05 May 2020

VB vom Blatt: Das BVerfG und die Büchse der ultra-vires-Pandora

Das Urteil in Sachen Anleihenkaufprogramm der EZB

1. Das Urteil des BVerfG zum „Anleihenkaufprogramm der EZB“ wurde nicht nur in Deutschland mit besonderer Spannung erwartet: Würde das Gericht erstmals den Bruch mit der EZB im Besonderen und dem Unionsrecht im Allgemeinen wagen? Und welche Folgen würde das für die Eurozone haben? Drohte vielleicht gar deren Zusammenbruch mitten in der Corona-Krise? Die Geduld der Wartenden wurde allerdings auf eine harte Probe gestellt. Ursprünglich hätte das Urteil bereits am 24. März und damit nur wenige Tage nach der Ankündigung des coronabedingten Krisen-Programms der EZB (PEPP) ergehen sollen, wurde dann aber auf den heutigen Tag verschoben. Grund war laut BVerfG ebenfalls die Coronakrise. Der enge zeitliche Zusammenhang zur erneuten Krisenintervention der EZB gab freilich zu Spekulationen Anlass, dass das Urteil möglicherweise zurückgestellt worden war, um das Vorgehen der EZB nicht so früh zu behindern. Zwar entschied das BVerfG noch nicht über das neue Programm. Ein allzu restriktives Urteil hätte dennoch für Unsicherheiten und Turbulenzen auf den Finanzmärkten sorgen und nicht zuletzt die Risikoaufschläge für angeschlagene Staaten nach oben schnellen lassen können. 

2. Im Nachhinein wird man diese Befürchtungen als durchaus berechtigt ansehen müssen. Wie Andreas Voßkuhle bei (seiner vermutlich letzten) Urteilsverkündung ausdrücklich betonte, hat das BVerfG nun erstmals festgehalten, dass Handlungen der Europäischen Institutionen von der Kompetenzordnung nicht gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können. Auch wenn er zugleich ausführte, dass damit keine unmittelbaren Handlungsoptionen der EZB beeinträchtigt seien, wird dieses Urteil die Situation nicht nur innerhalb der Eurozone erheblich verkomplizieren. Nicht zuletzt Staaten wie Polen und Ungarn werden dieses historische Urteil sehr genau zur Kenntnis nehmen. Aber der Reihe nach.

3. Zur Erinnerung: Formal steht dieses Urteil am Ende des historisch zweiten Vorabentscheidungsverfahrens des BVerfG. Auch das erste Verfahren betraf mit dem OMT-Programm bekanntlich ein Anleihenkaufprogramm der EZB, das freilich in der Praxis nie umgesetzt wurde. Die EZB zielte darin vor dem Hintergrund der Finanz- und Eurokrise (erfolgreich) darauf ab, den Transmissionsmechanismus ihrer Geldpolitik zu sichern. Das BVerfG zweifelte allerdings an der geldpolitischen Qualität dieses Programms und nahm zudem einen potenziellen Verstoß gegen Art. 123 AEUV an, dem Verbot monetärer Staatsfinanzierung. Der EuGH folgte dem nicht, sah vielmehr sowohl das Mandat als auch Art. 123 AEUV als gewahrt an. In seiner abschließenden Entscheidung akzeptierte das BVerfG die Auslegung des EuGH und verwarf dementsprechend die Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren.

4. In dem heute abgeschlossenen zweiten Vorlageverfahren erneuerte das BVerfG jedoch seine Bedenken, die sich diesmal indes auf ein anderes und nicht mehr per se krisenmotiviertes Programm der EZB bezogen: Das Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), wobei schon aufgrund seines Volumens vor allem eines der vier Unterprogramme, das Public Sector Purchase Programme (PSPP), im besonderen Fokus stand. Unter diesem Programm erwarb die EZB Anleihen von im Euroraum ansässigen Zentralbanken mit dem Ziel, die Inflationsrate im Euroraum an das von ihr formulierte Inflationsziel von „unter, aber nahe 2%“ anzunähern. Die Motivation unterschied sich insofern deutlich von derjenigen des OMT-Programms – es war eindeutig geldpolitisch motiviert. 

