Unabhängige Richterauswahl durch Kompetenzprüfung und Los
Am kommenden Sonntag, den 28.11.2021, stimmen die Wahlberechtigten in der Schweiz unter anderem über die Vorschläge der „Justiz-Initiative“ ab. Kern der Vorschläge der Initiative ist die Reform der Wahl der Richter:innen nach Art. 168 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) für das höchste Gericht in der Schweiz: Das Bundesgericht (vgl. Art. 188 Abs. 1 BV). Die Diskussion ist nicht nur für die Schweiz relevant, sondern für ganz Europa, wo die Auswahl unabhängiger Richter:innen heute vielerorts in Gefahr ist. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, wie Richter:innen auf Grundlage objektiver Kriterien und ohne politische Einflussnahme ausgewählt werden. Die in diesem Zusammenhang bedeutsamen Fragestellungen werden auch in Deutschland für die Wahl von Bundesrichter:innen nach dem Koalitionsvertrag der Ampelkoalition (S. 106) neu zu diskutieren sein. Die Diskussion in der Schweiz zeigt eine faszinierende Lösung für das Problem, dass Auswahlentscheidungen immer mit einem kaum zu bannenden Risiko von Einflussnahme einhergehen,
Bisher werden Richter:innen zum Bundesgericht durch die Vereinigte Bundesversammlung gemäß Art. 168 Satz 1 BV auf Vorschlag einer eingerichteten, parlamentarischen Gerichtskommission (Art. 40a Bundesgesetz über die Bundesversammlung, ParlG) für einen Zeitraum von sechs Jahren gewählt, Art. 145 Satz 2 BV. Eine Wiederwahl nach sechs Jahren ist dabei üblich. Besonders für das Wahlverfahren in der Schweiz ist dabei der hohe Einfluss der politischen Parteien, da bereits die Fraktionen zur Sicherstellung des Fraktionenproporzes in die Nominierung der Kandidat:innen eingebunden werden. Schon bei der Stellenausschreibung wird bekannt gegeben, welcher Partei der Sitz nach dem Proporz zusteht. Dies führt de facto dazu, dass nur Parteimitglieder kandidieren, sodass es seit 1943 zu keiner Wahl einer parteilosen Richter:in am Bundesgericht mehr kam. Erringt eine Partei bei einer Wahl zusätzliche Stimmen, so sieht es für Kandidat:innen anderer Parteien in den nächsten Jahren schlecht aus. Dieser Aspekt, in Kombination mit der Wiederwahlmöglichkeit und der sogenannten „Mandatssteuer“, welche Richter:innen an ihre Parteien jährlich faktisch zahlen müssen, lassen zusammen den Eindruck einer nicht ganz unabhängigen Justiz – insbesondere aus einer europäischen Außenperspektive – entstehen (siehe dazu den Bericht der GRECO vom 25.03.2021).
Im Zentrum des Vorschlags der „Justiz-Initiative“ stehen vier Änderungen der BV. Statt der der Möglichkeit einer Wiederwahl der Richter:innen sollen diese nun auf Lebenszeitstellen berufen werden; eine Abberufung soll nur in eng definierten Ausnahmefällen möglich sein. Die Wahl der Richter:innen soll nunmehr in zwei Stufen erfolgen: Zunächst soll eine unabhängige Fachkommission (Art. 188a Abs. 3 BV) auf Grundlage eines Beurteilungskatalogs von ausschließlich objektiven Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung für das Richter:innenamt geeignete Kandidat:innen nominieren. Aus diesem Pool soll sodann im Rahmen eines Losverfahrens der/die erfolgreiche Bewerber:in ausgelost werden (Art. 188a Abs. 1 BV). Die Vorschläge sollen die richterliche Unabhängigkeit von der Politik sichern und damit letztlich die Akzeptanz des Bundesgerichts in der Bevölkerung erhöhen und das demokratische System stärken (vgl. Argumentarium der Initiative).
