30 September 2014

Über die Toten nur Gutes? GROSS v. SCHWEIZ endet im Eklat

Verfassungsgerichte, das bringt ihr Job nun mal mit sich, werden manchmal zum Opfer elaborierter Intrigen. Die Vertreter bestimmter politischer Interessen, ob das nun Wirtschaftsverbände oder Menschenrechtsaktivisten sind, wollen das Gericht dazu bringen, die Rechtslage in ihrem Sinne zu verändern, und dazu suchen sie sich gezielt einen ganz bestimmten Fall. Und wenn sie keinen finden, bauen sie sich einen.

Dass die Justiz auf diese Weise politisch instrumentalisiert wird, ist weder selten noch neu. Die Entkriminalisierung und Entstigmatisierung von Homosexualität in den USA verdanken wir genau solchen Fällen, von Lawrence v. Texas bis US v. WindsorAuch das Europarecht ist zu einem nicht geringen Teil durch Fälle geprägt, die gezielt vor Gericht gebracht, wenn nicht sogar von vornherein inszeniert wurden, damit am Ende ein Urteil mit einer entsprechenden Prägewirkung herauskommt, z.B. Defrenne (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) oder das berüchtigte Mangold-Urteil (Altersdiskriminierung).

Die Legalisierung eines selbstbestimmten Todes ist ein Thema, das eine Menge politischen Aktivismus mobilisiert. Und so ist es vielleicht kein Wunder, dass der EGMR sich in einem seiner High-Profile-Cases aus diesem Feld, Gross v. Schweiz, in einem Strategic-Litigation-Netz gefangen sieht, aus dem er sich offenbar nur gewaltsam befreien zu können glaubt.

Was war geschehen? Eine Schweizerin namens Alda Gross hatte die Schweiz verklagt, weil diese es ihr unmöglich machte, legal an das Gift Pentobarbital-Natrium heranzukommen. Das brauchte sie, um ihrem Leben ein Ende zu machen. Das Spezielle an ihrem Fall war, dass sie weder krank war noch sonst an irgendwelchen unzumutbaren Lebensumständen litt, sondern einfach nur alt und gebrechlich und nicht mehr leben wollte. Das Schweizer Bundesgericht wies 2010 ihre Klage letztinstanzlich ab, und so zog sie vor den EGMR.

Der fällte 2013 eine Kammerentscheidung, die mit knapper Mehrheit eine Verletzung des Rechts auf Privatleben (Art. 8 EMRK) feststellte. Doch dann ging die Schweiz in die zweite Instanz, und so warten wir bis heute auf eine Klärung aus Straßburg.

Da können wir wohl noch lange warten. Die Große Kammer hat heute die Klage für missbräuchlich und damit unzulässig erklärt. Was nämlich in Straßburg niemand wusste: Alda Gross war schon längst nicht mehr am Leben. Ein Jahr, nachdem die Klage eingereicht war, hatte sie ihr Gift erhalten und mit Hilfe der Sterbehilfeorganisation EXIT ihrem Leben ein Ende gesetzt.

Das bekam das Gericht nur mit, weil die Schweizer Regierung sich anlässlich der Verweisung an die Große Kammer nach dem Verbleib von Frau Gross erkundigt hatte. Ihr Anwalt behauptete, er habe keine Ahnung gehabt vom Ableben seiner Mandantin, da er mit ihr nie in Kontakt gestanden sei. Alles sei über einen Mittelsmann gelaufen, den Seelsorger der Frau Gross, der sich seinerseits auf das Beichtgeheimnis berief.

Das alles macht die Richtermehrheit nun spürbar sauer. Der Anwalt wird dafür gescholten, dass er sich auf ein Arrangement eingelassen hat, in dem er nur indirekt mit seiner Mandantin kommuniziert. Vor allem aber gilt der Zorn der Richtermehrheit Frau Gross: Sie habe “spezielle Vorkehrungen” getroffen, damit die Nachricht von ihrem Tod ihren Anwalt und damit das Gericht nicht erreicht, auf dass das Verfahren fortgeführt werde. Ihr Motiv, dass damit wenn schon nicht ihr selbst, so doch zumindest anderen in gleicher Situation geholfen werde, würdigt das Gericht schmallippig als “verständlich aus der Perspektive der Klägerin in ihrer Ausnahmesituation”, was aber nichts daran ändert, dass sich das Gericht, auf deutsch, veralbert fühlt.