5. Das BVerfG hielt in seinem Vorlagebeschluss demgegenüber fest, dass es davon ausging, dass die vom EuGH aufgestellten Kriterien auch für andere Ankaufprogramme gelten würden und bejahte unter dieser Voraussetzung einen Verstoß sowohl gegen Art. 123 AEUV als auch gegen das allgemeine Mandat der EZB (Art. 119, 127 AEUV). Im Hinblick auf Art. 123 AEUV monierte es u.a. die faktische Gewissheit der Märkte bzgl. des Erwerbs der Anleihen durch die EZB, das Fehlen einer ausdrücklich normierten Mindestfrist zwischen der Ausgabe der Anleihen auf dem Primär- und deren Erwerb auf dem Sekundärmarkt sowie das Halten der Anleihen bis zu deren Endfälligkeit. Im Hinblick auf das Mandat bestritt das BVerfG zwar nicht die geldpolitische Motivation und bejahte in diesem Zusammenhang sogar die Rechtmäßigkeit der EZB-eigenen Definition von Preisstabilität (Rn. 117). Allerdings störte es sich an den erheblichen faktischen wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Programms, die daran zweifeln ließen, dass das Programm dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspreche. 

6. Im Ergebnis bejahte das BVerfG insoweit auch einen offensichtlichen und strukturellen Verstoß gegen die Kompetenzverteilung – seit der Honeywell-Rechtsprechung markiert dies eine Voraussetzung für die Geltendmachung des ultra-vires-Vorbehalts. Allerdings stellte es dieses Verdikt unter den Vorbehalt einer anderen Auslegung durch den EuGH. Hier zeigte sich – wie schon in der vorangehenden Vorlage – eine gewisse Inkonsistenz: Wieso sollte ein Verstoß offensichtlich sein, wenn der EuGH nach Ansicht des BVerfG zum Ergebnis kommen könnte, dass das Vorgehen unionsrechtskonform war? In einem solchen Fall läge ja nicht einmal ein Verstoß, geschweige denn ein offensichtlicher vor. Müsste das dann nicht auch den vom BVerfG festgestellten Verstoß zu einem nicht-offensichtlichen, weil umstrittenen machen (wofür auch die zahlreichen abweichenden Stimmen in der Literatur sprachen)?

7. In seinem Urteil folgte der EuGH den Ausführungen des BVerfG denn auch erneut nicht. Im Hinblick auf die Einhaltung des Mandats stellte er fest, dass auch solche Wirkungen als mittelbar einzustufen seien, die bei Erlass der Maßnahmen zwar vorhersehbar, aber gleichwohl nicht intendiert seien. Daher falle das PSPP angesichts seiner primären Zielsetzung und trotz der erheblichen Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik in den Bereich der Währungspolitik und gehe zudem nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinaus, womit freilich auch der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für einschlägig hielt. Schließlich reichten auch die von der EZB eingeführten Garantien aus, um sicherzustellen, dass das PSPP keiner unerlaubten monetären Staatsfinanzierung gleichkomme. Auch ein Wegfall des Anreizes zu einer gesunden Haushaltspolitik sei daher nicht zu konstatieren.

8. Soweit also der Stand bis heute Morgen. Jetzt aber, so wird man wohl sagen müssen, ist alles anders. Zwangsläufig kann im Folgenden nicht auf jede Facette des Urteils eingegangen werden – die umfassende Analyse auch aller mittelbaren Folgen wird dauern. Aber diese Folgen, soviel steht fest, gehen weit über den engen Bereich der Währungsunion hinaus. Hier sollen lediglich, wie in diesem Format üblich, nur einige wenige erste Gedanken formuliert werden.

9. Um das Handeln der EZB für ultra vires erklären zu können, musste das BVerfG zunächst die entgegenstehende und auch für das BVerfG bindende Entscheidung des EuGH beiseite schieben. Oder anders ausgedrückt: Das Urteil des EuGH musste um seiner Bindungskraft verlustig zu gehen, ebenfalls als ultra vires anzusehen sein. Genau das hält das BVerfG denn auch für dessen Prüfung der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich fest, wonach diese „Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit offensichtlich“ verkenne und daher „wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar“ sei (Rn. 119). Das ist gegenüber einem anderen Höchstgericht offenkundig nicht weniger als eine direkte Kampfansage, die das berüchtigte „Kooperationsverhältnis“ doch arg strapaziert. Der Zweite Senat gibt sich denn zwangsläufig große Mühe, diese Aussage ausführlich zu begründen, indem er die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Unionsrechtsordnung im Allgemeinen und in der Rechtsprechung des EuGH umfassend darlegt. Diese eigenen Maßstäbe seien es letztlich, die der EuGH verkannt habe, als er bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit allein auf die Zielsetzung der EZB geschaut, die wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP aber gänzlich ausgeblendet habe – gerade weil er in anderen Bereichen, die vom BVerfG umfassend aufgelistet werden, solche Auswirkungen stets berücksichtigt habe. Warum, so heißt es in Rn. 153, hier anderes gelten solle, sei methodisch nicht nachvollziehbar.

