20 March 2015

Über Kopftücher, Segelanweisungen und das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort und vor dem falschen Senat zu sein

Zur falschen Zeit (2003), am falschen Ort (Baden-Württemberg) und – darf man nach der Aufhebung des pauschalen Kopftuchverbots durch den Ersten Senat des BVerfG sagen – im falschen Senat (Zweiter Senat): Das mag sich Fereshta Ludin zu ihrem Kopftuchverfahren vielleicht gedacht haben. Damals war es ihr nicht gelungen, durchzusetzen, dass sie mit Kopftuch unterrichten darf; nach dem jetzigen Beschluss aus „Karlsruhe“ sieht die Sache hingegen anders aus. Die menschliche Tragik dessen ist offensichtlich; doch was liegt ihr juristisch zu Grunde?

Von der Neutralität des Staates zum Auftrag an den Gesetzgeber

Die grundrechtliche Sicht der Dinge ist, dass jede, die will, in ihrem Privatleben ein Kopftuch tragen darf. Doch gilt das auch im Staat? Das kommt darauf an, wie dieser „gebaut“ ist. Das ist die staatsorganisationsrechtliche Sicht der Dinge. Die Frage beantwortet das Prinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität.

Das Konzept der offenen und übergreifenden Neutralität

Seit 1975 verstand das BVerfG unter der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates ein Konzept der offenen Neutralität und fasste dies in die „goldenen Worte“:

„Der ‚ethische Standard‘ des Grundgesetzes ist … die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewährt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität“ (BVerfGE 41, 29 [50]).

Im Kopftuchverfahren von 2003 knüpfte das BVerfG daran an und erweiterte das Konzept zur offenen und übergreifenden Neutralität:

„Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist … nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“ (BVerfGE 108, 282 [300]).

Damit war der Fall an sich spruchreif: Frau Ludin war das Unterrichten mit Kopftuch insoweit erlaubt.

Abstrakte oder konkrete Gefahr

Zur Überraschung wohl der überwiegenden Anzahl der Kommentatoren blieb das BVerfG dabei jedoch nicht stehen, sondern verlangte mit grundrechtlicher, polizeirechtlicher, rechtsstaatlicher und demokratischer Begründung, dass ein Kopftuchverbot einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage bedarf. Von Interesse für den aktuellen Fall ist dabei die polizeirechtliche Begründung:

„Sollen bereits derartige (sc. abstrakte) bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts aufgrund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst ein konkretes Verhalten, das sich als Versuch einer Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schulkinder darstellt, als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der Eignung bewertet werden, so setzt dies, weil damit die Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einhergeht, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage voraus, die dies erlaubt. Daran fehlt es hier“ (BVerfGE 108, 282 [303]; Hervorhebungen von mir).

Stand der Dinge war also: Besteht eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden, genügt die bisherige gesetzliche Regelung für ein Kopftuchverbot; ist die Gefahr für den Schulfrieden nur abstrakt, bedarf es einer eigenen gesetzlichen Grundlage.

An der Spruchreife der Sache und dem gefundenen Zwischenergebnis änderte das zunächst jedoch nichts; es handelte sich lediglich um eine weitere Begründung für die Verfassungswidrigkeit des Kopftuchverbots.

Die „Segelanweisung“ an den Gesetzgeber

Den zur Beurteilung des jetzigen Falles entscheidenden „Spin“ bekam das Urteil von 2003 erst durch die „Segelanweisung“ an den Gesetzgeber. Er habe einen weiten Ausgestaltungsspielraum nach zwei Richtungen hin:

„Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein… Es ließen sich … Gründe dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits ist die beschriebene Entwicklung auch mit einem größeren Potenzial möglicher Konflikte in der Schule verbunden. Es mag deshalb auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden“ (BVerfGE 108, 282 [309 f.]).

Der Gesetzgeber konnte also verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich darauf vertrauen, dass er sich, kurz gesagt, sowohl für ein Kopftuchverbot als auch für eine Kopftucherlaubnis entscheiden konnte. Baden-Württemberg entschied sich anschließend für ein Verbot. Fereshta Ludin hat ihren Fall somit nicht in „Karlsruhe“, sondern in Stuttgart verloren.

