04 July 2016

Gute und schlechte Gründe: zur Annullierung der Stichwahl in Österreich

Der österreichische VfGH hat mit einem am 1. Juli 2016 mündlich verkündeten Urteil die Stichwahl zum Amt des Bundespräsidenten annulliert. Er hat dies aus zwei Gründen getan.

I.

Ein guter Grund war die Veröffentlichung von Resultaten einzelner Wahlbezirke. Die Wahllokale schließen auch bei Bundeswahlen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 12 und 17 Uhr. Die Ergebnisse der einzelnen Wahlkreise werden aber mit einer Sperrfrist an Journalisten und Wahlforschungsinstitute weitergegeben, um jene Hochrechungen vorzubereiten, die es ermöglichen, ab 17 Uhr einem vor den Fernsehapparaten gespannt wartenden Publikum das wahrscheinliche Endergebnis verkünden zu können – in Österreich ein mediales Ereignis, das die jährliche Übertragung des Hahnenkammrennens noch übertrifft. Das Innenministerium hat den Kreis der Empfänger solcher Daten allerdings immer weiter ausgedehnt und dabei die Entwicklung der modernen Medien völlig verschlafen. Diesmal wurde im Internet ab 13 Uhr in großem Umfang zunächst verbreitet, dass Norbert Hofer uneinholbar führe; ab etwa 15.30 Uhr setzte dann aber eine Aufholjagd Van der Bellens ein, die seinen Wahlsieg dem Bereich des Möglichen immer näher rückte. In der Wahlanfechtung wurde mit guten Gründen dargelegt, dass dies das Verhalten einzelner Wähler und im Hinblick auf den äußerst knappen Abstand – es ging um weniger als 1 Prozent der Stimmen – auch das Wahlergebnis beeinflussen konnte. Der VfGH sah darin eine Verletzung der Grundsätze der Freiheit und der Reinheit einer Wahl.

II.

Im Mittelpunkt eines sehr aufwändigen, in der fast 100jährigen Geschichte des VfGH beispiellosen Ermittlungsverfahrens stand jedoch die Verletzung jener gesetzlichen Vorschriften, die die Zählung der Briefwahlstimmen regeln. In einzelnen Wahlbezirken waren die Kuverts vorzeitig und von Beamten der Bezirksverwaltungsbehörden teilweise in Abwesenheit der von den politischen Parteien nominierten Wahlbeisitzern geöffnet und vorsortiert sowie mit der Zählung selbst schon vor dem gesetzlich normierten Zeitpunkt (9 Uhr am Tag nach der Wahl – so genau sind österreichische Gesetze) begonnen worden – dies nicht zuletzt unter dem Druck jener Öffentlichkeit, die schon am Abend des Wahltags Gewissheit über den Wahlausgang erwartete. Dass dadurch gesetzliche Vorschriften verletzt wurden, stand von vornherein an außer Zweifel. Die Frage war jedoch, ob diese Gesetzesverstöße Einfluss auf das Wahlergebnis haben konnten. Die eingehende Befragung der Mitglieder der Wahlbehörden ergab keinerlei Hinweise auf Wahlmanipulationen. Selbst die anfechtende Partei hatte keine Manipulationen behauptet. Es konnte daher mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass durch jene Verletzungen formaler Regeln das Wahlergebnis in keiner relevanten Weise verändert wurde.

Nach einer ständigen Rechtsprechung, die bis in die 1920er Jahre zurückgeht, hebt jedoch der VfGH eine Wahl schon dann auf, wenn die Verletzung von Vorschriften das Wahlergebnis auch nur rein theoretisch beeinflussen konnte. Selbst die gänzliche Unwahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Manipulation reicht nicht hin, eine Anfechtung abzuweisen. Im Verfassungstext (Art. 141 B-VG) ist freilich nur davon die Rede, dass die Wahl aufzuheben ist, wenn eine festgestellte Rechtsverletzung „auf das Verfahrensergebnis von Einfluß war“.

Das aufwändige Ermittlungsverfahren, das sich der VfGH bislang in ähnlichen Fällen ersparen konnte, weckte die Erwartung, dass er diese „ständige Rechtsprechung“ im Einklang mit dem (diesbezüglich sogar jüngeren!) Verfassungstext korrigieren würde. Derartiges hat der Gerichtshof ja schon öfters getan – auch gegen eine in den Akten des VfGH in der Kurrentschrift Hans Kelsens dokumentierte Rechtsmeinung (die einen Richter nach Zeitungsberichten besonders beeindruckte.)

Für eine solche Änderung der Rechtsprechung hätte es gute Gründe gegeben. Sie stimuliert mutwillige Wahlanfechtungen. (Auch die gegenständliche Anfechtung hatte explizit davon Abstand genommen, tatsächliche Manipulationen zu behaupten.) Wahlwiederholungen, die nach Ansicht einer Mehrheit der Wähler eigentlich überflüssig sind, verstärken außerdem die ohnehin schon sehr verbreitete Wahlmüdigkeit. Die Logik, in eingehenden Befragungen keinerlei Hinweise auf Veränderungen des Wahlergebnisses durch die festgestellten Gesetzesverstöße gefunden zu haben, und die Wahl dennoch aufzuheben, ist jedenfalls nicht für jedermann nachvollziehbar.

III.

