Unterbrochene Verweiskette
Eine Glosse über die rechtswissenschaftliche Verweispraxis
Auch andere Wissenschaften sind Textwissenschaften, aber nirgends huldigt man dem Textbezug so ernst wie in der Rechtswissenschaft. Was sich ahnen lässt: Der Textbezug der Rechtswissenschaft ist grenzenlos. Beschränken kann uns nur Vernunft. Oder wegen der Pandemie geschlossene Bibliotheken.
In pandemischen Zeiten wird die Problematik der rechtswissenschaftlichen Verweispraxis spürbar. Wie soll ohne Zugang zu Bibliotheken und mit mageren Online-Zugängen weiterhin so verwiesen werden, wie man es uns vorgemacht hat – so verschwenderisch, so maßlos, so geltungsbedürftig und damit angewiesen auf die juristische Vollbibliothek? Zeit für eine Kritik an der Verweispraxis der Rechtswissenschaft.
Fußnoten wecken Wissenssehnsüchte
Auch wenn es in der Methodenlehre heißt, dass wir uns in der Rechtsauslegung zuerst (und zuletzt) auf den Wortlaut des Gesetzes beziehen, so bilden doch die Sekundärtexte in der Jurisprudenz die wahren Maßstäbe. Kommentare, Aufsätze, Entscheidungen, Monographien, all das fließt in die durch Rechtswissenschaftler*innen produzierten Texte ein. Und wie es einfließt. Es flutet die Texte, an jedem Halbsatz bildet sich ein hochgestelltes, aber tiefes Wasserloch und der Grundwasserspiegel an Fußnoten muss halbseitig stehen, sonst läuft der Text Gefahr, wissenschaftlich auszutrocknen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Pandemie darf nicht als Entschuldigung für fehlende Qualität wissenschaftlicher Texte herhalten und niemand möchte die Fußnote abschaffen. Die Fußnote macht einen Text wissenschaftlich nachvollziehbar, sie zeigt, auf welcher Grundlage ein Text entstanden ist und sie informiert die Leser*innenschaft über den inhaltlichen Kern des Textes hinaus. Sie gibt an, was berücksichtigt wurde (und was nicht) und auf wen sich bezogen wird (und auf wen nicht). Fußnoten bilden am Grund der Seite so etwas wie das Fundament eines Textes.
Und Fußnoten sind wunderschöne Textorte. Sie wecken Wissenssehnsüchte, machen neugierig, sie sind Raum für jene Art von Anekdote, die auch so manches Gespräch erst wirklich interessant macht, sie bieten Raum für neckische Spitzen und Humor, sie können Tribut zollen, können klarstellen und erläutern, können präzisieren und sind Plateaus, von denen aus man so manchen Weitblick genießen kann.
Die unschönen Seiten des Textbezugs
Fußnoten sind aber auch ein guter Ort für wissenschaftliche Allüren, die im Haupttext peinlich sind: Literweise unnützes Detail- und Sonderwissen und der unfeine Versuch, die Gegenmeinung in Fußnoten wie beiläufig verächtlich zu machen („abwegig“, „unzutreffend“, „fehlgehend“). Auch die schamlose Absage an eine sinnvolle Begrenzung des eigenen Wissens gehört in diese Kategorie. Was den Haupttext überladen würde, findet sich oft auf der unteren Hälfte der Seite wieder. In kleiner Schrift verfasst, ist dort genug Platz für jenes angelesene Detailwissen, das wir der Leser*innenschaft eigentlich nicht zumuten können – aber auslassen wollen wir es ja auch nicht, jetzt wo wir es mit viel Arbeit angelesen haben.
Lautet die goldene Regel der wissenschaftlichen Textproduktion doch eigentlich: Schreibe für die Leser*innenschaft und deren möglichst ungehinderten und sicheren Erkenntnisgewinn, so lässt sich an dieser Stelle nur mutmaßen, dass zur Schau gestellte Belesenheit und der unbedingte Wille einen besonders gescheiten Eindruck zu machen, die Interessen der Leser*innenschaft oft schlagen dürften.
Auch ein anderes Spiel kennen wir: Meinung und Gegenmeinung tragen im Namen der selbstverordneten Klarheit und Genauigkeit in Fußnoten Jahrhunderte alte (und lange) Kämpfe aus. Zwar können diese Kämpfe meistens nicht eindeutig entschieden werden, aber wenigstens der heimliche Verlierer steht von Anfang an fest: der Anteil des Textes auf einer Seite im Verhältnis zum Fußnotenapparat.