10. Nun könnte der Grund tatsächlich aber gerade in den Besonderheiten der Geldpolitik liegen. Entsprechende Erwägungen stellt der Senat allerdings leider nicht an. Anders als in den aufgelisteten Bereichen befinden wir uns insoweit gerade nicht im Bereich des klassischen Eingriffsrechts, für den der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ursprünglich entwickelt wurde: Die ergriffenen (hoheitlichen) Maßnahmen dürfen vor dem Hintergrund des verfolgten Zwecks nicht mehr als unbedingt nötig in die subjektiven Rechte der Betroffenen eingreifen. Und schon hier zeigt sich das Problem: Im Rahmen der Geldpolitik fehlt es an einem solchen subjektiven Recht, in das eingegriffen wird. Welches sollte das sein? Bei einem Anleiheankaufprogramm etwa erwirbt die EZB Anleihen von privaten Marktteilnehmern. In deren Rechte wird also offenkundig nicht eingegriffen. Sie gehen die Geschäfte freiwillig ein. In wessen Rechte sollte aber dann eingegriffen worden sein? Allenfalls ließe sich argumentieren, dass die Wirtschaft als Ganzes beeinträchtigt wird und in der Tat ist es das auch, was der Senat im Einzelnen darlegt, indem er ein Potpourri an ökonomischen Auswirkungen auflistet, die sich aus dem Anleihenkaufprogramm ergeben hätten. Abgesehen davon, dass man die Kausalitäten hier mit guten Gründen bisweilen ökonomisch bezweifeln kann: Woran erkennt man nun, dass eine Maßnahme unverhältnismäßig wird, wenn man berücksichtigt, dass auch „normale“ geldpolitische Maßnahmen erhebliche ökonomische Auswirkungen dieser Art haben können? Als Beispiel mögen die drastischen Leitzinserhöhungen der amerikanischen Fed Ende der 70er Jahre genügen. Die wirtschaftspolitischen Auswirkungen waren hier mehr als erheblich und haben vermutlich die Präsidentschaftswahl entschieden. War das also unverhältnismäßig? Die Fed sah sich ja allein dadurch in der Lage, die Inflation wieder in den Griff zu bekommen. 

11. Tatsächlich zeigt dieses Beispiel, dass die Berücksichtigung der wirtschaftspolitischen Auswirkungen „wie in anderen Bereichen“ gerade bei der Geldpolitik mehr als schwierig, ja vielleicht sogar partiell systemfremd erscheint. Die Möglichkeit der Zentralbank solche harten und budgetwirksamen Entscheidungen gegen eine Regierung zu treffen, war ja gerade der Grund, sie in die Unabhängigkeit zu entlassen und ihr allein das Mandat der Preisstabilität zu übertragen. Die EZB soll dieses Ziel gewissermaßen ohne Rücksicht auf Verluste und den Blick nach links oder rechts verfolgen (abgesehen von einigen konkreten normativen Grenzen). Soll die EZB nun in Zukunft umfassende wirtschaftspolitische Erwägungen anstellen, wenn Inflation droht? Hier könnten sich die Gegner der EZB insofern ein Bein gestellt haben: Was sollten sie einer EZB entgegenhalten, die demnächst die Inflation ein wenig schleifen lässt, weil etwa Zinserhöhungen wirtschaftspolitisch allzu schlimme Auswirkungen hätten? Was das BVerfG hier durch die Hintertür einführt, ist – ähnlich wie dies bei der Fed der Fall ist – damit ein zweites Ziel der Geldpolitik, mit dem das primäre und ausdrücklich vorrangige Ziel der Preisstabilität unterlaufen werden könnte. Das Ganze könnte sich insofern gerade aus Sicht der deutschen Stabilitätsfreunde mittelfristig als Pyrrhussieg erweisen. Ohnehin, dass sei lediglich am Rande erwähnt: Wie hätte sich die Wirtschaft eigentlich ohne die Intervention der EZB entwickelt? Vielleicht wäre das ja alles noch viel schlimmer gewesen? Im Urteil des BVerfG liest man dazu nichts.

