Urgenda III: Die Niederlande als Modell richterlichen Klimaschutzes
Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! Die Welt geht im Klimawandel verloren, aber der Hohe Rat, das oberste Gericht der Niederlande, stemmt sich pünktlich zu Weihnachten mit aller richterlichen Gewalt dagegen. Alle Welt jauchzet ihm Ehre. Freue, freue dich, oh Menschheit?
Am 20. Dezember hat der Hoge Raad in seiner Entscheidung „Urgenda“ in dritter und letzter Instanz die niederländische Regierung dazu verurteilt, die Treibhausgasemissionen der Niederlande bis Ende 2020 gegenüber dem Basisjahr 1990 um 25% zu senken. Der Hoge Raad bestätigt damit entsprechende vorinstanzliche Entscheidungen aus den Jahren 2015 und 2018. Die Regierung, die selbst nur eine Reduktion um 20% anstrebte, versprach – wie schon nach den vorinstanzlichen Urteilen – den Richterspruch umzusetzen.
Die niederländische Gerichtsbarkeit ist damit endgültig zum weltweit bestaunten und umjubelten Vorbild einer Bewegung geworden, die unter dem Schlagwort der „Climate Justice“ bemüht ist, die dritte Gewalt für die Durchsetzung einer entschiedeneren Klimaschutzpolitik zu aktivieren. Weltweit hat sie entsprechende Klagen erhoben. Auch in Deutschland und in der EU sind solche Klimaschutzklagen anhängig. Außerhalb der Niederlande waren sie aber noch nicht von größeren Erfolgen gekrönt. Im Gegenteil haben etwa das VG Berlin und das EuG die bei ihnen eingereichten Klimaklagen erst unlängst als unzulässig verworfen.
Im Kern der rechtlichen Auseinandersetzung geht es um die Frage nach der Entscheidungsmacht der Gerichte in der gewaltenteiligen Demokratie. Dürfen oder müssen Richter für sich in Anspruch nehmen, zwingende Vorgaben für den Klimaschutz zu entwickeln? Auf welcher rechtlichen Grundlage kann dies geschehen? Die Entscheidungen der niederländischen Gerichte sind hier zum einen von besonderer Radikalität, zum anderen aber auch von Zurückhaltung gekennzeichnet.
Grundrecht auf Klimaschutz
Radikal mutet insbesondere die von ihnen vorgenommene Ableitung der Klimaschutzvorgaben unmittelbar aus den Grundrechten an. Der Hoge Raad zieht dazu – wie schon die Vorinstanz – die Art. 2 und 8 EMRK als Maßstab heran. Aus diesen Grundrechten auf Leben und den Schutz des Privat- und Familienlebens ergäben sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Umweltschutzverpflichtungen der Vertragsstaaten. Diese Schutzpflichten verlangten nach staatlichen Maßnahmen um reale und unmittelbar drohende Gefahren abzuwehren. Dabei könne es nicht darauf ankommen, ob diese Gefahren Einzelnen oder großen Gruppen oder sogar der Gesamtbevölkerung drohten. Irrelevant sei auch, ob die Gefahr unmittelbar bevorstünde oder sich erst in Zukunft realisieren werde. Zwar könne aus den Grundrechten nicht abgeleitet werden, dass der Staat unmögliche oder unverhältnismäßige Schutzanstrengungen unternehmen müsse. Verlangt werden könnten aber jedenfalls die Maßnahmen, die tatsächlich geeignet seien, die potentiellen Grundrechtsbeeinträchtigungen soweit als möglich abzuwenden.
Zur Bestimmung dieser Maßnahmen rekurriert der Hoge Raad zum einen auf die internationalen Verpflichtungen, die die Niederlande als Vertragsstaat des Pariser Klimaabkommens übernommen hätten und zum anderen auf die vor allem vom IPCC entwickelten und wissenschaftlich weithin konsentierten Reduktionsnotwendigkeiten. In einem System gemeinsamer, geteilter und differenzierter Verantwortlichkeit ergebe sich für die Niederlande eine Reduktionsverpflichtung von mindestens 25% bis Ende 2020. Die niederländische Regierung habe keine hinreichenden Gründe dafür vorgetragen, warum sie von diesem ursprünglich auch von ihr verfolgten Ziel zugunsten einer verminderten Reduktion um nur 20% abgerückt sei.
