TWAIL 3.0: Indien, die Juristerei als Wissenschaft und das internationale Recht
Leider verschoben werden musste neulich der Berlinbesuch des Völkerrechtlers Antony Anghie, der nun voraussichtlich im Herbst 2012 bei Rechtskulturen über die von ihm vertretenen “Third World Approaches to International Law” (TWAIL) sprechen wird. Diskutiert haben wir darüber trotzdem jetzt schon mal. In einem spannenden kleinen Roundtable Seminar mit Anne Orford, die auch die Rechtskulturen Lecture in diesem Semester hielt, stellte sich anläßlich einer Präsentation der Berliner Juristin und Islamwissenschaftlerin Nahed Samour die Frage, ob gegenwärtig womöglich in verschiedenen Rechtskulturen der (vermeintlichen) “Peripherien” die Herausbildung einer “Dritten Generation” von Völkerrechtlern und Völkerrechtlerinnen bzw. mit Begriffen des Rechts argumentierenden politischen Aktivisten beobachtet werden kann, die bestimmte Parallelen und Gemeinsamkeiten aufweist.
Grund genug, ein kleines Literaturexzerpt von 2010 aus der Schreibtischschublade mit den unveröffentlichten Textfragmenten zu fischen und auf den Debattentisch zu legen.
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Die Stellung Indiens im Völkerrecht sei von ganz eigener Art, heißt es in der von Arnold McNair verantworteten vierten Auflage des von Lassa Oppenheim begründeten klassischen Völkerrechtslehrbuchs, die 1928 in Cambridge erschien. Indiens Status sei sui generis, ist da zu lesen, „und entzieht sich jeder Klassifizierung“. Tatsächlich hatte Indien, als abhängiges Kolonialgebiet unter britischer Herrschaft, durch die Teilnahme an den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg und die Mitgliedschaft im Völkerbund eigene völkerrechtliche Handlungsfähigkeit erlangt – eine Art partielle Völkerrechtssubjektivität, die indes in den imperialen Direktiven aus Westminster schnell ihre Grenzen fand.
Bis zur Unabhängigkeit 1947 blieb es bei jener „anormalen Stellung“, die Mc Nairs Nachfolger Hersch Lauterpacht 1955 in der achten Auflage von Oppenheims „International Law“ rückblickend so skizzierte: „Indien wurde Mitglied des Völkerbundes; es wurde zur Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco eingeladen, es übte selbstständig die Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge aus. Doch solange die Kontrolle seiner internen und externen Beziehungen in letzter Instanz bei der Britischen Regierung und dem Parlament von Westminster lag, konnte Indien nicht als souveräner Staat und normales Völkerrechtssubjekt angesehen werden.“
Auf der Pariser Friedenskonferenz hatten die Briten 1919 die Repräsentation Indiens und ihrer Dominions (Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika) durch je eigene Delegationen durchgesetzt. Doch nur „Staaten, die sich selbst regieren“, sollten nach den Worten Woodrow Wilsons Mitglieder des Völkerbunds werden können. Auf das eng ins britische Empire eingebundene Indien traf diese Definition nach Wilsons Auffassung nicht zu. Der britische Delegierte Lord Robert Cecil versicherte indes, dass die britische Regierung alles tun werde, um Indien so schnell wie möglich zu einem sich selbst regierenden Territorium zu machen. Ohnehin habe sich Indien schon durch die Teilnahme an den Pariser Friedensverhandlungen qualifiziert, Gründungsmitglied des Völkerbundes werden zu können.
Am Ende setzte sich die britische Position durch, und ein indischer Fürst, der Maharadscha von Bikaner, unterzeichnete den Versailler Vertrag. Auf dem Subkontinent wurde der britische Schachzug als dreiste Camouflage kritisiert, mit der die Kolonialherren die Weltöffentlichkeit hinters Licht geführt hätten. In der Tat gewannen die Briten durch ihren diplomatischen Coup erhebliches zusätzliches Gewicht im Palais des Nations. Im amerikanischen Kongress stieß die Mitgliedschaft Indiens und der anderen britischen Territorien im Völkerbund daher auf scharfen Widerstand. Damit hätten sich die Briten vier zusätzliche Stimmen in der Völkerbundversammlung verschafft – die Inder aber blieben eine stumme Masse. Unter Berufung auf das von Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht drängten Vertreter der indischen Unabhängigkeitsbewegung die amerikanische Öffentlichkeit zur Ablehnung des Versailler Vertrags.
Für die meisten Inder blieb der Völkerbund nicht mehr als ein Werkzeug des Imperialismus. Wilsons Autonomieversprechen, das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker, erlangte außerhalb Europas keine Geltung. Der Völkerbund habe sich, schrieb Jawaharlal Nehru 1942, auf die ewige Vorherrschaft der Kolonialmächte über ihre Imperien eingestellt. Und das Scheitern der Friedensbemühungen des Völkerbundes setzte die Inder nur einmal mehr der Forderung aus, für die Kolonialmacht in einen Weltkrieg zu ziehen.