Systemkonforme Einschränkung der Rechtsprechung und verfassungskonforme Einschränkung des Gesetzes

Der Haken an der Sache war jedoch, dass die „Segelanweisung“ an den Gesetzgeber in Widerspruch zu dem Konzept der offenen und übergreifenden Neutralität des Staates stand, denn wie sollte der Neutralität „eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung“ beizumessen sein, wenn Neutralität gerade „nicht als eine distanzierende“ zu verstehen ist? Dementsprechend fehlt jene distanzierende Sichtweise in der jetzigen Entscheidung und es bleibt künftig „nur“ die offene und übergreifende übrig.

„Danach sind etwa christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht ausgeschlossen; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein… Weil Bezüge zu verschiedenen Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule möglich sind, ist für sich genommen auch die bloß am äußeren Erscheinungsbild hervortretende Sichtbarkeit religiöser oder weltanschaulicher Zugehörigkeit einzelner Lehrkräfte – unabhängig davon, welche Religion oder Weltanschauung im Einzelfall betroffen ist – durch die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht ohne Weiteres ausgeschlossen“ (Rn. 111).

Das Sondervotum hat also ganz Recht, wenn es darlegt, dass sich die Senatsmehrheit von den Maßgaben und Hinweisen der früheren Kopftuchentscheidung entfernt, nur gibt es dafür gute Gründe, die seinerzeit schon zu beachten waren. (Die Frage, ob angesichts der Abweichung das Plenum des BVerfG anzurufen war, behandeln etwa Heinig, Möllers und Wrase.)

Das hat auch Folgen für die Auslegung des Kopftuchverbots und für künftige Gesetze: Es ist

„das Merkmal der Eignung, den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität zu gefährden oder zu stören, dahin einzuschränken, dass von der äußeren religiösen Bekundung nicht nur eine abstrakte, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr … ausgehen muss. Das Vorliegen der konkreten Gefahr ist zu belegen und zu begründen. Das Tragen eines islamischen Kopftuchs begründet eine hinreichend konkrete Gefahr im Regelfall nicht“ (Rn. 116; Hervorhebungen von mir).

Ob es im Falle einer konkreten Gefahr überhaupt eines eigenen Gesetzes bedarf, sei dahingestellt; immerhin reichte nach der früheren Entscheidung eine Regelung wie die baden-württembergische aus, die lediglich Eignungskriterien für Ernennungen aufstellte. Jedenfalls lautet die entsprechende Norm des Schulgesetzes Nordrhein-Westfalen (§ 57 Abs. 4 Satz 1) nach der verfassungskonformen Auslegung des BVerfG jetzt wie folgt:

„Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden hinreichend konkret zu gefährden oder zu stören“ (Hervorhebungen von mir).

Nach den Modifikationen, die das BVerfG an seiner Rechtsprechung und den Anforderungen für ein Kopftuchverbot vorgenommen hat, dürfte Fereshta Ludin somit jetzt mit Kopftuch unterrichten.

Folgefragen

Sind damit alle Fragen zum Kopftuch in der Schule beantwortet? Keineswegs! Zwei besonders wichtig erscheinende sollen zumindest angesprochen werden.

Hinreichend konkrete Gefahr

Die erste Frage, die sich nun stellt, ist, wann eine hinreichend konkrete Gefahr besteht. Die Begrenzungslinien des Gerichts hierzu sind:

Nach der einen Seite hin reicht das Tragen eines Kopftuchs allein nicht aus (Rn. 116), ebenso wenig die „berechtigte Sorge“ von Eltern vor einer ungewollten Beeinflussung ihrer Kinder (Rn. 120). Dem ist in der Sache zuzustimmen, wenngleich das Argument, vom Tragen eines Kopftuchs gehe kein werbender Effekt aus, akademisch-weltfremd ist. Jeder Marketingmanager ist bestrebt, dass sein Markenzeichen, sein Logo wahrgenommen wird, und ergreift dazu – Werbemaßnahmen. Würde in der Schule allein das Bild eines angebissenen Apfels gezeigt werden, würde niemand am Charakter eines Werbehinweises für ein bestimmtes Computerunternehmen zweifeln. Die Werbung, die vom Kopftuchtragen ausgeht, ist vielmehr deswegen unproblematisch, weil sich der Effekt dadurch ausgleicht, dass das Tragen von Kennzeichen anderer Religionen ebenfalls erlaubt ist (Kippa, Kreuz, …).