Die richterliche Verpflichtung der Regierung zu einer Reduktion von 25% sieht der Hoge Raad deshalb als zulässige – und insoweit auch als noch hinreichend zurückhaltende – Einschränkung der Entscheidungsfreiheit von Legislative und Exekutive an. Zwar obliege die Konkretisierung der Klimaschutzpolitik zuvörderst diesen Gewalten. Die Judikative könne und müsse aber auch insoweit die grundrechtlich zwingenden Minimalschutzanforderungen aufzeigen.
Die Rolle der Justiz
Anders als der Hoge Raad hat das VG Berlin die bei ihm eingereichte Klimaklage unter Hinweis auf die Gewaltenteilung und die begrenzte Rolle der Judikative als unzulässig verworfen. Nach der tragenden Urteilsbegründung rechtfertigt sich das abweichende Ergebnis allerdings mehr aus faktischen Überlegungen als aus prinzipiell abweichenden rechtlichen Maßstäben. Auch das VG Berlin erkennt nämlich an, dass eine grundrechtlich relevante Schutzpflichtverletzung grundsätzlich möglich sei. Es betont allerdings die Grenzen dieses Ansatzes. Dem Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt komme bei der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu, der auch Raum lasse, konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Diese weite Gestaltungsfreiheit könne von den Gerichten nur in begrenztem Umfang überprüft werden. Der mit einer solchen Schutzpflicht verbundene grundrechtliche Anspruch sei im Blick auf diese Gestaltungsfreiheit nur darauf gerichtet, dass die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte treffe, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien. Soweit sich nicht in seltenen Ausnahmefällen der Verfassung eine konkrete Schutzpflicht entnehmen lasse, die zu einem bestimmten Tätigwerden zwinge, bleibe die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts dem Gesetzgeber als dem dafür zuständigen staatlichen Organ überlassen.
Nach diesen Maßstäben hat nach Auffassung des VG Berlin die Bundesregierung ihre grundrechtliche Schutzpflicht zum Klimaschutz nicht verletzt. Die bisherigen Maßnahmen des Klimaschutzes seien nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich. Auch das Untermaßverbot sei nicht evident verletzt. Das von den Klägern eingeforderte Klimaschutzziel 2020 stelle nicht das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß an Klimaschutz dar. Ausdrücklich setzt sich das VG Berlin dabei auch mit der Urgenda II-Entscheidung aus den Niederlanden auseinander. Anders als dort gewährleiste hierzulande die Politik der Bundesregierung eine deutlich stärkere Reduktion der Treibhausgase. Während die niederländischen Gerichte auf eine Minimalreduktion von 25% bis 2020 erkannt hätten, erreiche Deutschland bis dahin bereits mit den geltenden Instrumenten eine Reduktion von über 30%.
Die letztgenannte Argumentation veranschaulicht die Irrationalitäten, in die eine Festsetzung von Klimaschutzzielen durch Gerichte nur allzu leicht gerät. Die nur auf den allerersten Blick so viel bessere Klimaschutzbilanz Deutschlands ist nämlich in der Sache kaum mehr als ein Buchungstrick. Weil 1990 als Vergleichsjahr angesetzt wird, errechnen sich für Deutschland hohe Reduktionen, die weniger mit einer engagierten Klimaschutzpolitik als vielmehr mit dem Niedergang der Altindustrie der ehemaligen DDR zu erklären sind. Das ist auch der Grund, weshalb der insoweit deutlich besser informierte EU-Gesetzgeber zu Recht für Deutschland höhere Reduktionsziele als für die Niederlande vorgegeben hat. Schaut man auf die eigentlich relevanten Zahlen zum aktuellen CO2-pro Kopf-Ausstoß, so wird deutlich, dass Deutschland und die Niederlande fast ununterscheidbar nah beieinander liegen. Die Erfolge der Klimaschutzpolitiken beider Länder unterscheiden sich im Ergebnis also keineswegs so, als dass sich daran eine kategorial unterschiedliche Be- und Verurteilung anknüpfen ließe.