Ob und wer außer Frau Gross und ihrem Seelsorger da womöglich sonst noch dahintersteckt, dazu enthält die Entscheidung nichts. Hätte ich die Ressourcen des New Yorker, ich würde eine Reporter_in losschicken und das gründlich ausrecherchieren lassen. Habe ich aber nicht, und so könnte ich hier nur spekulieren, und das lasse ich lieber.

Der Zorn darüber, an der Nase herumgeführt worden zu sein, hat indessen seinen Preis. Darauf machen die Minderheitsvoten aufmerksam.

Tatsächlich ist eine knappe Mehrheit gar nicht einverstanden damit, Frau Gross zu unterstellen, sie habe das Gericht bewusst täuschen wollen. Neun der siebzehn Kammermitglieder weisen darauf hin, dass niemand weiß, aus welchen Motiven Frau Gross gehandelt hat. Das Ergebnis, ihre Klage als unzulässig abzuweisen, kommt überhaupt nur deshalb zu einer hauchdünnen Mehrheit, weil einer dieser neun, der Niederländer Johannes Silvis, findet, man hätte besser die Schwelle der Unzulässigkeit niedriger angelegt, als sich auf ein solch spekulatives Urteil über die subjektiven Motive der Klägerin einzulassen.

Acht weitere Richter_innen, darunter Gerichtspräsident Dean Spielmann und die Schweizer Richterin Helen Keller, sind auch mit dem Ergebnis ihrer neun Kammerkolleg_innen nicht einverstanden. Die Versäumnisse ihrer Vertreter könne man Frau Gross nicht anlasten. Die Entscheidung stigmatisiere ihr Andenken, ohne dass man noch ihre Seite der Geschichte anhören könne. Die Keule des Rechtsmissbrauchs sollte nur geschwungen werden, um sie auf den Kopf der wirklich bösen Buben niedergehen zu lassen, die die knappen Ressourcen des Gerichtshofs mit unnötigen und herbeimanipulierten Verfahren verschwenden. Wovon hier keine Rede sein könne: Das Menschenrechtsproblem Sterbehilfe in der Schweiz sei und bleibe real und dringlich, und hierzu ein klärendes Wort aus Straßburg zu sprechen, sei alles andere als eine Verschwendung von Kapazitäten.

Ich muss sagen, mir leuchtet die Position des Minderheitsvotum ein. Niemand wird gerne manipuliert, und natürlich hätte der Gerichtshof erfahren müssen, dass die Klägerin nicht mehr lebt. Aber darauf so zu reagieren wie die Kammermehrheit, finde ich nicht nur unsouverän, sondern wird auch der Rolle des Gerichtshofs nicht gerecht: Der EGMR ist ein politisches, ein Verfassungsgericht. Er schlichtet nicht nur Streitigkeiten inter partes, sondern gestaltet die Verfassungswirklichkeit in Europa mit.

Wenn das so ist, warum sollen dann nicht auch die Verfahrensbeteiligten das Verfahren als Möglichkeit betreiben, die Verfassungswirklichkeit in Europa zu verändern? Dass Lawrence v. Texas ein inszenierter Fall war, nimmt dem Urteil des US Supreme Courts nichts von seiner Größe. Sich dagegen zu wehren, dass man Texas Männern Gefängnis androht, wenn sie Sex miteinander zu haben, wird nicht dadurch zu einer Frivolität, dass man die Strafverfolgung gezielt herbeigeführt hat, um diesen Skandal endlich vor Gericht bringen zu können.

Den Rahmen dessen, was ein Gericht mit sich machen lassen muss, gibt die jeweilige Prozessordnung vor. Solange sich alle daran halten, sollte es keine Rolle spielen, ob die Klage politisch und strategisch motiviert ist oder nicht.

 


One Comment

  1. Peter Müller Wed 1 Oct 2014 at 17:10 - Reply

    Da bleibt für Alda Gross wohl nur noch der Gang zum Jüngsten Gericht. Sie sollte sich das vom EGMR nicht bieten lassen!

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