14 January 2021

Und ewig grüßt das Kindeswohl

„Kinderrechte ins Grundgesetz“: der Groundhog Day des Verfassungsrechts

Schon wieder hat eine neue Formulierung für das Dauerprojekt „Kinderrechte in die Verfassung“ ihren Weg in die Medien gefunden, diesmal als Kompromiss der Koalitionsfraktionen (zum letzten Vorschlag des Bundesjustizministeriums siehe hier). Wer sich schon länger mit dem Thema beschäftigt, fühlt sich an den armen Bill Murray aus dem Film „Groundhog Day“ erinnert, wie er Morgen für Morgen die Augen öffnet und immer wieder derselbe Tag beginnt, den er schon gestern, vorgestern und vorvorgestern erlebt hat. Doch nein, der Vergleich hinkt, denn im Film wird Murray am Ende mit einer klugen und schönen Frau glücklich, wir aber bekommen weder eine kluge noch eine schöne Verfassungsänderung – jedenfalls wenn es dieser Vorschlag ist, der sich am Ende durchsetzt:

„Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“

Was war noch gleich das Anliegen, das mit dem Projekt „Kinderrechte ins Grundgesetz“ verfolgt wird? Ach ja, die UN-Kinderrechtskonvention soll umgesetzt werden. Die Grundrechte, die Kinder zweifelsfrei auch jetzt schon haben, sollen im Normtext der Verfassung verdeutlicht werden. Vor allem aber soll ein Diskussionsstand dokumentiert werden, für den die Kinderrechtskonvention steht, der sich aber auch im verfassungsrechtlichen Verständnis der Kindergrundrechte in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher zeigt: Kinder nicht mehr als passive Objekte elterlicher und staatlicher Erziehungsbemühungen zu behandeln, sondern als Subjekte, als Menschen, die von Geburt an eigene Rechte auf Schutz, Förderung, Beteiligung und auf Achtung ihrer wachsenden Fähigkeiten haben. Von diesen Intentionen bleibt in dem oben zitierten Vorschlag nichts, aber auch gar nichts übrig.

Satz 1: „Das Grundgesetz gilt auch für Kinder“

Der erste Satz enthält die wenig überraschende Aussage, dass nach der Verfassung die „verfassungsmäßigen Rechte“ eines jeden Menschen zu schützen sind, sogar die von Kindern. Mit dem Entwicklungsziel der „eigenverantwortlichen Persönlichkeit“ wird sodann eine Formulierung in das Grundgesetz eingeführt, die dieselbe Koalition an anderer Stelle gerade für ergänzungsbedürftig hält: Im Regierungsentwurf eines „Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes“ wird vorgeschlagen, das Recht des Kindes auf Entwicklung zu einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) um das Wort „selbstbestimmt“ zu ergänzen. Hier droht das Grundgesetz also eher die Resterampe für abgelegte Normtexte zu werden als neue Impulse in der Debatte um die fundamentalen Rechte von Kindern und Jugendlichen zu setzen. Im Übrigen beschreibt das Bundesverfassungsgericht das Menschenbild des Grundgesetzes mit „der eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft“ (BVerfG, Urt. v. 1.4.2008, Az. 1 BvR 1620/04, Rn. 71). Weshalb der wichtige Gedanke der sozialen Verbundenheit ausgerechnet hier unerwähnt bleibt, erschließt sich nicht.

Satz 2: Eine Pflicht ohne Adressat – und ohne Gegenstand

„Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen“, heißt es sodann im zweiten Satz. Gute Idee – aber von wem und wobei? Die Formulierung weckt nur noch vage Erinnerungen an das völker- und unionsrechtliche Kindeswohlprinzip, wie es etwa in Art. 3 Abs. 1 KRK formuliert ist:

Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

In der völkerrechtlichen Variante wird (jedenfalls) der Staat zur Berücksichtigung des Kindeswohls verpflichtet, und zwar bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen. Demgegenüber bezieht sich der zweite Satz des Koalitionsvorschlags vage auf alles und nichts und verpflichtet alle und keinen zugleich. Das ist schlechte Gesetzgebungstechnik, die gerade an dieser Stelle die Gefahr ausufernder Deutungen birgt. Denn der Wortlaut des Kindeswohlprinzips bezieht nicht nur in der oben zitierten Variante, sondern noch umfassender auch nach Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechtscharta Private ausdrücklich mit ein. Mit der Systematik des Grundgesetzes wäre eine unmittelbare Verpflichtung Privater schwerlich zu vereinbaren; dies sollte Anlass genug sein, den Normtext auf staatliche Maßnahmen zu begrenzen. Gleichzeitig gilt das völkerrechtliche Kindeswohlprinzip mit Bedacht für alle staatlichen Maßnahmen, die Kinder betreffen. Der Querschnittscharakter der Norm, der Kinder und Jugendliche in allen Lebensbereichen als zu berücksichtigende Personen kenntlich macht, wird in der Rumpfversion der Koalitionsfraktionen nicht annähernd deutlich.

Satz 3: Recht auf Gehör, aber nicht auf Beteiligung

Eine ähnliche Schrumpfstufe eines wichtigen Rechts aus der Kinderrechtskonvention enthält der dritte Satz des Vorschlags, das Recht auf Gehör, das „zu wahren“ sei. Wer die Diskussion der letzten Jahre verfolgt hat, weiß: Hier verabschiedet sich leise der Gedanke, in einem kinderspezifischen Grundgesetzartikel die (bereits bestehenden) Rechte des Kindes auf Beteiligung und Berücksichtigung im Grundgesetz zu benennen. Über ein formales Recht auf Gehör in gerichtlichen und behördlichen Verfahren hinaus heißt es in Art. 12 Abs. 1 KRK:

Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.

