Mein Schweigeinterview mit Orbáns Verfassungsexperte
Als ich vor ein paar Wochen nach Budapest fuhr, hatte ich bei allen möglichen Verfassungsrechtlern jeglicher politischer Couleur um Gesprächstermine angefragt. Darunter war auch László Salamon, Abgeordneter des FIDESZ-Koalitionspartners KDNP und Verfassungsrechtsprofessor an der katholischen Pázmány Péter Universität. Salamon hatte den ersten Verfassungsausschuss geleitet und war auch einer der drei Abgeordneten, die dann tatsächlich den Verfassungsentwurf geschrieben hatten.
In Budapest erfuhr ich, dass Salamon keine Zeit habe, mit mir zu reden. Er wolle aber gern meine Fragen per E-Mail beantworten, ließ er mir über eine Mitarbeiterin ausrichten. Binnen einer Woche würde ich Antwort erhalten.
Ich schickte ihm meine Fragen. Auf die Antwort wartete ich vergeblich.
Jetzt hat sie mich aber auf verschlungenen Wegen doch noch erreicht, die Antwort des Professor Salamon, und ich will sie den Lesern dieses Blogs nicht vorenthalten.
Ich habe sie ausgerechnet über Herrn Mainka erhalten, dem Herausgeber der Budapester Zeitung, der daselbst so kenntnisreich über mich und meinen FAZ-Artikel geschrieben hatte und mit dem ich seither in einem regen E-Mail-Kontakt stehe. Wieso der sie hatte und ich nicht, bleibt unklar, Herr Mainka sagt, er habe “zufällig” davon erfahren.
Ich schrieb an die Mitarbeiterin Salamons eine Mail, was das solle. Die Antwort:
Mr. Salamon realised that you had already published an article in the subjuct of the new Hungarian Constitution before the one week deadline for his answers could have run out. I have to tell you that he was really astonished about it and understood that you were not interested in his answers as you did not wait for them. For this reason, he felt free to send his answers to those who were curious about them.
Das bezog sich wohl auf den Essay, der am 28. März in der FAZ erschien. Das Interview war für den Reisebericht gedacht, der am 16. April erschien. Da wäre wahrhaftig genug Zeit gewesen.
Gottseidank muss ich mich nicht für die Professionalität von Herrn Salamons Pressearbeit verantwortlich fühlen.
Hier jedenfalls meine Fragen und seine Antworten. Manche davon sind sogar ganz interessant.
Dear Professor Salamon,
thank you for taking time to answer my questions. Here is what I would like to know:
1. Does “hungarian nation” include Hungarians living outside the borders of the Hungarian state? Is this an ethnical or a political term? Does it also include the Roma?
2. In which way can the “historical constitution” of a non-egalitarian nobility-dominated kingdom possibly affect the living constitution of a modern democratic republic? What legal constellation do you have in mind in which the historical constitution can be effective? Or is this meant purely symbolic?
3. Does the “constitutive power of christianity for the nation” mean that christian values are more important for the nation than those of other creeds? Would that possibly have an impact on the limitations of freedom of speech, of conscience and other basic rights?
4. What does the reference to the Holy Crown mean with respect to Hungary being a republic? Is this purely symbolic or does it have a legal impact?
5. Will the constitutional law from 1989 to 2011 with all the decisions by the Constitutional Court and all the legal scholarship still be legally meaningful under the new constitution, which emphazises the constitutional non-continuity and declares the old constitution explicitly invalid? Or is this meant to provide for a clean slate and a fresh start in constitutional law?
6. In the title of the basic rights section, what does “responsibilities” mean? What is the connection between freedom and responsibilities? What concept of basic law is underlying that?
7. Why is it necessary to make the restriction of the review of the constitutional court over fiscal and budgetary laws permanent?
Best regards,
Max Steinbeis
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Sehr geehrter Herr Steinbeis,
ich erlaube mir hiermit, Ihre Fragen zu beantworten:
Ad 1.) In der ungarischen Sprache hat der Begriff „Nation“ zwei Bedeutungen.