Zudem sollten wir es nennen, wie es ist: Jurist*innen zitieren vielleicht auch aus profaner Angeberei. Texte sind auch immer ein Wettstreit darum, wer das Problem besser begriffen hat, wer es in jener Komplexität abbilden kann, die der Realität am nächsten kommt und wer die konsequenteste Lösung anbietet. Auch deswegen können wir die Selbstdarstellung, die auf so manchen unteren Abschnitten von Seiten geschieht, nicht wirklich übelnehmen, sie ist Teil des (Wett)Streits, des Spiels, es sind gewissermaßen Nebenkriegsschauplätze oder Übungen, bei denen man sein Können beiläufig demonstriert.
Und wer in der Reihe „Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ liest, der kommt nicht umhin beeindruckt zu sein, auch wenn die Verweise sehr dicht gelegt sind und dem Text kaum Raum zur Entfaltung lassen. Hier öffnet sich hinter jeder Miniaturzahl ein eigenes kleines Universum, die Fußnoten strotzen nur so vor Hintergrund- und Detailwissen und eigentlich könnte man auch nur die Fußnoten lesen, weil sie einen eigenen Zweittext bilden. Man ahnt es schon, nicht jede Fußnote tanzt so leichtfüßig und trotzdem stark und strahlend vor Selbstbewusstsein über das Verweisparkett wie diese. Und das muss auch nicht sein. Die meisten Publikationen erfordern nach ihrem Zweck schon eine solche Verweiskultur nicht, sie brauchen eine eigene, eine schlichtere und pragmatischere Kultur des Verweisens.
Die drei Diskurse
Interessantwerweise zitieren die Angehörigen der Rechtswissenschaft nicht schon immer so exzessiv wie sie es heute tun. Wer zum Beispiel Rudolf Smends berühmten Beitrag zum Recht auf freie Meinungsäußerung, 1928 ebenfalls in der Reihe Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer erschienen, liest, die oder der stellt fest, dass Smend mit 81 Fußnoten auf 29 Seiten auskommt. Geradezu mager im Vergleich zu heute.
Smend hatte keinen Zugang zu juris oder beck-online. Waren diese Datenbanken ein Segen in der Pandemie, so dürfte sich mit ihrer Entstehung die Verweispraxis doch durchaus verändert haben. Denn als Datenvervielfältigungssysteme machen sie auch das Vervielfältigen von Verweisen leicht.
Dabei ist das Verweisen zunächst schlichte Methodik. Die Rechtswissenschaft ist nun mal Textwissenschaft, Texte werden ausgelegt, neue Texte entstehen auf der Basis von früheren. Die absorbierende Opulenz der rechtswissenschaftlichen Verweispraxis ist auch der schier unendlichen Zahl an Texten, auf die sich die Rechtswissenschaft bezieht, geschuldet.
Diese Masse an Texten entsteht, weil es drei parallel stattfindende, sich aufeinander beziehende Diskurse gibt: die Rechtsprechung, die Rechtspolitik oder Legislative und die sogenannte Literatur, gemeint ist die Rechtswissenschaft. Täglich produziert jeder dieser Stränge Texte und das schon seit vielen hundert Jahren. Einzelne Fragen können parallel in Rechtsprechung und Literatur diskutiert werden, dann entstehen zu einem Thema zwei gleichzeitige Diskurse, die es im jeweils anderen angemessen zu spiegeln gilt. In jedem Fall führt das Gegenüber von Literatur und Rechtsprechung zu einer Vervielfachung an Texten, die dann beim Verfassen von neuen Texten auszuwerten sind. Es entsteht ein unglaublicher Berg, auf den jeder neue Text mühsam hinaufgewälzt wird und der notwendigerweise für ein Mehr an Fußnoten sorgt.
Der ewige Verweis
Man sagt, gute rechtswissenschaftliche Beiträge zeichnen sich mitunter dadurch aus, dass sie möglichst die gesamte Literatur zu einer Thematik aufführen und damit neben ihrem Inhalt auch eine Textsammlung bieten. Damit verfügt die Rechtswissenschaft über eine Art Schneeballsystem. Dieses System macht die Masse an Texten beherrschbar und erleichtert die Literaturrecherche.
