18 September 2020

Ãœber Hass schreiben

Cancel Culture zwischen Meinungsfreiheit und Gleichheitsrecht

Ein feministisches Buch und der Versuch eines Regierungsmitarbeiters, dessen Verbreitung zu unterbinden, erregen die Gemüter in Frankreich. Die Rede ist von Misandrie (Männerhass) einerseits und Zensur andererseits. Der Beitrag erläutert die Geschehnisse und fragt, welche Lehren daraus für die Cancel Culture-Debatte (auch) in Deutschland zu ziehen sind.

Misandrie und Zensur

„Moi les hommes, je les déteste“ (Ich hasse Männer), so lautet der Titel eines 96-seitigen Essays, den die französische Bloggerin Pauline Harmange am 19. August im Mikroverlag Monstrograph veröffentlicht hat. Gedruckt werden sollten 400 Exemplare. In der inhaltlichen Zusammenfassung heißt es:

Was, wenn Frauen guten Grund haben, Männer zu hassen? Was wäre, wenn die Wut auf Männer tatsächlich ein freudiger und emanzipatorischer Weg wäre, wenn sie sich ausdrücken dürfte? In diesem kurzen Essay verteidigt Pauline Harmange die Misandrie als eine Möglichkeit, Platz für die Schwesternschaft und fürsorgliche und fordernde Beziehungen zu schaffen. Ein feministisches und ikonoklastisches Buch.

Dies sah Ralph Zurmély, ein Regierungsmitarbeiter des französischen Ministeriums für Geschlechtergleichstellung, anders: In einem Schreiben an den Verlag forderte er diesen unter Strafandrohung auf, die Verbreitung des Buches einzustellen. Im Raum stehe eine strafbare „Aufstachelung zum Hass aufgrund des Geschlechts“. Das Buch sei ausweislich des Titels und der inhaltlichen Zusammenfassung auf der Verlagshomepage eine „Ode an den Männerhass“.

Der Verlag weigerte sich, dieser Aufforderung nachzukommen, die mediale Berichterstattung über das Vorgehen des Regierungsmitarbeiters ist ganz überwiegend negativ (etwa hier) und bezeichnet ihn als Beispiel für „Cancel Culture“; der Staat habe bisher auch nicht versucht, die Veröffentlichung frauenfeindlicher Texte zu unterdrücken. Die Berichterstattung führte dazu, dass der Essay zweimal nachgedruckt werden musste, nunmehr vergriffen ist und ein größerer Verlag gesucht wird. Die Regierung dementierte Zurmélys Forderung währenddessen als „persönliche Initiative“ und „völlig unabhängig vom Ministerium“.

Was lehrt nun dieser Vorgang? Zunächst einmal, dass gute Intentionen (die der die Gleichberechtigung schützen wollende Zumély vermutlich hatte), nicht immer auch zu guten Ergebnissen führen. Dies zum einen, weil Zumély das Gegenteil von dem erreicht hat, was er erreichen wollte. Zum anderen, weil das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Gleichheitsrecht vielleicht doch etwas komplizierter ist – und sich weniger an einzelnen Worten („Hass“) orientieren sollte. Dazu sogleich mehr. Zudem regt der Vorgang dazu an, grundsätzlich über die staatliche Regulierung von Meinungen nachzudenken. Vorgeschlagen wird hier eine Trennung der Regulierung von Meinungsinhalten einerseits und Diskursspielregeln andererseits:

Keine staatliche Regulierung von Meinungsinhalten

Grundsätzlich darf es dem Staat nicht um die Regulierung von Meinungsinhalten gehen. Verbote bestimmter Inhalte schränken stets die gesellschaftliche Debatte ein. Dies mag bei einigen Themen und Thesen auf den ersten Blick nachvollziehbar und wünschenswert erscheinen. Doch beseitigen Meinungsäußerungsverbote nicht die Meinungen als solche. Jedenfalls aber werden die Mitglieder der Gesellschaft unfreier in ihrem Handeln. Mit Böckenförde: Wenn der Staat ein freiheitlicher bleiben soll, lassen sich Verfassungsvoraussetzungen nicht garantieren. Die Freiheit, die der Staat seinen Bürgern gewährt, muss sich aus der moralischen Substanz der Einzelnen regulieren.((Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 92, 112: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“)) Es ist Aufgabe der Gesellschaft, nicht des Staates, Kritik zu üben und in Auseinandersetzungen zu gehen. Gesellschaftliche Cancel Culture (etwa die Weigerung von Buchhändler*innen, ein Buch auszustellen) kann daher je nach Lage des Falles berechtigt sein. Jedenfalls ist sie selbst wiederum mögliches Diskussions- und Kritikobjekt. Die Aushandlung darüber, wie wann wo welche Meinungen präsentiert und verhandelt werden sollten, dürfte für jede Situation und jeden Kontext anders ausfallen. Sie gerät zurzeit noch häufig knapp – nicht selten besteht sie in sogenannten Online-Shitstorms einerseits und übereilten Reaktionen darauf andererseits. Die Gesellschaft lernt noch, damit umzugehen, dass deutlich mehr Menschen sich – medial – beteiligen und äußern können und dies auch zunehmend tun, insbesondere wenn mögliche Diskriminierungen im Raum stehen. Dies ist aber kein Grund zur Sorge, sondern schlicht der Beginn eines gesellschaftlichen Lernprozesses – über die Bewusstwerdung von unterschiedlichen Wahrnehmungen sowie den Umgang mit und den Austausch über diese.

Versuch der Regulierung von Spielregeln

Wenn der Diskurs also grundsätzlich der Gesellschaft selbst überlassen bleiben soll, welche Gründe für staatliche Intervention kann es dann geben? In Betracht kommt insbesondere der Schutz des Diskurses als solcher. Insbesondere mit Blick auf Diskriminierungen von Angehörigen strukturell benachteiligter Gruppen stellt sich die Frage, ob diese sich tatsächlich selbst im gesellschaftlichen Diskurs behaupten können oder ob es hier nicht doch der Einziehung staatlicher Grenzen bedarf. Frankreich scheint dies über das Verbot der Aufstachelung zum Hass aufgrund des Geschlechts zu versuchen; deutsches Pendant wäre wohl am ehesten die Volksverhetzung (§ 130 StGB).

Nachdem die Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zentral und prägend war für die inhaltlich offene Debattenkultur, bedarf es womöglich – insbesondere auch seit dem Aufkommen des Phänomens digitaler Gewalt – einer Debatte um die Form, also die Spielregeln des Meinungsdiskurses. Ziel wäre die Debattenkultur als solche und damit – aus demokratietheoretischer Sicht – die gesellschaftliche Deliberation((Habermas, Faktizität und Geltung, 1992.)) zu erhalten. Zwar ist Skepsis gegenüber der rechtlichen Regulierung der Gesellschaft grundsätzlich angezeigt. Allerdings trennt auch der bereits zitierte Böckenförde die zu unterbleibende „staatliche Einflussnahme“ von der erlaubten „Gewährleistung der Rahmenordnung“: Der Staat trage Verantwortung „für die Erhaltung gesellschaftlicher Freiheit“, wozu „in einem gewissen Umfang auch die Garantie der sozialen Voraussetzungen zur Realisierung der Freiheit“ gehöre.((Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 209, 232, Hervorh. i. Orig.))

Wo die Grenze zwischen der Gewährleistung der Rahmenordnung und der zu unterlassenden staatlichen Einflussnahme liegt, ist freilich stets neu auszuloten. Ab wann bedarf es des Schutzes der Voraussetzungen und Bedingungen der Demokratie – nicht als staatliche Steuerung, sondern als Gefahrenabwehr und Risikovorsorge? Lassen sich Meinungsinhalte (die nicht verboten werden dürfen) trennen von demokratischen Spielregeln?