Parlament und Bundesrat warnen davor, dass vor allem der Vorschlag des fokussierten Losverfahrens die im Schweizer Rechtssystem bewährte demokratische Legitimation der Richter:innen schwäche. Zwar erkenne man die abstrakte Gefahr, dass Richter:innen bei der Wiederwahl durch ihre Partei aus politischen Gründen nicht mehr unterstützt werden könnten. Jedoch sei es in der Praxis noch zu keiner Nichtwiederwahl gekommen. Vielmehr verhindere das Losverfahren die Wahl der bestgeeignetsten Person. Zudem könne es nicht in gleicher Weise wie der Parteienproporz gewährleisten, dass die politischen und gesellschaftlichen Grundhaltungen der Richter:innen transparent werden. Andere kritisieren, dass die Unabhängigkeit in Art. 191c BV verankert, in der Staatspraxis gelebt und somit ausreichend geschützt sei. Einer Reform bedürfe es angesichts einer fehlenden konkreten Gefahr nicht. Das Losverfahren sei im Verhältnis zu den Wahlregelungen der anderen Behörden systemfremd (vgl. 145 BV).
Die Initiative hat eine bereits seit längerem in der Schweiz bestehende Diskussion über das Spannungsfeld zwischen den Prinzipien demokratischer Legitimation und richterlicher Unabhängigkeit erneut in Gang gesetzt. So wurden die Vorschläge auch bei der 1. Basler Tagung der Judikative diskutiert und u.a. konkrete Gegenvorschläge präsentiert. Die Alternativmodelle variieren von der Ergänzung des bisherigen Wahlverfahrens um ein Konsolidierungs- und Befragungsrecht des Bundesgerichts über ein Baukastensystem bis hin zu konkreten Vorschlägen für eine Änderung der BV. Diese nehmen vor allem die Abschaffung einer Wiederwahl (so auch schon Gertrude Lübbe-Wolf in ihrem Beitrag hier vom August 2019), eine Aufnahme eines Verbots der Mandatsabgabe und die Einführung eines objektiven Kriterienkatalogs in den Blick.
Wie die Einzelheiten des Verfahrens gesetzlich geregelt werden, kann nicht von der Initiative vorgeschlagen werden. So müsste der Gesetzgeber im Falle der Annahme des Vorschlags der Initiative noch klären, wie sich z.B. die Fachkommission konkret zusammensetzt, mit welchem objektiven Kriterienkatalog sie arbeitet und wie viele Kandidaten sie mindestens nominieren müsste. Unabhängig davon enthält der Vorschlag aber bereits jetzt einige interessante Aspekte, die weit über die Grenzen der Schweiz Anregungen geben können. Denn der Vorschlag könnte eine Auswahl nach objektiven Kriterien frei von politischer Einflussnahme ermöglichen. Angesichts der europäischen Justizkrisen ein verlockender Gedanke!
Ein solches fokussiertes Losverfahren räumt allen Kandidat:innen, die in die zweite Runde nach Auswahl durch die Fachkommission kommen, die gleichen Chancen ein, ohne dass Einflussmöglichkeiten bestimmter Personen in diesem entscheidenden Moment bestünden. Anhand des gesetzlich verankerten Kriterienkatalogs wäre die Nominierung durch die Fachkommission nachvollziehbar und u.U. rechtlich überprüfbar. Die fachliche Eignung könnte damit gegebenenfalls sogar besser als durch die Auswahl unter bloßen Parteigesichtspunkten geprüft werden. Das System setzt freilich voraus, dass die Fachkommission eine ausreichend große Anzahl an Kandidat:innen für geeignet hält. Je kleiner die Zahl der Personen, aus denen ausgelost wird, umso höher der Einfluss der Fachkommission und damit auch die Versuchung, auf deren Zusammensetzung und Entscheidungsfindung Einfluss zu nehmen.