12. Bei der anschließenden eigenen Prüfung der Verhältnismäßigkeit – bisher hatte der Senat ja lediglich die methodische Unvertretbarkeit der Prüfung des EuGH dargelegt – kommt das BVerfG nach den vorherigen Ausführungen wenig überraschend zu dem Ergebnis, dass das PSPP als unverhältnismäßig angesehen werden müsse. Der Sache nach rügt es allerdings vornehmlich die nicht transparente Begründung der Verhältnismäßigkeit durch die EZB (Rn 176). Das Programm ist also, so könnte man formulieren, aktuell unverhältnismäßig, weil das BVerfG die fehlende Abwägung der EZB nicht auf ihre Rechtmäßigkeit zu kontrollieren vermag. Die EZB hat nun drei Monate Zeit, um eine tragfähige Begründung nachzuliefern. Sollte das nicht geschehen, ist insbesondere die Bundesbank gehindert, am weiteren Vollzug des PSPP mitzuwirken (Rn. 235). 

13. Im Hinblick auf den ebenfalls in Rede stehenden Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung meldet der Senat zwar weiterhin Bedenken an, akzeptiert letztlich aber die Auslegung des EuGH bzw. sieht diese nicht als methodisch unvertretbar an.

14. Im Ergebnis bleibt damit allein der Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der aber durch die EZB behoben werden kann, bevor es dazu kommt, dass die Bundesbank sich nicht mehr beteiligen darf. Das wird, so steht zu vermuten, auch schnell geschehen. Für die Währungsunion selbst dürften die unmittelbaren Folgen daher paradoxerweise weniger gravierend sein, als befürchtet. Positiv ist sicherlich, dass die EZB der Begründung ihrer Entscheidungen zukünftig mehr Sorgfalt widmen wird. Hier bestanden bisher durchaus Defizite, die eine gerichtliche Kontrolle tatsächlich erschwert haben. Das allerdings hätte das BVerfG wohl auch einfordern können, ohne den historisch ersten und folgenreichen ultra-vires Rechtsakt feststellen zu müssen. Für das neue Krisenprogramm PEPP dürfte die EZB im Hinblick auf die Begründung wohl auch noch einmal nachbessern. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass es hier zu erneuten Verfassungsbeschwerden kommen wird – immerhin ist hier mit der Sicherung des geldpolitischen Transmissionsprozesses ein Bereich betroffen, der im Gegensatz zum PSPP eher zur Geldpolitik im weiteren Sinne zu zählen ist (und damit normativ etwas angreifbarer scheint). Die Entwicklung einer – bisher in der Tat fehlenden – gerichtlich überprüfbaren Handlungsformenlehre steht insofern weiter erst am Anfang (wurde durch den Rekurs auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allerdings sowohl durch den EuGH als vor allem das BVerfG nun sogleich auf ein eher zweifelhaftes Fundament gestellt).

15. Gravierender dürften (leider) die Folgen sein, die das Urteil im Hinblick auf die europäische Rechtsgemeinschaft insgesamt haben könnte. Dass das vielleicht einflussreichste Verfassungsgericht der Welt (neben dem Supreme Court) dem EuGH eine methodisch unvertretbare Vorgehensweise attestiert hat, wird man jedenfalls in Polen und Ungarn mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Dort wird es jetzt noch einmal leichter fallen, sich missliebigen Urteilen aus Luxemburg mit dieser nun nobilitierten Argumentation zu entziehen. Das ist das eigentlich Tragische des Urteils: Im Bereich der Geldpolitik wird es vermutlich schnell verpuffen, für andere Bereiche und andere Mitgliedstaaten hat es aber die Büchse der ultra-vires-Pandora (ohne Not) geöffnet. Sie wieder zu schließen, dürfte praktisch unmöglich sein… 


7 Comments

  1. wacaffe Tue 5 May 2020 at 12:47 - Reply

    Die Konsequenz des Urteils ist doch letztlich, dass sich die EZB im Rahmen einer erneuten, vertieften, Verhältnismäßgikeitsprüfung selbst attestieren soll verhältnismäßig gehandelt zu haben.

