27 August 2021

Unsere Leute

Es ist vorbei, die Luftbrücke aus Kabul ist eingestellt. Der Einsatz war zu gefährlich geworden für unsere Bundeswehr, und in der Tat haben gestern IS-Selbstmordbomber zwar nicht unsere Soldaten, aber 12 amerikanische und eine fürchterliche Zahl von Afghan_innen in den Tod gerissen. Wie viele darunter waren unsere, waren Leute, die für uns und mit uns gearbeitet haben während der 20 Jahre, in denen wir unsere Freiheit am Hindukusch mitverteidigt haben? Was heißt hier überhaupt unsere? Was ist das überhaupt jetzt noch für eine Kategorie? Wie grenzt man das ab? Und wer? Und mit welchem Recht?

“Unsere Arbeit”, schreibt Heiko Maas, der brave Mann und Sozialdemokrat und – einstweilen bzw. immer noch – amtierende Bundesminister des Äußeren der Bundesrepublik Deutschland, ist mit dem Abflug des letzten Bundeswehrflugzeugs keineswegs getan. Sie geht, verspricht er for whatever it’s worth, “solange weiter, bis alle in Sicherheit sind, für die wir in Afghanistan Verantwortung tragen”. Was heißt hier eigentlich Wir? Was heißt hier Sicherheit? Was heißt hier Verantwortung?

Verantwortung, das ist ein Begriff, mit dem Jurist_innen viel anfangen können. Da geht es um Zuständigkeit, um Zurechenbarkeit, um Haftung. Da wird zwischen dem, was einer tut, und dem, was dann passiert, eine Verbindung, eine Bindung geschaffen: Man kann nicht einfach davonspazieren. Man kann nicht sagen: mich geht das alles gottseidank nichts an. Da sind Erwartungen entstanden, dass man sich gefälligst kümmert. Und die werden, wenn nötig, durchgesetzt.

Die Bundesrepublik Deutschland will Verantwortung übernehmen für das Schicksal seiner so genannten afghanischen Ortskräfte. Der gesetzliche Ort, an dem sie das zu tun behauptet, ist § 22 S. 2 Aufenthaltsgesetz:

Eine Aufenthaltserlaubnis ist zu erteilen, wenn das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat oder die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme erklärt hat.

Das ist die Rechtsgrundlage für das sog. Ortskräfteverfahren, in dem lokale Mitarbeiter von Bundeswehr, BMZ usw. in Afghanistan Einreisevisum und Aufenthaltstitel für Deutschland erlangen können. Es ist mitnichten das Auswärtige Amt, wie man vielleicht meinen könnte, das darüber entscheidet. Es ist das Innenministerium. Dort wird darüber entschieden, wer reinkommt und wer nicht: Es ist das BMI, das “die Aufnahme erklärt”. Oder nicht.

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The International Journal of Constitutional Law (ICON) invites abstracts for the symposium “Covid Stories: Stories of the impact of Covid 19 on inequalities in academia and beyond”. The symposium will assemble short personal reflections that create a conversation about effects of the pandemic in academia and in the society more broadly. More details can be found here.

Please send your abstracts of around 500 words to iconassociateeditor@nyu.edu before 1 October 2021.

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Außenpolitik ist bekanntlich die Domäne der Exekutive, rechtlich traditionellerweise allenfalls schwach gebunden und parlamentarisch nur schwach kontrolliert. Darum handelt es sich hier nicht. Es handelt sich um Innenpolitik. Es handelt sich um (Grenz-)Polizei. Wobei aber der einzige Maßstab, den das Gesetz dem exekutiven Ermessen hierbei mit auf den Weg gibt, die “Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland” ist.

2015 darf sich jetzt nicht wiederholen, heißt es jetzt allenthalben aus dem Mund von Konservativen und/oder Innenministern in Deutschland und Europa. 2015 war das Jahr der vermeintlichen “Grenzöffnung” für Geflüchtete v.a. aus Syrien und Irak, die in Wirklichkeit das Unterlassen einer europarechtswidrigen Grenzschließung war. Das verfassungsrechtliche Kernargument der Gegner dieser Entscheidung war, dass dieselbe für Demokratie und Rechtsstaat zu wesentlich gewesen sei, um allein aus dem Ermessen der Exekutive heraus gefällt werden zu dürfen: Das hätte das Parlament verantworten müssen. Hat eigentlich irgendeiner dieser Kritiker etwas an dem entfesselten Ermessen der Exekutive in § 22 S. 2 AufenthG zu bemängeln?