Wie das Kindeswohlprinzip zählt dieses allgemeine Recht auf eine alters- und reifeangemessene Beteiligung zu den fundamentalen Grundsätzen der Kinderrechtskonvention, die bei allen staatlichen Entscheidungen, die Kinder betreffen, zu berücksichtigen sind. In ihm werden Anlass und Leitmotiv des Übereinkommens am deutlichsten sichtbar: Von Geburt an hat das Kind ein Recht darauf, gemäß seinem individuellen Entwicklungsstand als Subjekt und Akteur:in ernst genommen zu werden. Sein Wille und seine Wünsche zählen, sein Äußerungsrecht ist Ausdruck seiner wachsenden Fähigkeiten und damit seines Rechts auf Selbstbestimmung. Die Kinderrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten – zu denen die Bundesrepublik seit 1992 zählt – dazu, dieses Recht im innerstaatlichen Recht umzusetzen. Von einer solchen Anerkennung des Kindes als „Persönlichkeit im Wachstum“ bleibt in Satz 3 des Koalitionsvorschlags indessen genau: nichts.

Wenn man schon nichts sagen möchte, sollte man es wenigstens in schönen Worten tun

Um keinen Anlass für Missverständnisse zu bieten: Kinder sind schon jetzt Träger aller Grundrechte, und die wesentlichen Grundsätze der Kinderrechtskonvention haben längst Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und – zunehmend – in das einfache Recht gefunden. Das Grundgesetz muss nicht geändert werden, um die Grund- und Menschenrechte des Kindes zu sichern. Auch das Verhältnis von Kindern, Eltern und Staat ist im Grundgesetz schon jetzt gut geregelt. Es ist richtig, daran nichts verändern zu wollen. Damit aber steht die Koalition mit ihrem Vorhaben vor der regelungstechnisch kaum lösbaren Aufgabe, eine bestehende Rechtslage in neue Worte zu fassen, ohne dabei in der Sache etwas zu ändern – ein Anliegen, das sich nur durch das Bedürfnis nach einer symbolischen Aufwertung der Belange von Kindern erklären lässt. Im Verhältnis zwischen Kindern, Eltern und Staat erweist sich diese Aufgabe als besonders schwierig, weil klar geregelt werden muss, ob ein Grundrecht dem Kind selbst Handlungsmöglichkeiten verleiht oder aber den Staat ermächtigt, in die elterliche Erziehung einzugreifen. Letzteres soll zu Recht nur in Ausnahmefällen zulässig sein, nämlich immer dann, wenn ansonsten das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Mit dem vierten Satz des Entwurfs wird dieses Verhältnis von elterlichem Erziehungsrecht und staatlicher Interventionsmacht, das schon jetzt in Art. 6 Abs. 2 GG unmissverständlich zum Ausdruck kommt, noch einmal klargestellt. In der Sache schadet die Wiederholung nicht, sprachlich aber tut sie weh: Das Wort „Erstverantwortung“ weckt Assoziationen an den „Ersthelfer“, die „Erstaufnahmeeinrichtung“ oder auch das „Erstgespräch“ – Ausdrücke, die sich auf Eilzuständigkeiten und Durchgangsstadien beziehen, nicht aber auf dauerhafte Beziehungen wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Gemeint ist der Vorrang der elterlichen Erziehung vor staatlichen Eingriffen, eine klare und im verfassungsrechtlichen Sprachgebrauch etablierte Formulierung, die man hier hätte aufgreifen können.

Überhaupt kommt der Vorschlag in einer Sprache daher, die mit der kraftvollen Prosa, in der Grund- und Menschenrechte üblicherweise formuliert werden, wenig gemein hat. Hier geht es nicht darum, technische Regeln der föderalen Finanzverfassung an aktuelle Interessenlagen anzupassen, es geht um Grundrechte. Selbst, wenn man in der Sache nur schreiben möchte: „Das Grundgesetz, so wie es ist, gilt auch für Kinder“, bedarf dies einer sprachlichen Fassung, die dem Anliegen, die Belange von Kindern symbolisch zu stärken, gerecht wird. Mit dem aktuellen Entwurf wird nicht einmal das gelingen. Ceterum censeo: Kinder und Jugendliche wurden nach allem, was man weiß, wieder nicht beteiligt. Das wäre ja noch schöner.


One Comment

  1. Aline Mon 22 Nov 2021 at 16:08 - Reply

    Sehr geehrte Frau Dr. Wapler,

    vielen Dank für diesen Artikel. Ich promoviere gerade selbst und habe verzweifelt seit 1,5 Jahren nach einer kritischen Würdigung dieses mehr als fragwürdigen Vorhabens der Aufnahme von “Kinderrechten in das Grundgesetz” gesucht. All Ihre Gedankengänge waren auch meine. Wobei mir primär die Idee kam “Wie jetzt? Kinder sind keine Menschen?” in Bezug darauf, dass doch bereits der Satz: “Die Würde des Menschen ist unantastbar” ziemlich viel im Hinblick zum Kindeswohl aussagt. Nicht nur das, auch noch viel mehr Inhalte im GG, welche sich jedoch ausschließlich auf Menschen und nicht auf Kinder beziehen :-) Mir gefällt ihre witzige – beinahe sarkastische Formulierung und ich danke Ihnen dafür!!!

    Mit freundlichen Grüßen,
    Aline

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