Ultra schwierig
„Legal nationalism“, „BVerfG goes nuclear“, „konfuses Urteil“ – trifft die schrille Kritik an der PSPP-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wirklich den Kern dieses Urteils? Nüchtern betrachtet bleibt es ein aufsehenerregendes Urteil, das aber weder einen kategorialen Bruch des gewachsenen Kooperationsverhältnisses zwischen Karlsruhe und Luxemburg bedeutet, noch der EZB eine ordoliberale Zwangsjacke verabreicht. Sicher: Das über viele Urteile hinweg aufgestaute Unbehagen der Karlsruher Richter hat sich in dieser Entscheidung entladen. Lange schon gärt die Kritik an der unkonventionellen Geldpolitik der EZB, und ihre schiere Macht – dieses scheinbar omnipotente Dominieren des Marktgeschehens durch ein Arsenal aus Zinssätzen, Anleihekaufprogrammen und Liquiditäts-Bazookas – steht für einen Teil der Kritiker in unerträglichem Kontrast zur unzureichenden Legitimation und Kontrolle der EZB. Befeuert wird diese Diskussion von anderer Seite durch einen Opfer-Kult, in dem der dumpfe Boulevard den deutschen Kleinsparer zur Ikone stilisiert und geflissentlich ignoriert, dass Ökonomen gebetsmühlenartig die Vorteile der EZB-Interventionen für Deutschland hervorheben.
Der Eruption war ein Tremor vorausgegangen. Längst hat das Spannungsverhältnis zwischen EZB-Unabhängigkeit und Demokratie auch das BVerfG beschäftigt und dort für eine Kehrtwende gesorgt: Seit seiner Maastricht-Entscheidung schirmte das Gericht die Unabhängigkeit der EZB großzügig ab – „Geld ist geprägte Freiheit“ hieß es im Euro-Beschluss von 1998, und diese Freiheit galt es durch Unabhängigkeit der EZB vor der Politik zu schützen. Mit zunehmenden wirtschaftspolitischen Auswirkungen und Verteilungseffekten der unkonventionellen Geldpolitik hat das Gericht in den letzten Jahren begonnen, die Handlungsspielräume der EZB zunehmend einzuengen und damit einen Kontrapunkt zum EuGH gesetzt, der der EZB an langer Leine gewähren ließ. Schon die Urteile des BVerfG zu Outright Monetary Transactions (OMT) in Gauweiler atmeten den Geist kontrollierender Strenge: Unabhängigkeit und gelockerte demokratische Rückkoppelung – ja, aber kompensiert durch eine restriktive Auslegung des geldpolitischen Mandats und engmaschige gerichtliche Kontrolle, so die Linie des BVerfG, die sich im aktuellen Urteil in einer strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit verdichtet.
Nachdem der EuGH dem Public Sector Purchase Programme (PSPP) 2018 seinen Segen erteilt hatte, ging es in diesem Urteil vor allem um den Vorwurf unzulässiger Finanzhilfen in Gestalt der Anleihekäufe unter dem Deckmantel der Geldpolitik. Wie viel haushaltsentlastende Nebenwirkung ist dabei erlaubt, um die Maßnahmen noch als Geldpolitik und noch nicht als unzulässige wirtschaftspolitische Maßnahme zu qualifizieren? Anders als viele Kommentatoren jetzt an politischer Signalkraft in das Urteil hineinlesen, dreht sich der doppelte ultra vires Vorwurf gegen EuGH und EZB im Kern vergleichsweise trivial und unspektakulär um eine saubere Verhältnismäßigkeitsprüfung. An den EuGH geht (wieder einmal) der Vorwurf, sich mit den (geldpolitisch motivierten) Zielsetzungen des PSPP begnügt zu haben anstatt im Sine einer schulbuchmäßigen Evaluierung sämtliche Auswirkungen, auch wirtschafts- und sozialpolitischer Natur, zu einer Gesamtbewertung eingefordert und zusammengeführt zu haben. Nun kann man einerseits den noch nie redselig wirkenden EuGH-Urteilen nicht wirklich ankreiden, sich nicht in gleicher Epik wie das BVerfG der dogmatischen Reckkunst und der Rezeption wissenschaftlicher Quellen zu widmen. Andererseits lässt das lakonische EuGH-Urteil in der Tat keine Auseinandersetzungen mit den Auswirkungen von PSPP etwa auf die fiskal- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen erkennen.