Einerseits versteht man darunter den Begriff der politischen Nation. In diesem Sinne bedeutet die ungarische Nation die Gesamtheit der ungarischen Staatsbürger, ungeachtet dessen, ob jemand sich als Ungar bekennt oder nicht. Dieser Begriff der Nation umfasst auch sämtliche ungarische Staatsbürger, die sich sonst nicht als Ungarn bekennen, so z.B. unsere Roma-Mitbürger.
Andererseits versteht man darunter den Begriff der kulturellen Nation. In diesem Sinne gelten als Mitglieder der ungarischen Nation diejenigen, die nicht ungarische Staatsbürger sind, außerhalb der Grenzen von Ungarn leben, sich jedoch als Ungarn bekennen.
Ad 2.) Die Staatsform Königtum wurde 1946 abgeschafft. Die historische Verfassung wurde von der kommunistischen Diktatur nach dem zweiten Weltkrieg ausgesetzt, ihre Rechtskontinuität wurde jedoch schon durch die deutsche Besatzung im Jahr 1944 und durch den Staatsstreich der Ungarischen Nationalsozialistischen Partei (der Pfeilkreuzlerpartei) unterbrochen. Die ab 1848 geltende historische Verfassung entsprach rund hundert Jahre lang den Anforderungen der Verfassungsmäßigkeit, da von diesem Zeitpunkt an die verfassungsrechtliche Struktur des Landes auf dem Parlamentarismus, einem Rechtsstaat, der auf den Prinzipien des Privatbesitzes und der Rechtsgleichheit beruhte, aufgebaut war. Auf diesen Prinzipien beruht seit Jahrhunderten auch die nicht kodifizierte Verfassung des britischen Königsreichs. Die nicht kodifizierte Verfassung vor 1848 ist ebenfalls erwähnenswert. Sie war im 17., 18. und 19. Jahrhundert ein öffentlich-rechtlicher Schutz für Ungarn vor der Einverleibung durch das Österreichische Kaiserreich. Nach beinahe siebzig Jahren kann die historische Verfassung, die nicht kodifizierte Verfassung, nicht wieder hergestellt werden. Die derzeit zu verabschiedende Verfassung wird auch eine schriftlich abgefasste Verfassung sein.
Ad 3.) Die Würdigung des Christentums als Kohäsionskraft der Nation bedeutet keine Bewertung bzw. keine Vor- oder Nachteile hinsichtlich der verschiedenen Weltanschauungen, Glaubens- oder Gewissensüberzeugungen und schränkt natürlich keines der Grundrechte ein.
Ad 4.) Die Eingangsformel der neu zu fassenden Verfassung (Teil „Nationales Glaubensbekenntnis“) enthält einen Hinweis darauf, dass die Heilige Krone die verfassungsrechtliche Kontinuität des ungarischen Staates und die Einheit der Nation verkörpert. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Heiligen Krone und der Staatsform. Deshalb konnte die Heilige Krone auch nach der Wiederherstellung der Republik im Jahr 1989 verehrt und in unser Wappen aufgenommen werden. Der Hinweis auf die Heilige Krone wurde auch beim Versuch der Erstellung einer neuen Verfassung zwischen 1995 und 1998, als die MSZP-SZDSZ-Koalition mit Zweidrittelmehrheit regierte, zur Diskussion gestellt.
Ad 5.) Wir achten die Beschlüsse des Verfassungsgerichtes und nehmen von diesen Beschlüssen mehrere dem Wortlaut entsprechend in die neu zu verabschiedende Verfassung auf. Jene Beschlüsse des Verfassungsgerichtes, die nur unter Berücksichtigung der noch gültigen Verfassung ausgelegt werden können, werden nicht unbedingt anwendbar sein, wenn die neue Verfassung diesbezüglich abweichende Formulierungen enthalten wird. Die Beschlüsse des Verfassungsgerichts, die in den vergangenen zwanzig Jahren zum Schutz demokratischer Werte gefasst wurden, gelten für uns jedoch auch hinsichtlich des neuen Verfassungssystems als maßgebend.
Ad 6.) Dieser Gedanke wird aus der Verfassung der Schweiz übernommen. In rechtlicher Hinsicht gibt es keine Korrelation zwischen Verantwortung und Freiheit. Die Freiheit ist unveräußerliches Eigentum des Menschen. Eine andere Frage ist, dass der Mensch Verantwortung für sein eigenes Schicksal bzw. das Schicksal der Gemeinschaft, zu der er gehört, trägt.