Angesichts dieser Erfahrungen überrascht es nicht, dass die Vorbereitungen zur Errichtung einer neuen Weltorganisation in der indischen Öffentlichkeit weder Hoffnung noch Enthusiasmus weckten. Als 1945 in San Francisco die Gründungskonferenz der Vereinten Nationen zusammentrat, dominierten ohnehin Fragen des postkolonialen Machtübergangs und einer bevorstehenden Teilung des Subkontinents die politische Diskussion im Land. Die Vertretung Indiens durch von den britischen Imperialisten bestimmte Delegierte sei weit schlimmer als gar keine, schrieb Mahatma Gandhi, der prominenteste Führer der Unabhängigkeitsbewegung. Auf Kritik stieß auch die Sonderstellung der „Big Five“, der fünf ständigen Mitglieder des neuen UN-Sicherheitsrates. Besonders unverständlich war vielen Indern, warum China und Frankreich hier eine Sonderrolle haben sollten, während sie auf das eigene Land auf der internationalen Bühne vor allem Erwartungen und Verpflichtungen zukommen sahen.
Es ist eine Geschichte der Enttäuschungen, die Geschichte des Eintritts Indiens in die Welt des internationalen Rechts und seiner Institutionen, die der 2011 verstorbene Völkerrechtler Ram Prakash Anand, Emeritus der Jawaharlal Nehru-Universität in Delhi, in einem Indien gewidmeten Themenheft des „Leiden Journal of International Law“ erzählt („The Formation of International Organizations and India: A Historical Study“, in: 23 Leiden Journal of International Law [2010], Heft 1).
Doch trotz des holprigen Einstiegs brachte das Land nach seiner Unabhängigkeit eine Generation von Völkerrechtlern hervor, die – wie R. P. Anand – im Westen die Sprache des internationalen Rechts erlernten und dessen Transformation vom kolonialen Völkerrecht zum globalen Kooperationsrecht voranzutreiben suchten. Dabei trat neben die engagierte Kritik an den imperialen Imprägnierungen der vorhandenen Strukturen und Institutionen deren Indienstnahme für die Völker der „Dritten Welt“.
In einer ideengeschichtlichen Skizze der indischen Völkerrechtswissenschaft zeichnet Bhupinder Chimni, selbst Vertreter einer von den amerikanischen „critical legal studies“ geprägten (und diese prägenden) „zweiten Generation“, im selben Themenheft die regionale Geschichte seiner Disziplin zwischen Fortschrittsnarrativen und Enttäuschungserfahrungen nach („International Law Scholarship in Postcolonial India: Coping with Dualism“). Während die indische Völkerrechtswissenschaft in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit versucht hatte, Konzepte und Traditionen des modernen Völkerrechts europäischer Prägung in den eigenen Traditionen des Subkontinents „wiederzufinden“ und von dort her affirmativ zu begründen, opponieren seit Anfang der Neunziger Jahre Gelehrte wie Bhupinder Chimni, Upendra Baxi und Balakrishnan Rajagopal gegen die Dominanz kolonial gefärbten westlichen Denkens.
Nicht Apologeten einer als repressiv verstandenen Ordnung wollen sie sein, sondern Protagonisten politischer und ökonomischer Emanzipation. Ihre Kritik richtet sich gegen die globale Wirtschaftsordnung und ihre Institutionen, vor allem die Weltbank, den Weltwährungsfonds und die WTO, die sie als Interessenvertretungen der führenden Industrienationen ansehen. Ein sich in Ansätzen abzeichnendes „Völkerrecht von unten“ soll im Zusammenspiel mit neuen sozialen Bewegungen den Interessen gesellschaftlich benachteiligter Gruppen zugutekommen.
Eingebunden in ein Netzwerk kritischer Völkerrechtswissenschaftler aus Ländern der „Dritten Welt“, tragen die indischen Skeptiker als „Stimmen der Peripherie“ zu einer Entzauberung der Disziplin bei, die die dunklen Spuren des Kolonialismus aufdeckt und vermeintlich universale Grundsätze als Ausdruck partikularer Interessen entlarvt. Mit Ausnahme Chimnis forschen und lehren sie an den Universitäten der „Ersten Welt“.
In der indischen Juristenausbildung hingegen fehle es an wissenschaftlichem Tiefgang, klagt der junge Rechtswissenschaftler Prabhakar Singh, nach einer Station an der unlängst gegründeten Jindal Global Law School in Sonipat inzwischen an der National University of Singapore (NUS), der eine „dritte Generation“ indischer Völkerrechtler repräsentiert („Indian International Law: From a Colonized Apologist to a Subaltern Protagonist“). Mit der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Indiens, nicht nur in der Region, sind neben den klassischen Fakultäten zahlreiche neue Law Schools entstanden. Doch hier wie dort sei es um die Gelehrsamkeit und die Einbindung in den globalen wissenschaftlichen Diskurs schlecht bestellt, anders als beim aufstrebenden asiatischen Nachbarn: schon im dritten Erscheinungsjahr sei beispielsweise das „Chinese Journal of International Law“ von Oxford University Press übernommen worden, dieweil einschlägige indische Publikationen offenbar seit Jahrzehnten keinen weltweit führenden Verlag begeistern könnten.
Prabhakar Singh fordert darum eine akademische Neuausrichtung des Rechts, eine veritable Rechtswissenschaft, die sich dem interdisziplinären Gespräch öffnet und über nationale Begrenzungen schaut. Nur so sei es möglich, auch aus den Quellen der eigenen regionalen Traditionen zu schöpfen und diese für einen neuen Zugriff auf die Strukturen und Institutionen der globalen Rechtsordnung fruchtbar zu machen.
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Foto: United Nations Foto, flickr, Creative Commons Licence
The San Francisco Conference, 25 April – 26 June 1945
Indian reporter at the Indian press conference of Firoz Khan Noon, Defense Member of the Governor General’s Executive Council for India.