    Das Ergebnis dürfte bereits a priori feststehen.

  2. Heiko Sauer Tue 5 May 2020 at 15:13 - Reply

    Ganz vielen Dank! Ich möchte gern noch zwei Punkte zur Demokratie ergänzen, um die es dem Senat ja im Kern geht und ausweislich seiner eigenen Konstruktion auch gehen muss:

    1. Art. 38 I 1 GG als “Grundrecht auf Demokratie” eröffnet die Demokratierüge ohne materielle Grundrechtsbetroffenheit, während Art. 2 I GG als “Grundrecht auf Rechtmäßigkeit” voraussetzt, dass jemand in ihrer oder seiner (eigenen) Handlungsfreiheit betroffen ist. Nach dieser Konstruktion reicht es nicht, wenn EuGH und EZB “nur” das Unionsrecht verletzt haben – sie müssen ihre Kompetenzen überschritten haben und dadurch das Grundrecht der Einzelnen verletzt haben, nicht von einer öffentlichen Gewalt betroffen zu sein, an deren Legitimation diese nicht teilhatten (nicht meine Prämissen). Entscheidend beanstandet der Zweite Senat jetzt aber, dass der EZB-Rat die wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP nicht in die Betrachtung einbezogen hat. Dies soll nach dem Senat aber Voraussetzung dafür sein, dass die (kompetenzrechtliche) Verhältnismäßigkeit gewahrt ist, die verhindern soll, dass das PSPP von kompetenzgemäßer Währungspolitik zu kompetenzwidriger Wirtschaftspolitik wird. Im Grunde hat der EZB-Rat dann aber eine Begründungspflicht verletzt, was sich auch daran zeigt, dass er die erforderlichen Erwägungen jetzt nachholen darf und die Bundesbank auf dieser Grundlage bei PSPP dann auch im Boot bleiben dürfte. Wegen der nicht ordnungsgemäßen Berücksichtigung der wirtschaftspolitischen Auswirkungen kann eine währungspolitische Maßnahme aber nicht wirtschaftspolitisch (und damit ultra vires) werden – sie kann nur als währungspolitische Maßnahme prozedural rechtswidrig sein. Ultra vires ist sie nur dann, wenn sie wegen ihrer wirtschaftspolitischen Auswirkungen das währungspolitische Mandat verlässt (ob man das tragfähig annehmen kann, sei dahingestellt, jedenfalls sagt der Senat das nicht, und wenn er davon ausgehen würde, könnte eine nachträgliche Erwägung durch den EZB-Rat auch nicht heilen). Dann ist aber das, was der Senat dem EZB-Rat vorwirft, kein ultra vires-Akt, sondern ein (prozeduraler) Rechtsverstoß.

    Die fehlende Beanstandung dieses Rechtsverstoßes durch den EuGH kann man dann ebenfalls nicht als ultra vires ansehen, sondern wiederum allenfalls als materiell rechtswidrig. Ich habe den Eindruck, dass das Grundrecht auf Demokratie hier endgültig nur noch zur Kontrolleröffnung gebraucht wird, während der Senat dann eine materielle unionsrechtliche Rechtmäßigkeitskontrolle durchführt, weil der EuGH das aus seiner Sicht nicht ordnungsgemäß gemacht hat. Der Konnex zur Demokratie erschöpft sich dann in den Hinweis, dass die EZB wegen ihrer Unabhängigkeit Legitimationsdefizite aufweist (Stichwort: “Einflussknick”) und daher besonderer rechtlicher Kontrolle bedarf. Im Grunde müssten also die Verfassungsbeschwerden auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt sein, nur wären sie dann mangels Grundrechtsbetroffenheit a limine unzulässig gewesen.

