschwerde durch das BVerfG noch nicht entschieden wurde, kommt mittlerweile Bewegung in die zivilgerichtlichen Verfahren. Am 30. Oktober 2013 wird vor dem LG Bonn eine erste Beweisaufnahme stattfinden.

Das LG hatte bereits im März 2013 in Sachen Kundus verhandelt und sich mit den Einwänden der Bundesregierung beschäftigt: Die deutsche Gerichtsbarkeit sei nicht zuständig, die beklagte Bundesrepublik nicht passivlegitimiert, im bewaffneten Konflikt sei die Anwendung des Amtshaftungsrechts sowieso ausgeschlossen und eine drittschützende Norm nicht verletzt.

In einem bemerkenswerten Hinweisbeschluss aus dem April 2013 hat das LG diese Einwände zurückgewiesen: (1) Die deutsche Gerichtsbarkeit sei zuständig. (2) Die Passivlegitimation der Bundesrepublik scheitere nicht daran, dass es sich um einen NATO-Einsatz gehandelt habe. Denn  durch die Einbindung in NATO-Kommandostrukturen entfalle die Haftung der Anstellungskörperschaft nicht. (3) Die Anwendbarkeit des Amtshaftungsrechtes und das Bestehen von Individualansprüchen seien nicht deswegen ausgeschlossen, weil in Afghanistan ein (internationalisierter) nicht-internationaler bewaffneter Konflikt stattfinde. (4) Als möglicherweise verletzte drittschützende Amtspflichten kämen die Bestimmungen der Genfer Konventionen und der dazugehörigen Zusatzprotokolle I und II in Betracht, insbesondere Art. 13 des ZP I sowie die Art. 51 und Art. 57 des ZP II, da diese dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen.

Konsequenterweise hat das Gericht in einem Beweisbeschluss der Beklagten aufgegeben, sämtliche Bildaufnahmen, die durch Kampfjetpiloten in der Nacht des Einsatzes hergestellt und Oberst Klein zur Kenntnis gebracht worden waren, vorzulegen. Das gleiche gilt für Tonbandaufnahmen von Gesprächen, die in der fraglichen Nacht zwischen den Kampfjetpiloten und dem Fliegerleitoffizier des Provincial Reconstruction Team über den Waffeneinsatz geführt wurden.

Sorgfältige Prüfung

Das LG Bonn ist offenbar gewillt, die Umstände der militärischen Entscheidung von Oberst Klein nachzuzeichnen und einer rechtlichen Prüfung zu unterziehen. Es darf sich in seiner Prozesslinie durch den Varvarin-Beschluss des BVerfG bestätigt sehen. Das BVerfG hat zwar die Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und die zentrale Frage, ob das Amtshaftungsrecht im bewaffneten Konflikt anwendbar ist, offen gelassen. Es hat aber gleichwohl einige folgenreiche Bemerkungen im Hinblick auf die gerichtliche Überprüfung militärischer Entscheidungen gemacht, die rechtslogisch das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs voraussetzen dürften.

So hat das BVerfG die Fachgerichte dafür kritisiert, dass sie der Bundesregierung gerichtlich nicht überprüfbare Beurteilungsspielräume bei der Auswahl militärischer Ziele eingeräumt hatten. Die Zubilligung eines nicht justiziablen Beurteilungsspielraums zugunsten der Bundesregierung sei verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen:

„Die Erstellung von Ziellisten (…) sind keine politischen Entscheidungen, die einer gerichtlichen Kontrolle von vornherein entzogen wären (…). Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Rechtsprechung durch die Klärung dieser Rechtsfrage an ihre Funktionsgrenzen stoßen würde. Die hier in Rede stehenden völkerrechtlichen Regelungen verwenden zwar unbestimmte Rechtsbegriffe zur Beschreibung dessen, was ein legitimes militärisches Ziel sein kann; deren Auslegung und Anwendung ist aber in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht anhand objektiver Kriterien durchaus überprüfbar.“

Indem die Fachgerichte im Wesentlichen auf das außen- und verteidigungspolitische Ermessen der Bundesregierung abgestellt hätten, seien sie von einem verfassungsrechtlich unhaltbaren Prüfungsmaßstab ausgegangen (BVerfG, a.a.O., Rdn. 55).

Zudem hat das BVerfG den Rahmen der Beweislastverteilung, den die Zivilgerichte angewandt haben, korrigiert. Es sei verfassungswidrig,  dass eine sachgerechte Modifizierung und Einschränkung der Darlegungs- und Beweislast, die gegebenenfalls bis zu einer Beweislastumkehr führe, nicht in Betracht gezogen worden ist. Das sei nämlich gerade dann geboten, wenn wie bei militärischen Kausalverläufen „ein von einem Amtspflichtverstoß Betroffener außerhalb des von ihm darzulegenden Geschehensablaufs stehe und daher zu Interna der Verwaltung keinen Zugang habe und haben könne“ (BVerfG, a.a.O., Rdn. 64).