Sortiermaschinen

Gestern hat der Soziologe Steffen Mau in Berlin sein Buch “Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert” vorgestellt. Er erzählt die Geschichte der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten nicht mehr allein als eine Geschichte der Grenzöffnung, sondern auch und vor allem als eine der Grenzschließung. 1989 gab es auf der Welt zwölf befestigte Mauergrenzen. Heute sind es 77. Wer wo durchkommt und durchgelassen wird, wird dabei immer selektiver und voraussetzungsreicher. Wer den richtigen Pass hat (Deutsche!), spürt die Grenzen kaum, segelt fast überall sorgen- und visafrei durch, ist überall willkommen und daheim (sofern es keine Terroristen gibt, natürlich). Wer den falschen Pass hat (Afghan_innen!), ist dagegen buchstäblich in sein Land eingesperrt. Es ist nicht die Politik Afghanistans, die das bewirkt (nicht einmal unter den Taliban). Es ist die Politik ferner Länder mit großem Hebel. Solcher Länder wie der Bundesrepublik. Afghanische Fluglinien, die in Kabul Afghanen ohne Visum an Bord lassen und nach Deutschland fliegen, verletzen deutsches Recht, das europäische Vorgaben umsetzt. Es ist die deutsche bzw. europäische Grenze, die am Hindukusch verteidigt wird. Und ich bin gespannt zu erfahren, ob die von Außenminister Maas im Namen der Bundesregierung übernommene Verantwortung für die Sicherheit der in Afghanistan verbliebenen “Ortskräfte” in einer veränderten Sichtweise auf die Fluchthelfer a.k.a. Schleuser resultiert, die denselben am Ende vielleicht tatsächlich effektiv über die Grenze helfen.

§ 22 S. 2 AufenthG ist kein Ausfluß deutscher humanitärer Seelenschönheit, sondern integraler Bestandteil dieses Grenzregimes. Hier wird nicht Verantwortung für Afghan_innen übernommen, sondern für das Sortieren, Selektieren und ggf. Draußenhalten von Afghan_innen. Aus Sicht der Grenzpolizei und aller, die in ihren Kategorien denken, ist das nur natürlich: Grenzen scheiden das Innen vom Außen, und die Grenzpolizei ist drinnen und Afghan_innen, ob Ortskräfte oder nicht, sind eben draußen, und die Entscheidung, um die es geht, ist, ob man sie hereinlässt. Ihnen gegenüber hat man keine Verantwortung, jedenfalls keine rechtlich verbindliche. Nur Interessen.

2015 war das Jahr, in dem die Verantwortung für das Elend in Syrien, Irak und weiteren Kriegsgebieten und für die Dysfunktionalität seines eigenen Grenzregimes Europa endgültig eingeholt hat. Natürlich darf, soll und wird sich das weiter wiederholen. Die Afghan_innen kommen. Sie zwingen uns Deutsche und Europäer_innen, unsere grenzpolizeilichen Sortiermaschinen als solche wahrzunehmen, zu reflektieren und zu politisieren. Nicht die Natur ist es, die diese Sortiermaschinen betreibt. Das sind wir. Wir haben uns dazu entschieden. Wir können uns auch dagegen entscheiden. Unsere Verantwortung.

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64. Bitburger Gespräche: Der Klimawandel als Herausforderung für das Recht

Der Klimawandel verkörpert eine epochale Herausforderung – nicht nur für die Bewahrung der biologischen Vielfalt, für Politikgestaltung, Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Entwicklung, sondern gerade auch für das Recht.

Auf den 64. Bitburger Gesprächen soll diskutiert werden, wie sichergestellt werden kann, dass hinreichend strenge Maßnahmen beschlossen werden, um die Folgen der Erderwärmung in der Zukunft abzuschwächen.

Mehr Informationen gibt es hier.