Dreh- und Angelpunkt der Debatte ist die demokratische Legitimation. Formell ließe sich diese durch eine Wahl durch das Parlament herstellen, auch wenn eine solche nach dem Losverfahren nicht mehr mit einem tatsächlichen Auswahlakt durch das Parlament einherginge. Weitere Legitimation ließe sich durch die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens und die Zusammensetzung der Fachkommission im parlamentarischen Prozess erreichen. Außerdem sind Argumente zu diskutieren, die die demokratische Legitimation richterlichen Handelns in erster Linie in der Anwendung demokratisch entstandener Gesetze sehen wollen. Schließlich ist zu bedenken, dass die Abschaffung der de-facto-Parteimitgliedschaft als Auswahlkriterium den Pool der Kanditat:innen erhöhen könnte. Mit größerer Vielfalt könnten die Gerichte repräsentativer für die Gesellschaft werden (zu den Vorteilen eines fokussierten Losverfahrens Osterloh et al). Schließlich sorgt Parteizugehörigkeit auch nicht immer für Transparenz, da Kandidat:innen Parteien auch aus lediglich strategischen Gründen beitreten können, wie Odile Ammann aufzeigt.
Zuzustimmen ist dem Ziel der Initiative, die richterliche Unabhängigkeit zu stärken. Einzelfälle aus den vergangenen Jahren zeigen, dass Parteien teilweise Richter:innen mit einer Nichtwiederwahl drohten, wenn Entscheidungen entgegen der Parteilinie getroffen wurden. Maßgeblich ist nicht, ob tatsächlich alle Richter:innen wiedergewählt worden sind, sondern dass allein der Umstand, sich einer Wiederwahl stellen zu müssen, Einfluss auf die jeweiligen Richter:innen und ihre Entscheidungen haben kann (siehe dazu Stiansen / Stadelmann). Die langjährige Tradition bzw. Staatspraxis ist kein Garant der Unabhängigkeit von Richter:innen. Traditionen können sich ändern, gerade in einer Welt zunehmender politischer Polarisierung.
Die richterliche Unabhängigkeit braucht gesetzlich fundierte Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass Richter:innen allein nach Gesetz und Recht urteilen können. Jedenfalls die Wiederwahl der Schweizer Richter:innen und die sogenannten „Mandatssteuern“ sollten abgeschafft werden. Europäische Standards, wie sie die Venedig-Kommission, der CCJE oder GRECO formuliert, können dabei unterstützen, eigene Traditionen kritisch zu überprüfen, transnationalen Austausch zu fördern und ggf. nationale rechtliche Vorgaben unter Berücksichtigung rechtsvergleichender Perspektiven zu ergänzen. Die Ideen aus der Schweiz verdienen dabei über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus Aufmerksamkeit.
Nicht nur in der Schweiz, auch in der BRD ist das Richterwahlsystem mehr als fraglich.
Dies gilt nicht nur für die obersten Gerichte (bis zu deren Entscheidung die wenigsten Kläger und Klägerinnen abzuwarten die Kraft haben), sondern bereits für die erste Instanz.
Wenn hier -wie beispielsweise am Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder)- die Klagenden vor einem Richter stehen, der Parteivorsitzender in der CDU ist, ist die Unabhängigkeit des Gerichtes mehr als fraglich.
Wenn dieser Richter dann auch noch Urteile im Sinne der Parteilinie und gegen die Rechtsprechung des BVerfG fällt und die Berufung nicht zulässt, verliert man den Glauben in den Rechtsstaat.
Zwar kenne ich Ihren Fall nicht, aber bei der Mehrzahl von Entscheidungen, die Verwaltungsgerichte zu treffen haben, erscheint mir die Parteimitgliedschaft eines Richters nicht unbedingt problematisch, im Übrigen haben Klagende zumindest die Möglichkeit die Mitwirkung des Richters zu verhindern (§ 54 VwGO).
Dass in Ihrem Fall die Berufung nicht zugelassen worden entspricht dem Normalfall verwaltungsgerichtlicher Urteile, der Antrag auf Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 4 VwGO) steht Ihnen offen. Wenn das Urteil von einer Entscheidung des BVerfG abweicht stehen Ihre Erfolgsaussichten sogar überaus gut.
Kein Grund den Glauben in den Rechtsstaat zu verlieren!
Vor allem können Sie Parteimitgliedschaften von Richtern auch gar nicht verhindern. Es kann ja sein, dass der Richter aus Frankfurt (Oder) erst nach Beginn seiner Karriere in der Justiz in eine Partei eingetreten ist.