Das BVerfG hat damit vorstrukturiert, wie es sich die rechtsstaatliche Aufarbeitung militärischer Entscheidungen zukünftig vorstellt. Das wird auch den weiteren Verlauf der Prozesse zum Kundus-Bombardement prägen. Die Bundesregierung wird sich nicht darauf zurückziehen können, dass Oberst Klein eine militärische Einschätzungsprärogative zuzugestehen sei. Ihr wird die Beweislast dafür obliegen, dass beim Einsatz keine Sorgfaltspflichten verletzt wurden. Das ist keine geringe Hürde, zumal es Anzeichen dafür gibt, dass in den Rules of Engagement statuierte Sorgfaltsanforderungen unbeachtet geblieben sind, wie nicht zuletzt im Untersuchungsbericht des Deutschen Bundestages zu Kundus deutlich wurde (BT-Drs. 17/7400, S. 145 ff.).

Haftungsrahmen im Ausland

Gleichwohl hat der Varvarin-Beschluss grundlegende Fragen des transnationalen Staatshaftungsrechts leider nur gestreift. Das betrifft das Ob und Wie eines genuin völkerrechtlichen Individualanspruchs, die systematische Integration der Entscheidungen des EGMR in das deutsche Staatshaftungsrecht, aber auch den Umgang mit den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutzpflichten:

Zwar hat das BVerfG der Behauptung, es gebe einen individuellen Schadensersatzanspruch aus Völkergewohnheitsrecht, eine deutliche Absage erteilt. Aber die Kammer hat ihre apodiktische Feststellung nicht in das Netzwerk internationaler Entscheidungen eingebettet und sich beispielsweise nicht mit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zum israelischen Mauerbau auseinandergesetzt, obschon darin für den bewaffneten Konflikt eine völkerrechtliche Verpflichtung des Schädigerstaates gegenüber den Opfern anerkannt wird, „to compensate, in accordance with the applicable rules of international law, all natural or legal persons having suffered any form of material damage“ (IGH, Construction of a Wall, Rdn. 153). Auch eine Stellungnahme zu den „Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von groben Verletzungen der internationalen Menschenrechts­normen und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auf Rechtsschutz und Wiedergutmachung“, mit denen die UN-Generalversammlung 2006 den Stand des Völkerkompensationsrecht systematisiert hat (UN GA, A/RES/60/147), unterbleibt. Das BVerfG hat sich mit widerstrebenden Gesichtspunkten darum nicht auseinander gesetzt, sondern sie einfach ignoriert.

Das gilt auch für die Rechtsprechung des EGMR, der im Al Skeini-Urteil umfassende Haftungspflichten und im Isayeva-Urteil detaillierte Untersuchungspflichten – die im Fall des Kundus-Einsatzes wohl unbeachtet geblieben sind – für Einsätze im Rahmen bewaffneter Konflikte hergeleitet hatte. All dies bleibt im Nichtannahmebeschluss unerwähnt, der damit die Berücksichtigungspflichten, die das BVerfG für die Entscheidungen völkerrechtlich instaurierter Gerichtsinstanzen in Görgülü und LaGrand/Avena immerhin selbst entwickelt hat, in einem Feld unangewendet lässt, das wie kaum ein anderes auf die Entwicklung transnationaler Standards drängt.

Schließlich irritiert die Nonchalance, mit der das BVerfG das Vorbringen der Beklagten im Varvarin-Fall akzeptiert hat, dass die Bundesregierung wegen der in der NATO praktizierten „‘need-to-know-Regel‘, nach der es militärischer Praxis bei NATO-Operationen entspricht, dass nur die unmittelbar mit der Operation befassten Streitkräfte die für den Einsatz notwendigen Informationen erhalten“ (BVerfG, a.a.O., Rdn. 66), keine Hinweise darüber habe, wer die Verantwortung für die Fehler beim Bombardement auf die Brücke trage. Der Varvarin-Beschluss nimmt unhinterfragt die Behauptung der Bundesregierung hin, dass sie in Bezug auf den Luftschlag nur über Informationen zu ihrem eigenen Beitrag verfüge und dass sie weder wissen könne noch müsse, welchem Bündnismitglied in dieser Militäroperation der Fehler zuzurechnen sei. Das kommt im Ergebnis einer höchstrichterlichen Einladung zur Vogel-Strauß-Exkulpation gleich. Mit den grundrechtlichen Schutzpflichten, aber auch mit der völkerrechtlichen Schutzverantwortung, wie sie beispielsweise in der Erklärung der UN-Generalversammlung anlässlich des World Summits 2005 zum Ausdruck kommt, wird man dies wohl kaum in Einklang bringen können.

Verantwortung der Fachgerichte

Das BVerfG hat im Varvarin-Beschluss leider die Möglichkeit verpasst, den Rahmen des transnationalen Staatshaftungsrechtes angemessen zu konkretisieren. Damit obliegt es nun den Fachgerichten, die rechtsstaatliche Bindung der Bundeswehr auch bei Auslandseinsätzen durchzusetzen. Es gibt dem LG Bonn aber auch Gelegenheit Rechtsgeschichte zu schreiben: durch das erste Urteil eines Zivilgerichts der Bundesrepublik, das den Opfern deutscher Militärgewalt im Ausland Schadensersatzansprüche zuerkennt.


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