Das ist nur ein kleines Beispiel, das aber schon erahnen lässt, wie sehr die grundrechtliche Anleitung der staatlichen Bewältigung des Klimawandels die Gerichte überfordert. Nimmt man die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zum menschengemachten Klimawandel ernst, wie dies die Gerichtsbarkeiten zu Recht getan haben, dann wird schnell überdeutlich, welch überwältigende Menschheitsaufgabe, welch fundamentaler Umbau der Industriegesellschaften hier Not tut. Dass die Judikative mit ihren auf den individuellen (Grund-)Rechtsschutz zugeschnittenen Instrumenten und Fähigkeiten hierzu einen im Endergebnis sinnvollen Beitrag leisten kann, muss man bezweifeln. Bei aller berechtigten Verzweiflung über die Defizite der internationalen und nationalen Klimaschutzanstrengungen: die Gerichte werden hier kaum mehr sein können als eine symbolische Kraft mit langfristig zweifelhafter Wirkung.(( Skeptisch hierzu bereits: Wegener, Urgenda: Weltrettung durch Gerichtsbeschluss?, ZUR 2019, 3 ff., ; an English version has been published as: Wegener, Urgenda – World Rescue by Court Order? The “Climate Justice”-Movement Tests the Limits of Legal Protection, JEEPL 2019, 125 ff.))
Diese letztlich demokratietheoretisch angeleitete Skepsis wird allerdings keineswegs überall geteilt. Vielen auch nüchternen Betrachtern erscheint angesichts der wahrhaft apokalyptischen klimatischen Aussichten jedes juristische Mittel recht.(( Vgl. etwa die Beiträge von Winter, Armando Carvalho et alii versus Europäische Union: Rechtsdogmatische und staatstheoretische Probleme einer Klimaklage vor dem Europäischen Gericht, ZUR 2019, 259 ff.; Graser, Vermeintliche Fesseln der Demokratie: Warum die Klimaklagen ein vielversprechender Weg sind, ZUR 2019, 271 ff.; Cremer, Verfassungskräftiger Klimaschutz nach Maßgabe völkerrechtlich verbindlicher Verpflichtungen und Ziele, ZUR 2019, 278 ff.; Groß, Verfassungsrechtliche Klimaschutzverpflichtungen, EurUP 2019, 353 ff.)) Ist nicht gerade die Justiz mit ihrer Unabhängigkeit von periodisch wiederkehrender Legitimation durch Wahlen geeignet, Vorgaben zu einer entschlossenen Klimaschutzpolitik zu entwickeln und durchzusetzen? Mit der Urgenda III-Entscheidung des Hoge Raad werden die uns unmittelbar benachbarten Niederlande zu einem Laboratorium für die Untersuchung dieser These. Schon die allernächste Zukunft wird zeigen, wie wirkmächtig richterliche Anordnungen zum Klimaschutz sein können. Bis Ende 2020 ist es nicht mehr weit und die niederländische Regierung, die durch eine im Umweltschutz auch sonst durchaus ambitionierte Justiz ohnehin schon unter großem Druck agiert, ist um die ihr jetzt aufgetragenen Aufgaben nicht zu beneiden. Sollte sie sich nicht mit bloßen Neuberechnungen ihrer Reduktionsleistungen behelfen, wird man darauf achten müssen, ob und welche gesellschaftlichen Gegenbewegungen dies erzeugt. Ein ambitioniertes Klimaschutzurteil ist noch keine Garantie für gesellschaftliche Folgebereitschaft. Es erscheint jedenfalls nicht ungefährlich, statt auf die Mühen demokratischer Überzeugungsarbeit und konkreter administrativer Planung zu sehr auf das vergleichsweise einfache judikative Urteilen zu setzen.
Zu Weihnachten hören wir also die Worte des Hohen Rates: „Climate Justice“! Alles jauchzet. Oh du fröhliche? Mir fehlt (leider) der Glaube.