Die hieran anknüpfende Kritik des BVerfG als ordoliberal und politisch verblendet zu geißeln, geht aber fehl. So setzt das Gericht seine Einschätzung über die Rechtmäßigkeit der Anleihekäufe eben nicht an die Stelle des EuGH oder EZB. „Wie“ man die Auswirkungen der Geldpolitik auf Sparguthaben, Altersvorsorge oder Immobilienpreise und Unternehmen zu bewerten habe, dazu legt sich das BVerfG nicht fest – „dass“ man sie jedoch überprüfbar in eine Gesamtabwägung einfließen lassen und dokumentieren sollte, ist zumindest nicht abwegig. Was das BVerfG hier als Forderung beherzigt, ist auch aus dem Verfassungsrecht gut bekannt: Bei großen Beurteilungsspielräumen tritt an die Stelle materiell-inhaltlicher Gerichtskontrolle eine gesteigerte prozedurale Rationalisierungskontrolle der Entscheidung. In diesem Sinne entschied das Gericht gerade erst in anderem Kontext über die Hartz IV-Sanktionen und forderte dort, dass mit steigender Grundrechtsintensität (durch gekürztes Hartz IV) eine verschärfte Verhältnismäßigkeitsprüfung einhergehen müsse, abgesichert durch eine belastbare und abwägende Evidenz für die Wirkung der einschneidenden Hartz-IV Kürzungen (und verwarf deshalb Hartz IV-Kürzungen über 60%). Dogmatisch nicht unähnlich findet das BVerfG auch hier, dass der weite Beurteilungsspielraum der EZB nicht durch ein methodisch einwandfreie Evidenzbasierung ausgefüllt wurde – ohne jedoch die von der EZB ergriffenen Maßnahmen kategorisch als unverhältnismäßig einzustufen. Im Gegenteil, das BVerfG stellt fest, dass es die Verhältnismäßigkeit der Beschlüsse im konkreten Fall noch nicht abschließend beurteilen kann.
Nun wird wohl keiner ernsthaft bestreiten, dass die expertisemäßig stark aufgestellte EZB derartige Analysen zu Risiken und Nebenwirkungen ihrer Geldpolitik unternommen, quantifiziert und schließlich intern abgewogen hat. Insoweit rückt sich das Gericht an dieser Stelle doch in fragwürdiges Licht, wenn es genau das in Abrede stellt (Rn. 169). Behörden und Ministerien durchdenken vieles, was hinterher nicht an die große Glocke gehängt wird. Und auf der Webseite der EZB wimmelt es nur so von Analysen und Beiträgen, die zusammengenommen umfassendes Abwägungsmaterial zugunsten von PSPP bieten. Immerhin weist das Gericht in der verzwickten Lage aber auch einen konstruktiven Ausweg: Die EZB kann ihr eigenes „proportionality assessment“ veröffentlichen, in dem es eine umfassende Abwägung der intendierten geldpolitischen Wirkungen und wirtschaftspolitischen Nebeneffekte darlegt.
Und doch bleibt eine Ironie des erhobenen Zeigefingers des BVerfG, das die Folgen und Nebeneffekte der geldpolitischen Entscheidungen zu berücksichtigen einfordert: Welches sind eigentlich die Folgen und Nebenwirkungen dieses Urteils? Und hat das Gericht diese im Blick gehabt? Bereits Stunden nach dem Urteil ruft Polen die Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge in Erinnerung. Es ist zu früh, die neuen Widerstände gegenüber dem EuGH abzuschätzen. Dass jedoch auch andere nationalen Verfassungsgerichte sich ermuntert fühlen dürften, selbstbewusster ihre national eingefärbten Rechtskulturen gegenüber dem EuGH einzubringen, dürfte gewiss sein.
Mehr prozedurale Einhegung der EZB?
Als Teil des größeren Demokratieproblems bleibt aber die Frage im Raum: Wie kann die Unabhängigkeitsdoktrin der EZB so weiterentwickelt werden, dass einerseits die Entscheidungsspielräume gewahrt, andererseits aber über Transparenz und Nachvollziehbarkeit die ausgedünnten Legitimationsstränge stabilisiert werden? Hier sind die Bedenken des BVerfG ernst zu nehmen: Weite Beurteilungsspielräume plus restriktive gerichtliche Kontrolle bergen in der Summe das Risiko eines EZB-Selbstbestimmungsrechts der eigenen Kompetenzen. Deshalb muss gelten: Wo inhaltlich-materiell die politische und gerichtliche Kontrolle zurücktritt, sollte eine prozedural anspruchsvolle Kontrolle in den Vordergrund treten.