    2. Natürlich war eine “gesichtswahrende” Lösung ohne Feststellung eines ultra vires-Akts schwierig geworden. Und natürlich hatte man nicht den Eindruck, dass der EuGH in Gauweiler und Weiss die unionsrechtlichen Bedenken des BVerfG so Ernst genommen hat, wie dies der Fall hätte sein können und sollen. Insofern wohnt dem Ergebnis in der von Alexander Thiele beschriebenen Chronologie durchaus eine gewisse Zwangsläufigkeit oder jedenfalls Absehbarkeit inne. An diesem Hochschaukeln des Konflikts hatte der Zweite Senat aber seinen Anteil, indem er den Euro-Gegner*innen mit der sukzessiven Entgrenzung des “Grundrechts auf Demokratie” immer neue Nahrung gegeben hat. Und wer wollte auch etwas dagegen haben, dass ein Verfassungsgericht die Demokratie verteidigt? Zur Wahrheit gehört aber dazu, dass damit – spätestens mit der weitreichenden Entscheidung zu den Griechenland-Hilfen und zum vorläufigen Rettungsschirm vom September 2011 – ein Pfad eröffnet wurde, an dessen Ende sich irgendwann fast zwangsläufig ein Abgrund auftun musste. Es gibt mit dem heutigen Tag 18 (!) Senatsentscheidungen zur Europäischen Währungsunion, die mit immer kürzeren Abständen und immer länger werdenden Zitationsketten paradigmatisch zeigen, was Pfadabhängigkeit bedeutet (allein 12 davon ergingen in den letzten achteinhalb Jahren). Der Erste Senat hatte in “Recht auf Vergessen” jüngst noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch das BVerfG “Ingetrationsverantwortung” trägt. Dass der Zweite Senat nun die Auswirkungen seiner Entscheidung (sic!) sub specie Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in die Betrachtung einbezogen hätte und gegen die “Rechtlichkeit” der Währungsunion in Ansatz gebracht hätte (wie auch immer das kommensurabel sein sollte…), lässt sich jedenfalls nicht erkennen, zumal nicht in dem auch im Ton bemerkenswert scharfen Umgang mit den Luxemburger Kolleg*innen.

    Dieses Ergebnis hätte nach der von Joseph Weiler schon vor 30 Jahren ins Spiel gebrachten “mutually assured destruction”-Logik unbedingt vermieden werden müssen; dass das nicht geschehen ist, liegt weniger an der jetzigen Entscheidung als in dem allzu breiten Ausbau des zur ihr führenden Pfades, der mit dem “Grundrecht auf Demokratie” von jeder und jedem allzu leicht beschritten werden kann.

    • Alexander Thiele Tue 5 May 2020 at 19:45 - Reply

      Danke für die analytisch überzeugende Ergänzung, Heiko!

  3. H1 Tue 5 May 2020 at 18:52 - Reply

    Eine sehr überzeugende erste Einschätzung. Über eine Passage bin ich allerdings gestolpert:

    “allerdings hätte das BVerfG [eine ausführlichere Begründung der EZB-Entscheidungen] wohl auch einfordern können, ohne den historisch ersten und folgenreichen ultra-vires Rechtsakt feststellen zu müssen.” (Abs. 14)

    Könnten Sie noch ausführen, wie das möglich gewesen wäre?

  4. mikefromffm Wed 6 May 2020 at 09:01 - Reply

    “Zur Wahrheit gehört aber dazu, dass damit (…) ein Pfad eröffnet wurde, an dessen Ende sich irgendwann fast zwangsläufig ein Abgrund auftun musste”? Das ist eine Vermutung die auf was beruht?