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Wir hatten, finde ich, zu diesem Themenkomplex in dieser Woche ein paar extrem interessante Texte auf dem Blog. Dazu sogleich. Zuvor noch einige Ankündigungen in eigener Sache:

Podcast 2.0

Wir haben die Sommerpause genutzt, um ein Projekt voranzutreiben, das uns schon lange am Herzen liegt. Letztes Jahr, mitten im ersten Lockdown, hatten wir den “Corona Constitutional”-Podcast gestartet: kurze, intensive Expert_inneninterviews, eine ziemlich improvisierte, etwas mit Tesafilm und Spucke zusammengeklebte Sache, die uns großen Spaß gemacht und eine Menge Resonanz ausgelöst, uns aber auch deutlich an die Grenzen unserer Möglichkeiten geführt hat.

Hier ist, was wir vorhaben: Wir wollen den Podcast – sein künftiger Name: “Verfassungspod” – neu aufsetzen. Wir wollen uns im Monatstakt auf die Spur eines bestimmten verfassungsrechtlich heißen Themas begeben und aufklären, was es damit auf sich hat. Wir suchen die Leute, die davon wirklich etwas verstehen, und geben keine Ruhe, ehe wir das Wissen beisammen haben, das man zum Verständnis des Geschehens braucht. Was wir herausgefunden haben, stellen wir dann in einer Podcast-Folge vor.

Zentral ist dabei die Rolle, die die Hörer_innen spielen. Mit ihnen werden wir jeweils vorab diskutieren, welchen Fragen wir  konkret nachgehen sollen und wo die heißen Punkte in dem jeweiligen Themenfeld genau liegen. Zugang zu diesem Forum erhält, wer mit einem speziellen, eigens für den Podcast eingerichteten Steady-Paket von 5 € im Monat unterstützt.

Damit das Ganze auf stabilen Füßen steht, brauchen wir 1000 Steady-Mitglieder, die dieses Paket buchen: Wir haben investiert und u.a. eine neue Stelle für das Projekt geschaffen. JOCHEN SCHLENK ist schon lange als studentischer Mitarbeiter bei uns an Bord, hat jetzt sein Studium abgeschlossen und wird sich künftig als Redakteur um dieses Projekt kümmern, was uns sehr freut.

Wenn Sie Mitglied unserer Verfassungspod-Community werden, erwarten Sie also exklusive Vorteile: Sie können die Fragen, die wir stellen, mitgestalten. Sie können obendrein, wenn Sie es  genauer wissen wollen, die Gespräche mit Forscher_innen und Expert_innen, die wir für die Folge geführt haben, ungeschnitten anhören. Und natürlich bekommen Sie, wie alle unsere Steady-Mitglieder, unsere berühmte Tasse (⇒) kostenlos zugeschickt.

Also: bitte hier entlang.

Die erste Verfassungspod-Folge wollen wir in einem Monat, kurz vor der Bundestagswahl, fertig haben, und der Startschuss dafür fällt… jetzt! Sie können abstimmen, welches Themenfeld wir uns vorknöpfen sollen. Zur Auswahl stehen

a) Afghanistan

b) Deutsche Wohnen Enteignen (die Berliner Volksabstimmung dazu findet zeitgleich zur Bundestagswahl statt), und

c) die wahl-, parteien- und parlamentsrechtlichen Fragen rund um die Bundestagswahl selbst.

Zur Abstimmung geht es hier.

Das Ganze ist übrigens weiterhin ein Experiment. Was nicht funktioniert, werden wir anpassen. Ihr Input ist uns dabei natürlich mehr als willkommen.

Noch zwei Neuigkeiten in eigener Sache: Unser Redaktionsteam wächst weiter. MAXIM BÖNNEMANN war über den Sommer als Referendar in der Wahlstation bei uns, und die Zusammenarbeit hat so viel Spaß gemacht, dass er jetzt als Redakteur bei uns bleibt und sich schwerpunktmäßig um die Online-Symposien kümmern wird. Und LUISE BUBLITZ ist als Redakteurin mit an Bord und ersetzt die famose Luise Quaritsch, die ein attraktives Angebot aus Brüssel erhalten hat.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Wie das Bundesinnenministerium arbeitet und denkt und operiert, hat der Sozialanthropologe WERNER SCHIFFAUER in den letzten Jahren gründlich erforscht und schildert ausführlich und ohne falsche Zurückhaltung, warum ihn das Ortskräfte-Debakel und die entscheidende Rolle, die das Ministerium dabei spielte, nicht weiter überraschte. Sehr lohnende Lektüre!