Ad 7.) Diese Frage wird im Rahmen der Diskussionen um die neue Verfassung behandelt. Obwohl für die Beschränkung der Befugnisse, die in der Frage angesprochen wird, auch ausländische Beispiele angeführt werden können, würde ich selbst eine Lösung unterstützen, bei welcher der Handlungsspielraum der jeweiligen Regierung hinsichtlich ihrer Wirtschaftspolitik auf eine andere Weise gesichert wäre.
***
Wie Sie selbst, Herr Steinbeis, sehen können, bedurften Ihre Fragen komplexer Antworten, deren einzelne Elemente voneinander nicht getrennt werden können. Deshalb werden Sie wohl verstehen, dass ich auf der vollumfänglichen und unverkürzten Veröffentlichung meiner Antworten bestehe.
Budapest, den 29. März 2011
Mit freundlichen Grüßen
László Salamon
wie sie die professionalität der pressearbeit von salamon eindeutig als unprofessionell suggerieren, so unprofessionell scheint ihr umgang in höheren ebenen. die begründung des büros ist schlüssig und die verhaltensweise üblich. möglich, daß salamon in der tat nicht antworten wollte – aber zu ihrem eigenen nachteil scheinen sie nicht nachgehakt zu haben bzw. hier aufzuklären.
den denkzettel salamons, seine antworten ausgerechnet ihrem ungebetenen widersacher zukommen zu lassen, haben sie daher (meines erachtens!) verdient, für diplomatie und fingerspitzengefühl scheint es nicht gereicht zu haben, wenn die ideologie nicht stimmig ist.
ihr argument, schwammige begriffe gehörten nicht in eine verfassung, kann ich dagegen nur befürworten. gerade, weil sich die ungarische regierung darauf berufen will, zwar spät, aber dadurch reich an erfahrungen diese verfassung geschrieben zu haben.
zur verfassungstheorie im allgemeinen und ihre bedeutung bzw. anwendung in staatsgeschäften: gemessen am mittel der vergleichbarkeit von allenfalls rudimentär vergleichbaren staaten wie deutschland und ungarn dürfte ein benchmark zwischen diesen beiden verfassungen kein schlechteres licht auf ungarn werfen, wie sie es versuchen. ihre polemik klingt wie der schrei nach freiheit von den usa, wenn es mal wieder um ressourcen geht, die es herzubomben gilt – wer im glashaus sitzt…
(oder wollen sie nun ernstlich behaupten, ungarn gehöre, völlig aus dem eu-zusammenhang und dem allgemeinen national-trend gerissen, separat als kommender schurkenstaat betrachtet, inmitten des fried- und freiheitsliebenden dunstkreises der eu, inmitten der grenzenlosen und sich in schönster blüte befindenden pressefreiheit?)
ihre so genannte berichterstattung zur verfassung ungarns ist durchweg provokation in reinform. inhaltlich kopieren sie vornehmlich aus dem interview von herrn kis – da gewinnt man den eindruck, sie haben von verfassungsrecht kaum ahnung, auch wenn sie darüber schreiben.
ein möglicher beweis dafür: sie schreiben vor der übersetzung der verfassung: “Das Ding scheint mir jedenfalls nicht offensichtlich und ausschließlich des Teufels – sehr abhängig davon, wie damit praktisch umgegangen wird.”
übrigens: wären sie dabei geblieben, wäre es zu den ganzen provokationen auch nicht gekommen – denn prinzipiell ist das wohl und wehe jeder verfassung insbesondere von der praktischen umsetzung abhängig.
beispiel deutschland: was in ungarn nun in der verfassung steht, ist in deutschland seit der agenda 2010 längst vollzogen – unter inkaufnahme des bruchs mit dem grundgesetz.
ebenfalls unterstützend hätte wirken können, ohne vorgefertigte meinung vorzugehen. die antworten von herrn salamon sind äußerst interessant und wären fundgrube für zahlreiche nachfragen.
wirklich schade, daß sie die chance verstreichen ließen, konstruktiv auf ein wichtiges juristisches ereignis mitten in europa einzugehen, scheinbar aus rein persönlichen interessen und einem irgendwie permanent durchsickernden profilierungsgehabe.