Die Begrenzungslinie zur anderen Seite hin sieht das Gericht in der Missionierung (Rn. 116) und in der ernsthaften Erschwerung des Schulablaufs und des Erziehungsauftrags (Rn. 113). Zur Illustration dessen wird beispielhaft eine Situation genannt, „in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und … in die Schule hineingetragen“ werden. Wem das noch nicht konkret genug ist: Jedenfalls mir, vielleicht auch dem BVerfG, steht dabei der Fall zum Beten in der Schule vor Augen, in dem zwar noch Unterricht, Schule aber nicht mehr stattfand, was die angerufenen Gerichte auch ziemlich schonungslos beschrieben haben.

Ob das Erfordernis einer hinreichend konkreten Gefahr durch diese Begrenzungslinien schon hinreichend konkret bestimmt ist, darf man bezweifeln. Immerhin markieren die Leitplanken, die das BVerfG im Sinne eines „dann auf jeden Fall nicht“ und „dann auf jeden Fall schon“ gesetzt hat, eine Straße und das Absehen von einer abstrakten Gefahr deren Richtung.

Sache von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ist nun, dies zu konkretisieren. Hierzu gibt das Gericht den Hinweis, dass als milderes Mittel vor einem Verbot „eine anderweitige pädagogische Verwendungsmöglichkeit“, sprich: eine Versetzung, in Betracht zu ziehen ist (Rn. 113 f.). Umgekehrt kann, je nach Konfliktintensität, weitergehend „für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner“ ein Verbot ausgesprochen werden, unter Umständen sogar präventiv (Rn. 114). Entscheidend sind dabei differenzierte und der Lage angemessene Regelungen (Rn. 115).

Verantwortlichkeit

Eine Befürchtung nach der jetzigen Kopftuchentscheidung war, es müsse nun nur, sei es von Schülern, Eltern, Lehrern, anderen, genug „Krawall“ in der Schule gemacht werden, um eine hinreichend konkrete Gefahr hervorzurufen und dadurch ein Kopftuchverbot zu erreichen. Doch so einfach ist das Gott sei Dank nicht: Das Polizeirecht kennt, wie es zuvor hieß, differenzierte und der Lage angemessene Regelungen, um zu verhindern, dass „die Falsche“ verantwortlich gemacht wird. Kausalitäts-, Zurechnungs-, Auswahl- und Vertrauensschutzfragen bilden unter dem Gesichtspunkt des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine lange Treppe an Maßnahmen, die gegangen worden sein muss, bevor auf der letzten Stufe erlaubtes Verhalten verboten werden kann. Die Sorge dürfte somit unbegründet sein. Ein trauriges Beispiel bietet allerdings auch hier der Fall zum Beten in der Schule, in dem von Seiten der Schule fast nichts dergleichen unternommen worden war.

Glücklicher Ausgang

Die damalige „Segelanweisung“ des BVerfG an die Landesgesetzgeber hat diese in die Irre geleitet. Der aktuelle Kopftuchbeschluss holt nach, was 2003 schon Stand der juristischen Technik gewesen war. Davon hat Fereshta Ludin jedoch nichts mehr. Zu dem jetzigen Beschluss schrieb sie: „Ich bin überwältigt, erleichtert, sehr gerührt und mit großer Freude erfüllt! … Es ist der schönste Freitag in meinem Leben seit langem!“ Vielleicht dürfen wir sie uns daher dennoch als einen glücklichen Menschen vorstellen.


2 Comments

  1. Mehr Rechte als die Wand Mon 23 Mar 2015 at 15:49 - Reply

    […] Kopftuchbeschluss holt nach, was 2003 schon Stand der juristischen Technik gewesen war«,schreibt Georg Neureither im Verfassungsblog.) Der Beschluss von 1995 hat drei wichtige Prinzipien aufgestellt: Neutralität durch […]

  2. […] vorwerfen, die Vorlagepflicht an das Plenum umgangen zu haben. Falls die „Segelanweisungen“ (so Neureither) aus der ersten Kopftuch-Entscheidung nur obiter dicta waren, war eine Vorlagepflicht nach der […]

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