  5. Henri Schmit Fri 8 May 2020 at 09:06 - Reply

    Ich bin weitgehend mit Prof. Heiko Sauer einverstanden. Ich betrachte die BVerfG-Jurisprudenz und die darüber hinausgehende Diskussion im Hinblick auf das Zusammenspiel (oder Gegeneinander-Spiel) von EZB-Politik (OMT, PSPP, PEPP), Eurogruppe-Instrumenten (EMS) und EU-Budget und Instrumenten (etwa E-Recovery Fund), EU27-und Euro19-Organen und Akten, inklusiv EuGH-Jurisprudenz, und nationalen Akteuren (Regierung, Parlament, Bürger-Wähler-Steuerzahler, öffentliche Meinung-Medien, Richter). Der springende Punkt ist die Demokratietheorie. Das Start-Axiom ist eine Definition der EU als besondere inter-staatliche Organisation deren demokratische Legitimation letzten Endes auf den nationalen Demokratien beruht. Die demokratische Logik kommt vollends zum Ausdruck im Finanzbereich (Staatsschuld, Steuern, Ausgaben für Sozialdienste und Sicherheit). Kompetenzfragen im Euro-Bereich sind besonders delikat: die Währung ist gemeinsam, die Finanzpolitik wird aber trotz Koordination letzten Endes national entschieden. Meine vereinfachte Analyse entspricht in etwa Dieter Grimms Europa-Doktrin (DGD). Das Urteil des BVerfG zum Anleihenkaufprogramm der EZB ist m.M.n. eine holprige Anwendung der DGD. Die Begründung überzeugt mich nicht: „(kompetenzrechtliche) Verhältnismäßigkeit (soll) verhindern, dass das PSPP von kompetenzgemäßer Währungspolitik zu kompetenzwidriger Wirtschaftspolitik wird. Im Grunde hat der EZB-Rat (nur) eine Begründungspflicht verletzt, was sich auch daran zeigt, dass er die erforderlichen Erwägungen jetzt nachholen darf und die Bundesbank auf dieser Grundlage bei PSPP dann auch im Boot bleiben dürfte.“ Die unabhängige EZB setzt die kompetenzrechtliche Verhältnismäßigkeit ihrer Politik selbst fest. Die Bundes Bank wurde nie genötigt ihre Politik vor dem BVerfG rechtlich zu rechtfertigen (siehe A. Thiele-Interview vom 6. Mai). Das eigentliche Problem ist die mangelnde wirtschaftspolitische Koordination in der Währungsunion. Dieses Manko erschwert und erweitert die Rolle der EZB. Letzten Endes sind es „die Herren der Verträge“, die die Mängel beheben müssten (DGD). Die divergierende Wirtschafts- und Finanzpolitik einzelner Staaten zwingt die EZB zu einer immer aktiveren Währungspolitik, welche anfangs (PSPP 2015) neutral war (capital key), dann immer asymmetrischer wurde (zugunsten high yield public debt, PEPP 2020, noch nicht verfassungsmäßig getestet). Aktive Währungspolitik zugunsten der Staatsschuld einiger Eurozone-Mitgliedstaaten ersetzt die mangelnde wirtschaftspolitische Koordination in der Eurogruppe. Sie bedingt eine unbegrenzte Haftung aller EU Bürger-Wähler-Steuerzahler für wirtschaftspolitische und steuerpolitische Maßnahmen, welche die Regierungen einzelner Länder im exklusiven Interesse ihrer Bürger-Wähler-Steuerzahler treffen. Das Euro-Risiko hat einen Namen: Italien, 2011, 2018 und vielleicht ab 2022 wieder eine Euro-skeptische, national-reaktionäre, anti-Euro oder gar anti-Europa Regierung in Rom. Das wäre in den Auswirkungen viel schlimmer als das anti-liberale Gebaren in Polen und Ungarn. Um die Regeln der Demokratischen Verfassung (nicht nur des GG, sondern der Verfassung aller EU oder Euro-Mitgliedsstaaten) zu wahren, muss man (nach DGD) die demokratischen Prozeduren wahren: die deutschen Verfassungsorgane (Regierung, Bundestag) müssten eine eventuelle Erweiterung des EZB-Mandats und der Verantwortung der deutschen Steuerzahler ausdrücklich gutheißen (was sie natürlich nicht tun werden, da die Wähler das nie verzeihen würden), und die politische Verantwortung übernehmen. Die Entscheidung des BVerfG zum Anleihenkaufprogramm der EZB überzeugt mich nicht. Sollte der deutsche Verfassungsrichter sich nicht auf Verfassungsmäßigkeit Akte deutscher Verfassungsorgane beschränken? Warum sollte die EBZ (anstatt die BB) dem BVerfG überhaupt antworten? Darüber hinaus überzeugt die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die EZB-Politik nicht, da die EZB frei sein muss (und per Statut frei ist) zu entscheiden, welche währungspolitische Maßnahmen (welche alle z.T. unvorhersehbare wirtschaftspolitische Auswirkungen haben) erforderlich sind. Drittens, sind die Auflagen leicht erfüllbar. Direkte konkrete Auswirkungen (auf des PSPP) wird es kaum geben. Die Entscheidung scheint vor allem eine nützliche Mahnung an die Bundesregierung und an den Bundestag zu sein, ausdrücklich Position zu einer schleichenden Kompetenzerweiterung der Währungspolitik (PSPP 2015, PEPP 2020) zu nehmen. Die deutschen Staatsorgane könnten versuchen die „divergierenden“ (…) Partner zu überzeugen oder sie im Rahmen der Währungsunion zu zwingen Steuer- und Wirtschaftsreformen einzuleiten, welche das Risiko einer Staatspleite beseitigen oder minimisieren. Wenn das dem divergierenden Partner nicht passt, könnte er rein theoretisch vorziehen die Währungsunion auf eigene Kosten und eigenes Risiko zu verlassen. Die Chancen dieses Szenarios sind nach dem griechischen Präzedenzfall gering. Alternativ könnten die deutschen Staatsorgane versuchen ihren Wählern zu erklären, weshalb sie das erweiterte Drittlandrisiko im eigenen Interesse mittragen sollen. Ich halte das für unwahrscheinlich und hoffe, dass Klarheit in der Verantwortung der „nationalen“ Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitglieder der Währungsunion geschaffen wird.