Wenn man diesen prozeduralen Pfad der Legitimationsbeschaffung weiter vorantreiben möchte, wären neben der obligatorischen Begründungspflicht weitere Maßnahmen denkbar: Etwa die verbindliche Durchführung und Veröffentlichung einer ex-ante Evaluation alternativer geldpolitischer Maßnahmen, was auf Ebene der EU-Gesetzgebung schon verpflichtend ist und auch in Deutschland zum Arsenal “guter Gesetzgebung” gehört. So eine ex-ante Evaluation zwingt zur Alternativenprüfung und der Abschätzung von (unerwünschten) Nebeneffekten. Oder: Warum nicht die für die EZB als Bankenaufsicht eingeführten Rückkoppelungen mit den nationalen Parlamenten auch für die Geldpolitik verankern? Als Bankenaufseherin schuldet die EZB Antworten auf förmliche Anfragen aus den Parlamenten (Art. 21 Abs. 2 SSM-VO) und muss sich für einen “Gedankenaustausch” verfügbar machen (Art. 21 Abs. 3 SSM-VO). Ein auf ad-hoc Basis initiierter Dialog wäre ein Kanal zur gegenseitigen Verständnisförderung. Wer unabhängig agiert und seine Entscheidungen von politischem Einfluss abgeschirmt weiß, kann seine Politik in institutionalisierten Austauschformaten trotzdem erklären. In dem Amalgam aus Begründungspflicht, Alternativenprüfung, dialoggestützter Politikerklärung liegen die prozeduralen Einhegungen einer im übrigen mit großen Beurteilungsspielraum ausgestatteten EZB.
Ich vermisse eine Begründung dafür, warum das (einseitig) gewachsene Kooperationsverhältnis zum EuGH hier nicht kategorial gebrochen wurde. Wer kooperieren will, kann dem “Partner” doch schlecht vorwerfen, dass der nicht weiß, wie man Recht so anwendet, dass es nicht willkürlich wird. Und noch ein Punkt: In der ganzen Transparenzeuphorie hören wir wenig über die Unabhängigkeit des ESZB (hier vergisst der Senat sogar, sich selbst zu zitieren) und viel über den durch sie bewirkten demokratischen Einflussknick. Wer sagt denn eigentlich, was der EZB-Rat erwogen, geprüft und berücksichtigt hat? Gibt es vielleicht Gründe dafür, dass da nicht alle verfassungsbeschwerdeberechtigten deutschen Bürger*innen ein Bulletin bekommen haben? Und bedeutet Unabhängigkeit (die unionsrechtlich übrigens auch die Bundesbank genießt) nicht vielleicht auch Unabhängigkeit gegenüber dogmatischen Figuren aus dem nationalen Verfassungsrecht, deren Anwendung auf die Geldpolitik vor ihrer Vergemeinschaftung doch niemanden eingefallen wäre? Ich kann den Beschwichtigungsversuch gut nachvollziehen, aber ganz so unproblematisch ist das – bei allen teils auch berechtigten Bedenken in der Sache gegenüber “Weiss” und dem PSPP – aus meiner Sicht nicht.
“In diesem Sinne entschied das Gericht gerade erst in anderem Kontext über die Hartz IV-Sanktionen und forderte dort, dass mit steigender Grundrechtsintensität (durch gekürztes Hartz IV) eine verschärfte Verhältnismäßigkeitsprüfung einhergehen müsse, abgesichert durch eine belastbare und abwägende Evidenz für die Wirkung der einschneidenden Hartz-IV Kürzungen (und verwarf deshalb Hartz IV-Kürzungen über 60%).”
Gerade das Sanktionsurteil ist ein weiteres unschönes Beispiel dafür, wie inkonsistent das BVerfG bisweilen seine Entscheidungen begründet:
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/bis-das-hirn-schmerzt
Möglicherweise liegt eine Ursache in einem Defizit an methodischer Reflexion und in Folge dessen ein Mangel an Selbstbindung an methodische Maximen. So nehme ich das jedenfalls seit Jahren in der Sozialgerichtsbarkeit war und auch in vielen Entscheidungen des BVerfG auf diesem Gebiet.