UK Supreme Court: Wer ist Jude und wer nicht?
Der britische Supreme Court hat gestern ein Urteil gefällt, das es in sich hat: Mit fünf zu vier Stimmen haben die Richter ein Urteil bestätigt, wonach die Londoner “Jewish Free School” mit ihren Auswahlkriterien gegen das Verbot rassischer Diskriminierung verstößt. Denn nach diesen Kriterien ist nur der ein Jude, dessen Mutter Jüdin ist oder nach orthodoxem Ritus zum Judentum konvertiert ist. Geklagt hatte ein Junge, der den jüdischen Glauben praktiziert, dessen Vater unumstritten Jude ist und dessen Mutter, ursprünglich eine katholische Italienerin, zum Judentum konvertiert war – allerdings in nicht-orthodoxer Weise. Die Schule hatte daraufhin den Jungen als Nicht-Juden qualifiziert und abgelehnt.
Die matrilineare Abstammung ist seit den Zeiten Mose das ausschlaggebende Kriterium, wer zum Judentum gehört und wer nicht. In Israel werden nach diesem Kriterium alle möglichen vermeintlich zivilen Angelegenheiten entschieden, unter anderem der Zugang zur Staatsbürgerschaft. Auch die Konversion ist nach orthodoxer Lehre nicht ein bloßes Glaubensbekenntnis, sondern ein Wechsel der ethnischen Identität, vergleichbar mit der Naturalisierung in einem anderen Land.
Die Frage, die der Supreme Court beantworten musste, war diese: Ist das Kriterium der matrilinearen Abstammung eine religiöse Diskriminierung oder eine rassische? Für die Richtermehrheit letzteres, eben weil es auf die Abstammung abstellt und nicht auf den Glauben. Dieses Abstellen auf die Abstammung mag seinerseits religiös motiviert sein und nicht rassistisch. Aber das Motiv ist egal, wenn eine Diskriminierung erst einmal vorliegt.
Dank an Matthias Kötter, der mich auf die Entscheidung aufmerksam gemacht hat. Matthias meint, dass das BVerfG im entsprechenden Fall bei einer religiösen Schule (Tendenzbetrieb) wohl zugunsten des Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft geurteilt hätte. Mag sein, aber kann man den ethnischen Aspekt auf diese Weise so einfach abschütteln? Weiß nicht so…
Mehr zu Urteil und Hintergründen hier.
Diese Frage ist enorm spannend. Bekanntlich ist ja auch in Israel immer wieder umstritten, wer die Definitionshoheit darüber hat, wer Jude ist bzw. wer und vor allem wie Jude werden kann (d.h. welche Institutionen berechtigt sind, das den Übertritt zum Judentum zu vollziehen – in der Vergangenheit durften das zum Verdruss der liberalen Juden nur orthodox-jüdische Rabbiner).
Auch in den USA gibt es eine interessante Parallele: Wer befindet darüber, wer Mitglied eines spezifischen indianischen Stammes ist bzw. wird? Vordergründig könnte man sagen, dass das selbstverständlich das Recht der Stämme selbst sein sollte. Freilich sind mit der Mitgliedschaft in den Stämmen mitunter auch soziale und rechtliche Vorteile in der größeren Einheit der USA verbunden, etwa erleichterter Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen der USA. Insofern kann es auch dem Staat nicht völlig egal sein, wer Mitgliedschaft in ethnokulturellen Gruppen definiert, weil eben damit spezifische staatlich gewährte und nicht unbegrenzt vorhandene Benefits verbunden sind.
Freilich sind Gerichte – egal wo – gut beraten, größte Zurückhaltung zu üben bei der Juridifizierung über interne Streitigkeiten ethno-kulturell-religiöser Gruppen. Die Fettnäpfe sind groß und recht eng aneinander, so dass es eigentlich nur darum gehen kann, einen Streitfall auf der engstmöglichen argumentativen Grundlage zu entscheiden, ohne dass ein Präzedenzfall entsteht. Was mir in Deutschland am ehesten als Parallele einfällt, ist der Streit um die Landesverbände der jüdischen Kultusgemeinden u. a. in Sachsen-Anhalt, wo es um die Verteilung der staatlichen Gelder zwischen den eher liberalen Gemeinden und den eher orthodox bzw. konservativ geprägten Gemeinden geht.
Ich glaube, theoretische “Lösungen” kann es da nicht geben, sondern im Grunde nur pragmatische einzelfallbezogene.