Vor allem aber rückt eine so begründete Wahlaufhebung Österreich in internationaler Sicht in kein gutes Licht. Es ist weltfremd zu meinen, dass damit dem Ausland das Bild einer besonders strikten und vorbildlichen Rechtsstaatlichkeit vermittelt würde. Es war vielmehr zu erwarten und ist auch so eingetreten, dass internationale Medien Österreich in die Nähe postkolonialer oder potsowjetischer Halbdiktaturen rückten. Und selbst im Inland scheint dieses Urteil teilweise in diesem Sinn verstanden zu werden, so wenn der Innenminister ankündigt, zur Wahlwiederholung internationale Beobachter der OSZE einzuladen. Solche waren selbstverständlich auch schon diesmal routinemäßig anwesend, hatten aber nichts beanstandet. Denn verletzt wurde ja keine einzige Regelung internationalen Rechts, sondern ausschließlich Produkte österreichischer Bürokratie, die in ihrer Detailliertheit und mangelnden Praktikabilität geradezu einladen, es nicht immer allzu genau zu nehmen.

Weil der VfGH die Stichwahl ohnehin aus einem anderen Grund aufheben konnte (siehe zuvor), hätte er sich auch den auf der Hand liegenden Vorwurf erspart, eine Änderung seiner „ständigen Rechtsprechung“ aus parteipolitischen Motiven vorzunehmen. Eine derartige Gelegenheit wird sich wahrscheinlich so bald nicht wieder ergeben. Vielmehr erscheint die ständige Judikatur bis auf weiteres mit all ihren negativen Konsequenzen einzementiert.

IV.

In Misskredit ist dadurch auch das System der ehrenamtlichen, von den politischen Parteien nominierten Wahlbeisitzer geraten – zu Unrecht, denn dieses System ist die denkbar beste Garantie gegen Wahlmanipulationen (was auch der VfGH ausdrücklich würdigt). Diese Wahlbeisitzer haben fast ausnahmslos die Korrektheit der Auszählung durch ihre Unterschrift bestätigt (auch jene, die von der anfechtenden Partei nominiert worden waren), wohl aus auf Lebenserfahrung basierender Gewissheit, aber entgegen den formalen Rechtsvorschriften. Sie müssen nun mit gerichtlicher Verfolgung rechnen. Es wird daher in Zukunft vor allem für kleinere Parteien schwieriger werden, genügend Freiwillige nominieren zu können, weshalb auch schon an eine Verstaatlichung dieses Systems gedacht wird: Es soll Bürgerpflicht werden, an Wahlsonntagen und (und darauf folgenden Zählmontagen) als Wahlbeisitzer zu fungieren. Wie damit jene parteipolitische Ausgewogenheit hergestellt werden kann, die als solche die Korrektheit der Wahl am ehesten garantiert, bleibt rätselhaft. Es ist jedenfalls bezeichnend, dass man in Österreich einem sich selbst regulierenden System der Zivilgesellschaft mit bzw. wegen der ihm immanenten formalen Mängel weniger vertraut als bürokratischen Regelungen.

V.

Das Urteil könnte große politische Konsequenzen haben. Norbert Hofer hat gute Chancen, die Wahlwiederholung zu gewinnen. Sein „Sieg“ vor dem VfGH lässt sich als Herstellung der Gerechtigkeit vermarkten. Ein Bundespräsident Hofer erhöht die Chancen Heinz-Christian Straches, nächster Bundeskanzler zu werden – ein Rechtsruck, der Österreich in einen Klub mit Ungarn und Polen einreihen würde, mit dem doch recht bemerkenswerten Unterschied, dass dies in diesen Ländern gegen den Widerstand des jeweiligen Verfassungsgerichts erfolgte, in Österreich dagegen – unfreiwillig – von einem Urteil des VfGH angestoßen würde.

Noch ist freilich nichts entschieden. Der Brexit und die Art, wie selbst EU-kritische österreichische Medien über seine Folgen im United Kingdom berichten, könnten dem EU-Freund van der Bellen noch einigen Auftrieb geben.


2 Comments

  1. Martin Mair Wed 6 Jul 2016 at 13:06 - Reply

    Die plumpe und einseitige Berichterstattung über den Brexit würde wohl eher Norbert Hofer Auftrieb geben. Wie realitätsfremd kann mann denn noch sein?

    Andererseits sind viele über die Millionen die nun verschwendet werden und über die Belästigung durch die Wahlwerbung und Zumüllung der Medien mit diesem Thema angefressen, weshalb wahrscheinlicher ist, dass das mutwillige Verhalten der FPÖ und deren Verbissenheit eher auf diese selbst zurück fällt.

    Das traurige ist, dass rot-schwarz-grün nix dazu lernen und weiter wursteln wie bisher … :-(

  2. Martin Mair Wed 6 Jul 2016 at 13:10 - Reply

    Zum Einfluss der Veröffentlichung von Wahlprognosen: Die Mobiliserungskraft der Grünen wird wohl nicht so groß gewesen sein, dass in letzter Minute noch 1000e WählerInnen mobilisiert wurden, zumal von Anfang an klar war, dess es eine knappe Wahl sein wird und daher schon vorher eine krampfhafte Dauermobilisierung das Volk belästigte.

    Da die Verfassung klar einen konkreten Einfluß als Aufhebungsgrund verlangt, kommt dem Verfassungsgerichtshof keine weitere Rechtssetzungskraft zu! Sind die Richter gar funktionale Analphabeten? …

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