  6. Kurt Behemoth Tue 12 May 2020 at 09:27 - Reply

    Mir scheint, dass das eigentlich Problem, um dessen Lösung es dem BVerfG geht, in keiner bisherigen Urteilsbesprechung hinreichend gewürdigt wurde. Viel der geäußerten Kritik geht insofern an den Urteilsgründen vorbei.
    Das BVerfG bestreitet weder die Unabhängigkeit der EZB noch ihren weiten Beurteilungsspielraum bei ihrer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nach Art. 5 EUV, das als Korrektiv im Hinblick auf die Unschärfen ihrer Kompetenzgrenzen zu beachten ist (namentlich der Abgrenzung von Währungs- und Wirtschaftspolitik und der Unterstützungsfunktion der 1. für die 2.). Das BVerfG berücksichtigt aber die erhebliche Machtfülle der EZB; sie dürfte die mit Abstand mächtigste europäische Institution sein. Mit ihren währungspolitischen Instrumenten kann sie das wirtschaftliche Wohl und Wehe weiter Teile der EU und mittelbar auch die politischen, demokratisch organisierten Konstellationen in den Mitgliedstaaten beeinflussen; selbst formal nicht diskriminierende Maßnahmen können unter besonderen Umständen einzelne Mitgliedstaaten überproportional treffen. Einflussnahmen der EZB auch auf andere Politikbereiche als die Währungspolitik und auf die Regierungen einzelner Mitgliedstaaten – Trichets berüchtigte Briefe seien genannt – werden in ihrer Problematik etwa hier beschrieben: https://makroskop.eu/2018/07/ist-das-euro-regime-mit-der-demokratie-kompatibel/, sind aber auch in Adam Tooz’ ‘Crashed’ nachzulesen. Diese Schilderungen machen es jedenfalls plausibel, dass die EZB die internen Politikbereiche der Mitgliedstaaten bis hin zu Wahlen, Regierungsbildungen und das Abhalten von Referenden – also demokratische, parlamentarische Prozesse – aushebeln kann.
    An diesem Punkt setzt das BVerfG seine Kritik an der Rechtsprechung des EuGH m.E. an: Der Prüfungsmaßstab, anhand dessen der EuGH die EZB kontrolliert, sei viel zu weit, um selbst einen rechtsmissbräuchlichen Einsatz ihrer währungspolitischen Instrumente unterbinden zu können (Rn. 137 d. Urt.).
    Das ist eine strukturelle Kritik, die über das streitgegenständliche Ankaufprogramm hinausweist, weil der EuGH aus Sicht des BVerfG in systemisch bedeutsamer Weise einen untauglichen Prüfungsmaßstab anwendet, der generell der EZB einen Freibrief ausstellt (ihr Kompetenz-Kompetenz überträgt, Rn. 136).
    Da allein die Judikative die Wahrung der Kompetenzen der EZB kontrollieren kann, dabei aber in der Regel erst einschreiten wird, wenn die Maßnahmen bereits beschlossen und in Vollzug gesetzt wurden, kommt es dafür entscheidend auf die Formulierung eines allgemeinen und stringenten Prüfungsmaßstabs an.
    Abstrahiert von den speziellen Interessen der Beschwerdeführer in dem zugrunde liegenden Verfahren könnte es durchaus sein, dass das Urteil des BVerfG in seinem Kernanliegen den demokratischen Belangen der griechischen Wähler näher steht als den Sorgen der „schwäbischen Hausfrau“.

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