Zu alledem hinzu kommt allerdings ein dem Jurist*innenstamm eigener, gewisser Objektivierungseifer. Die Fußnotenobsession, die lustvolle Wut am Verweis, am ewigen Bezug auf den früheren Text hat noch weitere Gründe. Denn der Verweis auf Andere, die vor einem schon ähnliches gedacht haben, verschafft dem Geschriebenen Legitimation: Nicht nur ich denke so, sondern (schau!) die anderen auch (und gemeinsam bilden wir die herrschende Meinung). Dieses Anknüpfen ist notwendig, denn vieles, vielleicht fast alles, wurde vor uns schon gedacht, geschrieben und beurteilt. Hinzu kommt: Rechtswissenschaftler*innen arbeiten zum allergrößten Teil nicht empirisch. Dass dies eine Schwäche im ernsten Versuch der Wahrheitssuche ist, weist ihr größter Teil von sich. Trotzdem wirken aufgeblähte Fußnotenapparate manchmal wie ein schlechter Versuch, diesen Mangel durch eine möglichst gut belegte herrschende Meinung zu kaschieren.
Mit dem ewigen Verweis kann auch geschickt der subjektive Anteil eines Textes verschleiert werden. Einzelansichten oder gar politische Stoßrichtungen können so dicht in die Knüpfarbeit aus Bahnen an Fußnoten eingewebt sein, dass sie vom äonentiefen und dunklen Fußnotenmeer verschluckt werden. Das kann von der schreibenden Person gewollt sein, tragischer ist es, wenn diese Kultur unbewusst und unreflektiert übernommen wird.
Denn in diesem Meer an Fremdbezug geht der eigene Gedanke nicht nur oft unter, er ist gegen einen gewissen Wasserdruck auch schwer zu kultivieren. Es scheint, als müsse jede Aussage, und sei sie noch so allgemein, belegt werden. Es ist wohl ein grundsätzliches Dogma der Rechtswissenschaft und schon früh wird es eingebläut, allerdings eher in Rot, schwimmend in den 7 Zentimetern offenem Randgewässer der Hausarbeit: „Beleg?“. Das ist richtig, keine Frage, wer wissenschaftlich arbeiten möchte, der muss sich auf andere Texte beziehen und auch kenntlich machen, woher ein Gedanke stammt.
Zur Wissenschaft, ebenso wie zur Rechtsanwendung, gehört aber genauso ein frischer Blick auf das bereits Existierende. Können wir das den Jurist*innen von morgen vermitteln, wenn die Forderung nach Belegen und einer peniblen Verweisgenauigkeit derart im Vordergrund stehen? Denn wo durch den ewigen Vergangenheitsbezug, den das überschwängliche Verweisen nun mal auch bedeutet, den alten Texten so großer Raum eingeräumt wird, besteht auch immer latent die Gefahr, dass neue Gedanken es schwer haben.
Zeichnet sich durch das Verweisen ein gut eingetretener Pfad ab, so wirkt der neue dagegen eher wie mit ein paar stumpfen Fußnoten ins Dickicht geschlagen. Aber auch so manch gut eingetretener Fußnotenpfad ist schwer zu begehen. Wer diesen oder jenen Verweis in einem großen Fußnotenapparat verfolgt, wird feststellen müssen, dass er nicht gerade unmittelbar jenen Gedanken belegt, der im Text expliziert wird. Irgendetwas steht schon da, aber nicht das, was der Text verspricht. Vielleicht scheitert so manche Texterkenntnis schlichtweg am Unvermögen der suchenden Person, aber jede*r hat sicherlich schon einmal sehr enttäuscht eine Nebelkerze in den Fußnoten auspusten müssen.
Unterbrochene Verweiskette
Die natürliche Umgebung der schreibenden Juristin ist die Bibliothek oder der gut ausgestattete Lehrstuhl. Dort gleitet man mühelos von warmer Quelle zu heißer Quelle und suhlt sich in der entspannenden Wirkung des organischen Rechercheflows. Das verführt zu ebenjenen Fußnoten, die nicht mehr nur noch Beleg für Erkenntnis sind, sondern Orte der Maßlosigkeit. Der während der Pandemie nur eingeschränkte oder völlig verhinderte Zugriff offenbart die möglicherweise leicht zwanghafte Zitationsmanier des Jurist*innenschlags. Wir zitieren abgekoppelt von unseren Erkenntnisbedürfnissen und weitaus ambitionierter als es vielen von uns über die Zeit der Pandemie möglich war. Vielleicht auch deshalb war der Blogbeitrag, der untenrum doch recht frei ist, das Medium der Stunde.