Der deutsche Volksverhetzungsparagraph stellt entscheidend auf den Schutz des öffentlichen Friedens ab. Dieser soll bedroht sein, wenn zu befürchten ist, dass in bestimmten Bevölkerungsgruppen das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit durch eine Äußerung erschüttert werde. Einer Äußerung, die einen Angriff auf die Menschenwürde bedeutet, kommt dabei zwar in der Regel Friedensstörungseignung zu.((BeckOK StGB/Rackow, 47. Ed. 1.8.2020, StGB § 130 Rn. 22.)) Diese soll aber jeweils abhängen von den aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: In Zeiten rechter Hetze sollen etwa insbesondere Äußerungen gegen jüdische Menschen oder Migrant*innen eher zur Friedensstörung geeignet sein als Angriffe gegen andere Gruppen.((BeckOK StGB/Rackow, 47. Ed. 1.8.2020, StGB § 130 Rn. 23.)) Dies trifft einen wichtigen Punkt: Es geht eben nicht um die bloße Herabwürdigung von Angehörigen jeglicher beliebiger Gruppen. Entscheidend ist, ob deren Stellung innerhalb der Gesellschaft – und damit auch innerhalb des demokratischen Diskurses – bedroht ist.

Mehr als allein den Blick auf individuelle Menschenwürde- oder Persönlichkeitsrechtsverletzungen bedarf es, wenn es um die staatliche Regulierung der Diskursspielregeln geht, eines intersubjektiven Verständnisses, das die Eingebundenheit von Individuen in soziale Strukturen ernstnimmt. Einzubeziehen sind die Auswirkungen auf den demokratischen Diskurs als solchen, wobei die Verbindung zwischen der Demokratie und den Kommunikationsgrundrechten stets eng gedacht werden muss. Dazu gehört insbesondere auch die bisher weitestgehend unterbliebene Einbeziehung des Gleichheitsrechts, insbesondere der Herabwürdigung aufgrund von Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 S. 1, 2 GG.((Ähnlich, wenn auch stark auf „ethnisch-religiöse“ Gruppenzugehörigkeit bezogen Magen, VVDStRL 77 (2018), 67.))

Die Untersagung der Verbreitung eines Buches über Männerhass ist nach diesen Einschränkungen absurd. Männer (als solche – dies mag sich für jüdische, muslimische und/oder Schwarze Männer freilich ganz anders darstellen) sind bisher weder in Frankreich noch sonst irgendwo alles andere als eingeschränkt in ihrer gesellschaftlichen Stellung und der Teilhabe am Diskurs; anders als etwa Frauen, die sich aufgrund von sexistischen Beleidigungen und der Androhung körperlicher Übergriffe mittlerweile verstärkt aus medialen Diskussionen zurückziehen (siehe dazu etwa hier, hier und hier). In Frankreich hing sich der Regierungsmitarbeiter nun an dem Wort „Hass“ auf und wollte es gerade der Angehörigen einer Gruppe strukturell benachteiligter Menschen versagen, über ihre Enttäuschung und Erschöpfung und mögliche Wege daraus – auch – mit drastischen Worten zu schreiben: Nämlich über einen stärkeren Fokus auf Frauen und darüber, sich nicht verpflichtet zu fühlen, mit Männern zu verkehren oder sich für sie zu kompromittieren. Ein rein formales, kontextloses Diskriminierungsverständnis wird der Realität ganz offensichtlich nicht gerecht. In den Worten von Pauline Harmange: „On ne peut pas comparer misandrie et misogynie, tout simplement parce que la première n’existe qu’en réaction à la seconde.“ (Misandrie und Misogynie sind nicht zu vergleichen, weil Ersteres nur als Reaktion auf Letzteres existiert.).

Streit und Staat

Es ist Aufgabe der Gesellschaft zu streiten über beleidigende, verletzende, diskriminierende Äußerungen. Der Staat darf sich in diesen Diskurs grundsätzlich nicht einmischen. Er kann – und muss – es jedoch dann, wenn der Diskurs sich in einem Ungleichgewicht befindet. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Menschen (vor allem aufgrund tatsächlicher oder angenommener Gruppenzugehörigkeit) derart herabgewürdigt werden, dass ihre Stellung innerhalb des Diskurses und der Gesellschaft in Frage steht und sie kein gleichwertiger Teil des Diskurses mehr sind oder sein können.


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