Die Unzulänglichkeiten des deutschen Ortskräfteverfahrens auf Basis von § 22 S. 2 AufenthG untersuchen NERGES AZIZI, MOJIB RAHMAN ATAL und STEFAN SALOMON und kommen zu dem Schluss, dass es eine menschenrechtliche Schutzverantwortung der Bundesrepublik gibt, die allen Afghan_innen und nicht nur den sog. Ortskräften einen Anspruch auf ein Einreisevisum gibt. NERGES AZIZI führt in einem zweiten Post diesen Gedankengang noch weiter und zeigt, wie eine rechtliche Argumentation für reguläre Einreisemöglichkeiten generell das Risiko birgt, exklusive Logiken und Zwänge des europäischen Migrations- und Grenzregimes zu reproduzieren.

Wie dieses europäische Grenzregime im Jahr 2021 funktioniert, kann man zurzeit an der polnisch-belarusischen Grenze sehen. Dort stecken 32 Afghan_innen im Niemandsland fest, und die einzige Verantwortung, die Polen und die EU akzeptieren, ist die, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. DIMITRY VLADIMIROVICH KOCHENOV und BARBARA GRABOWSKA-MOROZ machen aus ihrem Entsetzen keinen Hehl.

Dass die deutsche Bundesregierung von dem Fall Kabuls so überrascht werden konnte, hat auch mit dem Versagen der Geheimdienste zu tun. Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Roderich Kiesewetter (CDU), hat vor diesem Hintergrund einen “Bundessicherheitsrat” gefordert. KLAUS FERDINAND GÄRDITZ untersucht die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für diesen Vorschlag.

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Wenn Sie auf eine Konferenz aufmerksam machen möchten, Stellen zu besetzen haben oder für Veröffentlichungen werben möchten, können Sie das beim Verfassungsblog tun. Unser Editorial, das als Newsletter weltweit verschickt wird, erreicht über 11.000 Verfassungsrechtler_innen.

Zögern Sie nicht sich bei uns zu melden (advertise@verfassungsblog.de).

Beste Grüße
Ihr Verfassungsblog-Team

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Die slowenische Regierung weigert sich, ihre Pflichten bei der Besetzung der slowenischen Posten für die Europäische Staatsanwaltschaft zu erfüllen. JURE VIDMAR beleuchtet, wie es zu der Blockade kam, wie ihr rechtlicher Hintergrund  aussieht und warum sie sich so bald nicht auflösen lassen wird.

In Bosnien-Herzegowina hat der Hohe Kommissar ein Gesetz erlassen, das die Leugnung von Völkermord und die Glorifizierung von Kriegsverbrechern unter Strafe stellt. CARNA PISTAN unterstreicht, dass dies der erste konkrete Versuch ist, die Kultur des Wegschauens gegenüber den Verbrechen des Bürgerkriegs in den 90er Jahren ist, glaubt aber nicht, dass er zur Aussöhnung viel beitragen kann.

Vor der Bundestagswahl gibt es weiterhin eine Fülle interessanter wahl-, parteien- und parlamentsrechtlicher Einzelfälle. Einer davon betrifft den stellvertretenden Landesvorsitzenden der nordrhein-westfälischen AfD, dem wegen seiner Selbstdarstellung als “freundliches Gesicht des NS” eine Ämtersperre droht, aber sein Listenplatz für die Wahl nicht mehr streitig gemacht werden kann. Warum das so ist, erklärt LAURA JUNG.

Eine Pflicht, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, gibt es bislang nicht und wäre auch in der deutschen Bevölkerung unpopulär. Warum der Impfzwang, verstanden als solidarischer Beitrag zum Schutz freiheitsermöglichender Institutionen, mit einem liberalen Staatsverständnis durchaus konform gehen würde, diskutiert MATTHIAS WACHTER.

Sind Negativzinsen ein Eigentumseingriff? Ex-Verfassungsrichter und Beinahe-Bundesfinanzminister Paul Kirchhof hat diese Frage in einem Gutachten bejaht. JOACHIM WIELAND ist alles andere als überzeugt.

Das wär’s dann für diesmal. Ihnen alles Gute und eine gute Woche, bleiben Sie gesund, lassen Sie sich impfen, damit die Kinder es nicht müssen, denn die können ja nun wirklich nichts dafür.

Ihr

Max Steinbeis


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