In Zeiten geschlossener Bibliotheken bleibt nur die oft spärlich ausgestattete Hausbibliothek und der kaltleuchtende Bildschirm. Wie überhaupt den Bezug herstellen, wie an teils hunderte Jahre alte Diskurse anknüpfen? Die Online-Ressourcen so mancher Universität (es variiert sehr stark) gleichen eher einem Blockflötensolo und so manche*r versuchte damit über Monate eine Promotionssinfonie zu bestreiten, die ein ganzes Orchester erfordert.
Dass wir die juristische Vollbibliothek benötigen, um große Projekte zu bestreiten, daran wird nicht zu rütteln sein. Und dennoch: die unterbrochene Verweiskette schmerzt vielleicht ein wenig mehr als nötig und gibt damit Anlass sich mit der Verweispraxis der Rechtswissenschaft auseinanderzusetzen.
Neues Zitieren
Unbestreitbar ist das Auswerten von Texten und damit das Anknüpfen an frühere, an vorherige Texte notwendige Methode. Längst ist das Verweisen aber nicht mehr nur noch das richtige Verfahren zum Erkenntnisgewinn. Die Art und Weise, wie wir verweisen, wie wir anknüpfen, hat sich vom Dasein als Methode emanzipiert: aufgeblähte Fußnotenapparate, seitenlange Subtexte, unlesbare Verweisketten innerhalb der Corona-Verordnungen und große Diskussionen unter kleinen Ziffern. Das Verweisen ist Selbstzweck geworden und schon lange huldigen wir anderen Göttern als dem schlichten Verweis.
So zu verweisen, war während der Pandemie nur wenigen möglich und stellt sich auch aus weiteren Gründen nicht mehr als sinnvoller Standard dar. Was wir brauchen, ist eine reflektierte Fußnotenkultur, die die veränderten und noch anhaltenden Umstände zum Anlass nimmt über die zum Stil erhobene Windmacherei vorheriger Generationen zu reflektieren.
Eine rechtswissenschaftliche Fußnotenkultur kann anders aussehen. Sie berücksichtigt, dass es die Vollbibliothek für viele Schreibende nicht (mehr) gibt und sie darf die Fußnote auf ihr Wesentliches reduzieren. Es geht um das Belegen von Aussagen, den Nachweis eines fremden Gedankens, das Stützen der eigenen Ansicht oder die Angabe von Gegenreden und den Hinweis auf weitere Literatur. Diese Fußnotenkultur berücksichtigt die Art der Publikation und ihr Publikum. Sie ist uneitel, aber nicht witzlos und dient der Leser*innenschaft und nicht der Geltungssucht der Autor*innenschaft. Sie entledigt sich des Vergleichs mit anderen Publikationen und berücksichtigt die Zugangsmöglichkeiten der Autorin und des Autors zu Literatur.
Wenn wir diese hier als Sonntagsrede vorgetragende pandemische Erkenntnis auch am nachpandemischen Montag beherzigen würden, wäre viel gewonnen.
Die nächste Glosse dann über die entgrenzte Verwendung von Metaphern…
Der Fußnotenapparat scheint in Ihrer Darstellung die Topographie und das Klima sämtlicher Weltregionen zu enthalten: Von Meeren, Bergen, Fundamenten, Wasserlöchern, Pfaden und dichtem Gestrüpp, Plateaus mit weiter Aussicht und vom Nebel, von ganzen Universen ist die Rede. Die im Text kritisierte ausufernde Fußnotentechnik wird durch ihre totale (und auch total widersprüchliche) Topologisierung reproduziert. Und die Coronapandemie kann doch auch auf lange Sicht den genau gegenteiligen als den hier erhofften Effekt haben: Durch die erzwungene Digitalisierung werden sämtliche Datensätze unbegrenzt zugänglich und rechtswissenschaftliche Texte verlieren sich in ihren eigenen textuellen Techniken. Vielleicht wäre es, um es besser zu machen, auch nur nötig, die Kontingenz der rechtswissenschaftlichen Techniken in sie selbst gleichsam miteinzuschreiben. Ein sinnvoller erster Schritt wäre es meines Erachtens, den Studierenden zu erlauben, in ihren Hausarbeiten “ich” zu schreiben. So könnte wenigstens nicht der Eindruck entstehen, juristische Texte seien subjektlos oder selbst von der Warte des Absoluten aus verfasst.
Wer verbietet denn bitte Studenten, in ihren Hausarbeiten „ich“ zu schreiben? Verschwurbelte Konstruktion à la „der Verfasser“ lassen sich wohl eher auf schlechte Vorbilder in juristischer Fachliteratur zurückführen. Zum Glück verändert sich das gerade etwas und gestandene Professoren sorgen für eine Renaissance des Ich.